# taz.de -- Zukunft von Belarus: Ein Jahr Willkür und Repression | |
> Lukaschenko, Europas dienstältester Diktator, versucht sich und Belarus | |
> aus dem Krieg in der Ukraine herauszuhalten. Geht die Strategie auf? | |
Bild: Kadetten marschieren auf dem Siegesplatz im Zentrum von Minsk, Belarus, a… | |
Das Urteil gegen Wital Melnik wurde am 22. Dezember verkündet: 16 Jahre | |
Haftstrafe. Der 40-jährige Mann soll den belarussischen Diktator Alexander | |
Lukaschenko in sozialen Netzwerken beleidigt, sich illegal Schusswaffen | |
beschafft und zusammen mit drei Komplizen im März [1][eine Sabotage an | |
Schienen geplant haben], um russische Militärtransporte in die Ukraine über | |
Belarus zu verhindern. Nachdem er im April festgenommen worden war, | |
stilisierte die Staatspropaganda den „Schienenpartisan“ zum „Terroristen�… | |
und verbreitete zur Abschreckung ein Video mit dem blutenden Häftling: Bei | |
der Verhaftung wurde Melnik durch Schüsse in die Beine verletzt. | |
Der 40-jährige Militärexperte Jahor Lebiadok wurde im Juli verhaftet. In | |
seinem Telegram-Kanal und in unabhängigen Medien analysierte Lebiadok | |
Russlands Krieg gegen die Ukraine und insbesondere die Rolle von Belarus. | |
Nach seiner Festnahme wurde ein Reue-Video aufgenommen – eine bei der | |
belarussischen Polizei beliebte Methode. Lebiadok wurde ein Kommentar für | |
das Europäische Radio für Belarus zum Verhängnis. Der Sender aus Warschau | |
gilt in Belarus inzwischen als „Extremistenverband“, dessen Tätigkeit | |
Lebiadok durch seine Expertise begünstigt habe. Am 23. Dezember wurde er zu | |
fünf Jahren Haft verurteilt. | |
Harte, politisch motivierte und absurde Urteile sind in Belarus längst | |
Alltag geworden. Wital Melnik und Jahor Lebiadok sind zwei Schicksale, die | |
das belarussische Jahr 2022 widerspiegeln – ein Jahr von Repressionen und | |
(Schein-)Konsolidierung der Diktatur. | |
## Das Regime setzt seine Repressionspolitik fort | |
Im Jahr 2024 könnte Alexander Lukaschenko sein 30. Jubiläum an der Spitze | |
der Republik Belarus feiern. Die Voraussetzungen dafür sind momentan | |
günstig für Europas dienstältesten Diktator, der in der Staatspropaganda | |
als weiser „Vater der Nation“, international bedeutender Staatsmann und | |
alternativloser Retter aus Chaos und Not dargestellt wird. | |
2022 hat der heute 68-jährige Lukaschenko die Weichen für seine Zukunft an | |
der Macht gestellt. Sein Verfassungsreferendum fiel mit dem Kriegsausbruch | |
zusammen und wurde kaum beachtet. Das Regime setzte seine | |
Repressionspolitik fort, wobei die Anzahl politischer Gefangener inzwischen | |
die Marke 1.450 übertroffen hat. Obschon der belarussische Kampf für | |
Freiheit und Demokratie durch den Friedensnobelpreis für den inhaftierten | |
Menschenrechtler Ales Bjaljazki gewürdigt wurde, ließ sich Lukaschenko von | |
der internationalen Kritik nicht einschüchtern. | |
## Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit | |
Willkürliche Festnahmen, fabrizierte Strafsachen und Folter gehören | |
weiterhin zum Methodenarsenal belarussischer Sicherheitskräfte. Im Land | |
herrscht die Stimmung von Angst, Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit. | |
Das Interesse für die Situation in Belarus nahm nach dem russischen | |
Einmarsch in die Ukraine ab und wurde in der westlichen Presse erst im | |
Zusammenhang mit Bjaljazkis Auszeichnung, mit dem Drama um Maria | |
Kolesnikowa und mit dem Urteil gegen Aliaksandra Herasimenia aufgegriffen. | |
Die 2021 zu elf Jahren Haft verurteilte Musikerin und Aktivistin | |
Kolesnikowa kam im November auf eine Intensivstation und musste notoperiert | |
werden. | |
Die aktive Regierungskritikerin, frühere Profischwimmerin Herasimenia, die | |
für Belarus insgesamt drei Olympia-Medaillen gewonnen hatte, wurde Ende | |
Dezember 2022 in Abwesenheit zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Ansonsten | |
stellte man sich im Westen 2022 vor allem eine belarussische Frage – die | |
Kriegsfrage: Würde sich Lukaschenko dem russischen Angriffskrieg in der | |
Ukraine anschließen und Truppen ins Nachbarland entsenden? | |
## Lukaschenkos Doppelstrategie | |
Im Krieg entschied sich der Staatschef für eine Doppelstrategie. Auf einer | |
Seite stellt er dem Kreml das belarussische Territorium zur Verfügung und | |
unterstützt die Russen logistisch, politisch, propagandistisch und mit | |
Waffen. Nach der Teilmobilmachung in Russland werden russische Soldaten in | |
Belarus stationiert und ausgebildet. Der misslungene Angriff auf Kiew wurde | |
von Belarus aus durchgeführt. In neuen russischen Angriffsplänen auf die | |
