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# taz.de -- Rechtsruck bei Jugendlichen: „Demokratie ist ein Schimpfwort gewo…
> Geht in Ostdeutschland gerade eine ganze Generation Jugendlicher an die
> Rechten verloren? Ein Gespräch mit vier Menschen, die das verhindern
> wollen.
Bild: Sie sind zum Gespräch in die taz gekommen: der ehemalige Bundestagsabgeo…
Sechs Personen, ein runder Tisch in einem Konferenzraum der taz. Gekommen
sind der ehemalige SPD-Politiker [1][Karamba Diaby aus Halle (Saale]), er
war der erste in Afrika geborene Schwarze Bundestagsabgeordnete, wurde
mehrfach attackiert und hat sich 2024 nicht wieder zur Wahl gestellt;
daneben die [2][Schriftstellerin Manja Präkels], die in den Neunzigern in
Brandenburg die Baseballschlägerjahre erlebt und darüber geschrieben hat.
Heute gibt sie politische Workshops an Schulen im Osten. Der Schüler
Leopold Rosenow ist aus Dresden angereist, er ist dort aktiv bei der
Initiative „Schülis gegen Rechts“. Juliane Leuschner, die unter diesem
Pseudonym spricht, ist in der Jugendbildungsarbeit in Rostock tätig. Fast
zwei Stunden werden die vier Gäst:innen mit den taz-Moderator:innen
diskutieren.
taz: Die [3][Zahl der rechtsextremen Straftaten] ist im vergangenen Jahr
massiv angestiegen, die Neonazi-Szene wächst, regelmäßig werden
rechtsextreme Terrorgruppen festgenommen oder verboten. Was spüren sie
davon in Ihrem Alltag?
Manja Präkels: Ich bin viel an Schulen unterwegs, gebe Workshops und lese
aus meinen Büchern. Da beobachte ich seit etwa drei Jahren, dass die Kinder
und Jugendlichen wieder genauso aussehen wie die, vor denen ich [4][in den
neunziger Jahren weggelaufen] bin. Zum Teil sind es wohl deren Kinder. Die
tragen Glatze und Bomberjacke wie ihre Väter. Anfangs erschien mir das vor
allem absurd, weil ja die Rechtsextremen in den letzten Jahren zunehmend
auf bürgerliche Camouflage setzen, und das äußerst erfolgreich.
Andererseits braucht es wohl auch Drohpotenzial, wenn man Dominanz
ausstrahlen will.
Leopold Rosenow: Was ich sehe, ist, [5][dass junge Leute
Nationalsozialismus und Rassismus teilweise extrem witzig finden]. Bei uns
an der Schule gab es den Fall, dass ein Achtklässler in einer
Sportumkleide stand und eine Wahlkampfrede von Hitler rezitiert hat. Und
keiner hat etwas gesagt. Dazu kommen die Symbole: Hakenkreuze werden in
Schultische geritzt, bei unseren Kitteln für den Chemieunterricht ist es
normal, dass irgendwo jemand eine kleine 88 reingeschrieben hat.
taz: Herr Diaby, Sie haben sich aus dem Bundestag zurückgezogen, arbeiten
aber weiter ehrenamtlich. In Sachsen-Anhalt, wo Sie leben, steht die AfD
laut Umfragen gerade [6][bei 39 Prozent]. Was merken Sie tagtäglich davon?
Karamba Diaby: Auf den Straßen in Halle erlebe ich keinen Rassismus,
zumindest keine physische Gewalt. Etwas ganz anderes ist es in den sozialen
Medien. Als ich noch Bundestagsabgeordneter war, haben Hass und Hetze gegen
mich massiv zugenommen. Ich habe täglich E-Mails mit Beleidigungen und
Drohungen bekommen. Wir kamen nicht hinterher, die zu löschen und zur
Anzeige zu bringen.
taz: Physische Gewalt wird nicht gegen Sie ausgeübt? Auf Ihr Büro ist 2020
geschossen worden, bei einem [7][Brandanschlag 2023] ist es vollständig
ausgebrannt.
Diaby: Das stimmt, aber direkte physische Gewalt gegen meine Person erlebe
ich nicht. Es ist paradox: Ich wurde dreimal hintereinander direkt gewählt
in meinem Wahlkreis in Halle, die Journalisten haben mich „Stimmenkönig von
Sachsen-Anhalt“ genannt. Ich hatte extremen Rückhalt. Und gleichzeitig
haben Morddrohungen für mich zuletzt zum Alltag gehört. Seit ich aus dem
Bundestag ausgeschieden bin, poste ich nichts mehr in den sozialen Medien.
