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# taz.de -- Gedenkkonzert zum Kriegsausbruch: Gegen die Wiederkehr des Schrecke…
> Der polnische Geiger Adam Bałdych gab in der Berliner
> St.-Elisabeth-Kirche ein ergreifendes Konzert zur Erinnerung an den
> Ausbruch des 2. Weltkriegs.
Bild: Der polnische Star-Jazz-Geiger und Komponist Adam Bałdych mit einem sein…
Selten führt ein Gedenkkonzert, das an den Beginn des Zweiten Weltkriegs
erinnert, zu so viel Ergriffenheit wie Ende September in der Berliner
St.-Elisabeth-Kirche. Das Publikum erhebt sich von seinen Stühlen und
applaudiert anhaltend, nachdem es zuvor Livemusik gehört hat, die erst 2025
auf dem Album „Porträts“ des polnischen Star-Jazz-Geigers und Komponisten
Adam Bałdych und seines Quintetts veröffentlicht wird. Veranstaltet wurde
das Konzert vom Pilecki-Institut, einem staatlichen polnischen Kultur- und
Forschungsinstitut.
Eingängige Melodien, anspruchsvolle Changes und Jazzrhythmen erfüllten
knapp anderthalb Stunden den Raum und rissen die Zuhörer*innen mit.
Einige Songs muteten melancholisch und getragen an, doch es dominierten die
starken Klänge. Der 38-jährige Bałdych, in Nadelstreifenanzug und Sneaker
gekleidet und mit charakteristischem Dutt und Undercut, verzerrte beim
Spiel ergriffen das Gesicht.
Mal zupfte er sein Instrument wie ein Rockstar, mal strich er sanft mit dem
Geigenbogen darüber und mal malträtierte er es, bis man fürchten musste, es
könnte gleich explodieren. Es rissen aber nur einzelne Haare des
Geigenbogens.
## Gelungene Show
Zwischendurch griff Bałdych zur Renaissance-Geige, seinem
Lieblingsinstrument. Auch die Begleitmusiker an Flügel, Kontrabass, Drums
und Saxofon zeigten ihre Fertigkeiten bei improvisierten Parts, während
Bałdych wie in einem Club tanzte. Doch es ging um mehr als um die gelungene
Show an diesem Abend. Thematisch stand das wechselhafte, von Krieg und
Totalitarismus, aber auch von demokratischer Wende geprägte polnische 20.
Jahrhundert im Mittelpunkt – sowie die „fragile Conditio humana“ der
Gegenwart, in der die vergangen geglaubten Schrecken wiederkehren.
„Porträts“ ist ein hochemotionales Album. Obwohl eine Auftragsarbeit für
das Pilecki-Institut, ist sofort spürbar, dass seine Musik aus Überzeugung
und Einfühlung entstanden ist. Bałdych holte sich Inspiration von
Geschichten aus den Archiven, aber ebenso vom Buch „Musik in Auschwitz“
von Szymon Laks, der im Lagerorchester des Vernichtungslagers spielte und
das NS-Grauen überlebte. Aber wohl auch aus seinem christlichen Glauben,
wie etwa beim Auftaktstück des Abends, „Vision (Talking to Jesus)“, oder
wie die Titel „Tree of Knowledge“ und „Genesis“ nahelegen.
Die Worte des Stücks „Niebo złote ci otworzę“ („Ich werde den goldenen
Himmel für dich öffnen“), das eine Vertonung des gleichnamigen Gedichts von
Krzysztof Kamil Baczyński darstellt, trägt der Sänger Piotr Odoszewski mit
sanfter hoher Stimme vor. Baczyński kam 1944 während des Warschauer
Aufstands ums Leben, gerade 23 Jahre alt.
Die St.-Elisabeth-Kirche als Veranstaltungsort war sorgsam gewählt. Der von
außen antik anmutende Schinkel-Bau wurde während des Zweiten Weltkriegs
schwer beschädigt. Das Kirchenhaus ist zwar saniert, jedoch nicht als
Sakralbau mit Orgel, Altar und Bänken wiederhergestellt – die Innenfassade
besteht aus unverputzten roten Ziegelsteinen – und wird vor allem für
Kulturveranstaltungen genutzt.
## Warschauer Aufstand
Das Bauwerk erinnert auch an den traurigen Anlass des Konzerts und des
Albums von Adam Bałdych – zwei Jahrestage: den Beginn des Zweiten
Weltkriegs mit dem deutschen Überfall auf Polen vor 85 Jahren am 1.
September 1939 und den Beginn des Warschauer Aufstandes vor 80 Jahren am 1.
August 1944. Nachdem dieser nach zwei Monaten gescheitert war, legten
Wehrmacht und SS-Verbände die Stadt in Schutt und Asche.
Während diese beiden Jahrestage zentral für die polnische Erinnerungskultur
sind, spielen sie in Deutschland kaum eine Rolle. Das Leid der polnischen
Bevölkerung, Morde, Verschleppungen, die Ausbeutung von
Zwangsarbeiter*innen, sind hierzulande kaum bekannt. Aber auch eine
Ignoranz gegenüber der polnischen Geschichte und Sprache und Kultur des
Nachbarn Polen im Allgemeinen macht diesen Abend so relevant.
Polen wird nicht als Kulturnation wahrgenommen. Das dürfte nicht nur an
mangelnder Bildung liegen, sondern noch immer dem im deutschen Kaiserreich
aufkommenden, im Nationalsozialismus auf die Spitze getriebenen und bis
heute spürbaren antislawischen Rassismus geschuldet sein.
Und da wäre noch ein weiterer Anlass, auf den auch der polnische Diplomat
Jan Tombiński in seiner Rede an diesem Abend hinweist: Es tobt wieder ein
Krieg in Osteuropa – der russische Angriff gegen die Ukraine. Die
Herausforderung, aus der Geschichte zu lernen, sei lange schon nicht mehr
so groß und dringlich gewesen wie jetzt, sagt Tombiński. Der Abend gab
Hoffnung, dass das vielleicht doch noch gelingen könnte.
30 Sep 2024
## AUTOREN
Yelizaveta Landenberger
## TAGS
Jazz
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Warschauer Aufstand
Konzert
Gedenken
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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Theater
Holocaust
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