ukrainische Hauptstadt soll Belarus erneut eine zentrale Rolle spielen. | |
Auf anderer Seite schließt Lukaschenko die Entsendung belarussischer | |
Soldaten in die Ukraine aus. Gleichzeitig wiederholt er aber russische | |
antiukrainische und antiwestliche Propagandanarrative und stellt somit | |
seine Moskau-Treue zur Schau. Die Staatsicherheit enttarnt immer wieder | |
„ukrainische Agenten“ und verfolgt Sympathisant*innen der Ukraine. | |
Hinzu kommen noch die von Minsk hervorgehobenen Bemühungen bei der | |
Sicherung der Grenzen zu den Nato-Staaten, die als Beitrag zur russischen | |
„militärischen Spezialoperation“ präsentiert werden: Falls die Allianz | |
gegen Russland über Belarus marschieren würde, stünde die belarussische | |
Armee den Russen zur Seite. | |
Die Hetze gegen den „kollektiven Westen“ hindert jedoch die belarussische | |
Führung nicht daran, Washington, London und Brüssel zum Dialog und zur | |
Abschaffung der Sanktionen aufzurufen sowie Minsk als Standort möglicher | |
Verhandlungen über die Ukraine – ähnlich wie 2014/15 – ins Spiel zu | |
bringen. | |
## Ukraine ist für Belarus heißes Eisen | |
Lukaschenkos verschwörungstheoretische Eskapaden und militante Rhetorik | |
irritieren manchmal die westliche Öffentlichkeit. Sie sollen über seine | |
zentrale Botschaft nicht hinwegtäuschen: Der Diktator will sich nicht aktiv | |
am Krieg beteiligen. Und er hat gute Gründe dafür. Die belarussische | |
Gesellschaft ist gespalten. Während viele Menschen unter dem Einfluss der | |
russischen Propaganda stehen und Moskau unterstützen, gibt es zahlreiche | |
„Neutrale“, die sich nicht positionieren wollen, und etliche | |
Ukraine-Unterstützer*innen. | |
Mehrere Belarussen kämpfen als Freiwillige an der Seite der Ukraine. Die | |
prowestliche demokratische Bewegung unter Swetlana Tichanowskaja setzt auf | |
einen ukrainischen Sieg, der die Befreiung ihrer Heimat von der | |
prorussischen Diktatur begünstigen soll. Ein Einmarsch der belarussischen | |
Armee in die Ukraine wird aber nicht nur von den Ukraine-Unterstützern, | |
sondern auch von „Neutralen“ und den meisten Russland-Sympathisanten | |
abgelehnt. Der russische Krieg bleibt für die meisten Belaruss*innen | |
ein fremder Krieg. | |
Unter diesen Umständen würde die aktive Kriegsbeteiligung, die zu | |
erheblichen Verlusten führen und das Land zum Kriegsschauplatz machen | |
würde, die vermeintliche Stabilität der Diktatur gefährden, was Lukaschenko | |
angesichts seiner Erfahrungen mit der Protestbewegung 2020, weiterer | |
westlicher Sanktionen und persönlicher juristischer Konsequenzen verhindern | |
möchte. | |
## Der Westen belässt es bei Warnungen | |
Geht Lukaschenkos Strategie auf? Zum Teil, ja! Die USA, EU und | |
Großbritannien differenzieren zwischen dem Moskauer Aggressor und dem | |
Minsker Co-Aggressor. Während harte Sanktionen gegen Russland und Belarus | |
unmittelbar nach dem Einmarsch eingeführt wurden und im russischen Fall | |
kontinuierlich verschärft werden, sieht man von neuen Maßnahmen gegen | |
Lukaschenko ab und belässt es bei Warnungen. | |
Diese ambivalente Politik soll zwar den Diktator von dem Kriegseinsatz | |
abbringen. Sie bestärkt jedoch das Regime zugleich in seiner Überzeugung, | |
keine Strafe für seine Untaten gegen die Zivilgesellschaft befürchten zu | |
müssen. | |
## „Slawische UdSSR“ oder Demokratie in Belarus | |
Der von Minsk ersehnte Dialog mit dem Westen kommt nicht zustande. Als | |
Co-Aggressor scheidet Belarus als Standort möglicher Verhandlungen über die | |
Ukraine aus. Lukaschenkos Eigenständigkeit wird ohnehin in Frage gestellt. | |
Er gilt eher als eine „russische Marionette“, während Putin das letzte Wort | |
hat – über Krieg, Frieden und letztendlich über einen Kriegseinsatz | |
belarussischer Truppen. | |
Lukaschenko hat das Schicksal von Belarus mit dem Krieg verknüpft. Da Putin | |
offen die „Vereinigung des russischen Volkes“ anstrebt und dabei | |
Ukrainer*innen und Belarus*innen als Russen*innen betrachtet, | |
könnte Moskaus Sieg die Eingliederung von Belarus in die „slawische UdSSR“ | |
herbeiführen. Sollte Russland sein Ziel verfehlen und aus dem Krieg | |
geschwächt hervorgehen, könnte Lukaschenkos Herrschaft zu bröckeln | |
beginnen. Sollte aber der Krieg mit einem ukrainischen Sieg und dem | |
Untergang des Putin-Regimes enden, ist die Diktatur wohl nicht zu retten | |
und der Weg ist frei zu Demokratie und Freiheit in Belarus. | |
4 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Alexander Friedman | |
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