Seitdem habe ich keine einzige Hassnachricht mehr bekommen.
taz: Wie ist die Situation in Rostock?
Juliane Leuschner: Ich bin wie Manja Präkels in den neunziger Jahren in
Ostdeutschland groß geworden und damals als kleine Punkerin durch die
Straßen gejagt worden. Ich kenne das Gefühl, dass der öffentliche Raum kein
sicherer Ort ist. Und mein Eindruck ist, dass das gerade wiederkommt. Sei
es durch Nazi-Aufkleber, die überall kleben, selbst am Strand, in den
Touristenorten. Und auch [8][dieser Stolz, den viele junge Neonazis vor
sich hertragen]. Ich mache seit 15 Jahren politische Bildung. Vor zehn
Jahren haben die Leute noch gesagt: „Ich bin kein Rassist, aber“. Heute
sagen sie: „Ja, ich bin Nazi, und das ist gut so!“
taz: Frau Leuschner, Sie wollen, dass wir nicht Ihren echten Namen nennen,
sondern für das Interview ein Pseudonym verwenden. Warum?
Leuschner: Jugendarbeit, vor allem im Osten, ist extrem unter Druck.
Bildungsarbeit wird in der Regel nicht langfristig finanziert. Wir springen
von Projekt zu Projekt und sind abhängig von öffentlichen Geldern und von
Kooperationspartnern. Gleichzeitig kommt gerade von rechts in letzter Zeit
immer häufiger die Forderung, wir müssten politisch neutral sein.
Leopold: Dieses Spiel mit der politischen Neutralität kenne ich auch aus
Sachsen. Da wird dann gesagt, Schule habe neutral zu sein, Lehrer:innen
dürften sich politisch nicht positionieren. So unterdrückt man jede Form
von demokratischer Bildung. Denn Schule ist natürlich ein hochpolitischer
Ort.
Leuschner: Politische Bildung ist nie neutral. Wir haben den Beutelsbacher
Konsens, der besagt, Kinder und Jugendliche sollen in die Lage versetzt
werden, die politische Lage in ihrem Interesse zu analysieren und
beeinflussen. Wir Sozialarbeiter können also durchaus Stellung beziehen.
Mittlerweile müssen wir aber um unsere Finanzierung fürchten, wenn wir uns
zu weit aus dem Fenster lehnen. Auch das ist für mich [9][Teil des
Rechtsrucks].
Präkels: Ich finde es skandalös, dass Sie hier nicht mit Ihrem Namen
sprechen können, aus Angst, dass Ihnen dann das Geld gekürzt wird. Leute
wie Sie machen so eine fundamentale Arbeit. Die müsste eigentlich längst
fest im Bildungssystem verankert sein. Und Sie müssten ganz klar reden
können, mit einer starken Institution hinter Ihnen. Stattdessen haben wir
eine Bundesregierung, die dem rechten Rand oft nach dem Mund redet und
Bündnisse für Demokratie des Linksextremismus verdächtigt.
taz: Es gibt vermehrt auch Angriffe auf zivilgesellschaftliche
Institutionen, eine Welle der Gewalt. Erleben wir gerade [10][neue
Baseballschlägerjahre]?
Diaby: Die neunziger Jahre waren eine Zeit des Horrors. Es gab Pogrome und
die vielen rassistischen Morde. Ich selbst bin angegriffen worden von
Jugendlichen in Halle, am 28. Mai 1990 um 21.30 Uhr. Diese Welle an Gewalt
dauerte bis Ende der neunziger Jahre. Seit etwa zehn Jahren beobachte ich,
wie Rassismus und Rechtsextremismus kontinuierlich wieder ansteigen. Und
trotzdem: Bei der Brutalität der neunziger Jahre sind wir heute nicht.
Präkels: Mich erinnert vieles an damals, auch jenseits der Gewalt. Als
junge Reporterin Anfang der neunziger Jahre in Brandenburg habe ich erlebt,
wie reihenweise Jugendeinrichtungen geschlossen wurden. Diese Angebote sind
nicht wiedergekommen, und wenn, dann sind die jetzt von Kürzungen bedroht.
An vielen Schulen, die ich besuche, gab es zuletzt keinen musischen
Unterricht, weil die Lehrer fehlen. Gerade der musische Unterricht, in dem
die Menschwerdung im Vordergrund steht, in dem man sich austauschen kann,
ohne Worte, genau der fehlt. Es fehlen Fachlehrer:innen auch in
Politischer Bildung. Also ich sehe diese jungen, radikalen Leute heute und
mir krampft das Herz. Ich nehme diesen unbändigen Hass in ihnen wahr, und
ich denke, bis zu diesem Punkt in ihrem Leben muss ja schon unglaublich
viel passiert sein, was läuft hier alles schief?
taz: Sie haben in einem Text geschrieben, die Situation heute sei schlimmer
als in den neunziger Jahren. Wie meinen Sie das?
Präkels: Was ich heute in Ostdeutschland wahrnehme, ist etwas
Atmosphärisches: Da ist eine Sprachlosigkeit, es wird nicht mehr geredet,
nicht gestritten. Auch die Lehrer:innen in den Schulen sagen mir, die
Schüler würden nicht streiten, sie seien so unpolitisch. Das ist natürlich
Quatsch. Was wir daran sehen, ist eher eine bizarre Idee von Neutralität.
Als könne man gegenüber Faschismus und Gewalt neutral sein. Das kommt zwar
aus den neunziger Jahren, ist heute aber zu einer Art Grundhaltung geworden
– leider auch bei vielen Eltern und Lehrer:innen.
taz: Warum sind Nazis wieder cool?
Diaby: Weil die Rechtsextremen und besonders die AfD die sozialen Medien
viel besser beherrschen als wir. Das Internet ist der zentrale Ort, an dem
sich junge Menschen radikalisieren. Und da ist die AfD tonangebend.
taz: Ist das nicht ein bisschen einfach?
Leuschner: Es spielt auf jeden Fall eine große Rolle. Ich war in dieser
Woche in einer Schulklasse und wir haben über das Attentat auf [11][Charlie
Kirk] gesprochen.
taz: … den rechtsextremen US-amerikanischen Influencer.
Leuschner: Genau. Ich kannte die Person vor dem Attentat gar nicht. Aber
die Jugendlichen kannten ihn seit Monaten oder Jahren. Das hat mich
erstaunt. Ich mache politische Bildung, ich verfolge die Nachrichten, und
trotzdem lebe ich offenbar in einer ganz anderen Welt als diese
Jugendlichen.
Präkels: Ich habe mir schon in den Neunzigern viele Gedanken gemacht, warum
Freund:innen über Nacht zu mordgeilen Zombies geworden sind. Wie konnte
so plötzlich aus Freundschaft Feindschaft werden? Ein Punkt, auf den ich
gekommen bin, ist, dass meine Mitschüler:innen das Unausgesprochene
ihrer Eltern, deren Ängste, deren geistige Unbehaustheit, unreflektiert
übernommen haben. Heute stehen wir wieder vor radikalen Umbrüchen, die
vielen Menschen Angst machen. Eine Angst, die von der AfD permanent
bestätigt und geschürt wird. Die radikalisierten Kinder führen also
letztlich das aus, was sich Erwachsene nicht trauen.
Leuschner: Was mich auch an die Neunziger erinnert, ist diese Ohnmacht der
Erwachsenen. Ich bekomme oft Anrufe von Lehrer:innen oder
Sozialarbeiter:innen, die mir sagen: „Wir hatten einen Vorfall, wissen aber
nicht, was wir machen sollen. Bitte kommen Sie und helfen Sie uns.“
Leopold: Das kann ich bestätigen. Zu unserem „Schülis gegen Rechts“-Plenum
kam ein 12-Jähriger und hat uns sehr verzweifelt erzählt, dass Mitschüler
ihn mobben und Gewalt androhen. Und das, weil er „Fuck AfD“ auf seinen
Block geschrieben hat. Er ist wohl wirklich der einzige Mensch in der
Klasse, der sich offen gegen Rassismus stellt. Er ist damit zu seinen
Lehrkräften gegangen, das hat es offenbar noch schlimmer gemacht. Am Ende
hat ihm der Schulleiter einen Verweis angedroht, mit der Begründung, Schule
sei kein politischer Ort, „Fuck AfD“ gehöre hier nicht hin. Er sollte also
bestraft werden und nicht etwa die Schüler, die ihm Schläge angedroht
haben.
taz: Frau Leuschner, was machen Sie, wenn Sie in eine Klasse gerufen
werden, in der es stramm rechte Jugendliche gibt?
Leuschner: Wir haben gemerkt, dass wir dafür neue Ansätze brauchen.
[12][Präventionsarbeit], so wie wir sie bisher gemacht haben, hilft in
solchen Fällen nicht mehr weiter. Wenn ich eine Gruppe habe mit
Jugendlichen, die stramm rechts sind, dann muss ich denen nicht sagen, was
Rassismus ist. Das finden die lächerlich.
taz: Sondern?
Leuschner: Es sind ja nie alle rechts in einer Klasse. Also trennen wir die
rechtsextremen Jugendlichen von denen, die gestärkt werden müssen. Denn
die, die Schutz brauchen, müssen auch einen Raum haben. Mit den
rechtsextremen Jugendlichen machen wir vor allem Biografiearbeit. Es geht
also darum, dass sie ihre Lebensgeschichte reflektieren, um zu verstehen,
wie sie zu ihren Positionen kommen. Wir hören zu, statt zu erklären. Wir
fragen die Jugendlichen: Welche Folgen hat dein Handeln? Wichtig ist,
überhaupt ins Gespräch zu kommen.
taz: Und dabei machen die Jugendlichen mit?
Leuschner: Am Anfang kommt oft Abwehr oder Provokation. Aber wenn wir
konsequent beim Zuhören bleiben, entstehen Räume, in denen die Jugendlichen
anfangen, über ihre eigenen Widersprüche nachzudenken. Genau das ist der
Kern der Distanzierungsarbeit: nicht belehren, sondern ins Gespräch kommen
und dadurch Bewegung ermöglichen.
Präkels: Ich erlebe das ähnlich. Wenn mir ein Schüler den Hitlergruß zeigt,
dann frage ich ihn, warum er das macht. Da merke ich dann oft viel
Unsicherheit und Not. Die haben das übernommen von Mitschülern oder von dem
großen Bruder, können es aber gar nicht richtig erklären. Also eigentlich
sehe ich jemanden, der mich etwas fragen möchte, aber nicht die richtigen
Worte findet. Da kann man noch was tun. Also bevor sich Unsicherheit und
Not verpanzern.
taz: Das klingt sehr verständnisvoll. Aber muss man nicht auch eine:n
13-Jährige:n in die Verantwortung nehmen?
Leuschner: Natürlich. Grenzen setzen ist wichtig. Was in letzter Zeit
extrem zugenommen hat, ist Holocaustleugnung. Da sitzen Schüler, 13-jährige
zum Teil, und sagen mir ins Gesicht: „Das mit Auschwitz, das war doch gar
nicht so schlimm. Die haben doch alle freiwillig da gearbeitet. Und wenn
sie umgebracht wurden, dann haben sie wohl nicht gut gearbeitet.“ Die sagen
das ganz locker und cool, das ist antrainiert. Die ersten Male hat mich das
richtig geschockt.
taz: Wie reagieren Sie darauf?
Leuschner: Ich sage, dass [13][Holocaustleugnung eine Straftat] ist, und
beende erst mal das Gespräch. Später versuche ich schon, mit dem
Jugendlichen noch mal allein ins Gespräch zu kommen. Aber wir sind auch
dazu übergegangen, nach solchen Fällen die Erwachsenen stärker in die
Pflicht zu nehmen. Lehrer:innen müssen Antworten finden auf
menschenverachtende Einstellungen. Sie müssen fit sein, solche Situationen
zu erkennen. Und mutig, um ihnen zu widersprechen.
Diaby: Die Arbeit, die Sie da in den Schulen leisten, ist so wichtig. Dass
sie nicht dauerhaft finanziert wird, ist schlimm. Das zeigt mir wieder:
Wenn es uns nicht gelingt, die Demokratieförderung auf ein hohes Niveau zu
bringen, dann haben wir versagt. Demokratie ist Daueraufgabe, und
Daueraufgabe braucht Dauerförderung. Es ist ein Armutszeugnis, [14][dass
wir heute immer noch auf ein Demokratiefördergesetz warten].
taz: Die SPD ist seit zwölf Jahren an der Regierung beteiligt. Wieso hat
Ihre Partei das nicht längst umgesetzt?
Diaby: Sie können sich doch sicher vorstellen, an wem das in der aktuellen
Koalition scheitert. Nicht an uns.
taz: Aber Sie waren auch vorher in der Regierung. Die Ampel wäre die Chance
gewesen, das durchzusetzen.
Diaby: Wir hatten im Koalitionsvertrag vereinbart, die Demokratieförderung
langfristig abzusichern. Das ist in der letzten Minute an der FDP
gescheitert, weil sie fand, es sei nicht Aufgabe des Staates, sich überall
einzumischen. So ein Schwachsinn. Aber ja, Sie haben recht: Wir haben da
versagt.
Präkels: Und nun sind wir in einer Situation, in der es Gegenden gibt,
nicht nur in Ostdeutschland, aber da vor allem, wo die Leute sagen: „Wie
soll das heißen? Demokratieförderung? Um Gottes willen, so dürfen wir das
nicht nennen!“ Demokratie ist zu einem Schimpfwort geworden, genau wie
schwul, Jude oder queer, und das nicht erst seit der Ampel.
taz: Und trotzdem ist es noch ein weiter Schritt vom verlorenen Vertrauen
in die Demokratie hin zu rechtem Terror. Leopold, in jüngerer Zeit wurden
immer wieder mutmaßliche rechtsextreme Terrorgruppen aufgedeckt, deren
Mitglieder zum Teil so alt wie du waren. Wie erklärst du dir das?
Leopold: Es ist natürlich traurig, aber für mich macht das Sinn. Ich
beobachte, dass sich viele Jugendliche politisch machtlos fühlen. Nicht,
dass ich rechten Terror gutheiße, aber ich verstehe, wie man dahin kommt,
zu sagen: Uns hört eh keiner zu, wenn wir wollen, dass sich etwas
grundlegend ändert, dann geht das nur mit Gewalt.
taz: Sind es eher die männlichen Jugendlichen, die sich rechtsextremen
Gruppen zuwenden?
Leopold: Ja, ich glaube schon. Diese Jungs haben oft wenig
Selbstbewusstsein, in dem Alter zwischen zehn und vierzehn Jahren suchen
sie nach Vorbildern und finden sie bei den Rechtsextremen, die [15][ein
einfaches Identifikationsangebot] machen. Da geht es zunächst darum,
aufgenommen und wahrgenommen zu werden, nicht so sehr, diese politische
Ideologie zu verbreiten. Als Opfer dürfen sie natürlich trotzdem nicht
betrachtet werden, auch sozialer Druck entschuldigt kein rechtsextremes
Verhalten.
Leuschner: In den jugendlichen Subkulturen wird wieder ein heroisches
Männlichkeitsideal propagiert, das auf manche Jungs sehr anziehend wirkt.
In der Musikkultur, der Popkultur, der Fankultur. Auf diesen Feldern hat
sich das Phänomen der Manosphere ausgebreitet, frauenverachtendes Verhalten
erleben wir dort in einer Weise, wie wir es zuvor nicht erlebt haben.
taz: Man kann den Eindruck bekommen, da geht gerade eine ganze Generation
an den Rechtsextremismus verloren. Sehen Sie das auch so?
Präkels: Wir können von Glück sagen, wenn es am Ende nur eine Generation
ist. Die Zeitläufte sind gegen uns. Nicht nur in den USA, sondern auch bei
unseren europäischen Nachbarn wird Antifaschismus zunehmend kriminalisiert.
Nicht etwa Faschismus, nein, Antifaschismus. Das ist irre.
Leuschner: Die Gefahr ist real, und wir dürfen sie nicht kleinreden. Aber
ob eine ganze Generation verloren geht, hängt stark davon ab, wie wir als
Gesellschaft reagieren, also ob wir Gegenangebote machen, ob wir
Jugendlichen Anerkennung und Teilhabe ermöglichen. Rechtsextremismus wird
nicht naturwüchsig stark, er wächst da, wo andere Angebote fehlen. Nein,
verloren ist diese Generation nicht. Aber wenn wir Jugendlichen keine
attraktiven Gegenangebote machen, überlassen wir ihnen das Feld.
Rechtsextreme füllen genau die Lücken, die wir offen lassen.
Diaby: Ich glaube auch nicht, dass die Generation verloren ist. Die
Situation ist besorgniserregend, aber „verloren“ würde bedeuten, es ließe
sich nichts mehr dagegen tun. Das glaube ich nicht, wir Demokraten sind
noch immer in der Mehrheit. Aber umso wichtiger ist es, dass viel mehr
Leute für die Demokratie einstehen. Rassismus und Rechtsextremismus muss
widersprochen werden, am Arbeitsplatz, beim Sport und bei Omas achtzigstem
Geburtstag.
taz: Leopold, wie fühlt es sich für dich an zu wissen, dass Jugendliche in
deinem Alter zu so viel brutaler Gewalt fähig sind? Du engagierst dich
gegen Rechtsextremismus und bist eindeutig als Linker erkennbar.
Leopold: Ich habe keine Angst, selbst angegriffen zu werden. Ich bin nachts
nicht alleine unterwegs und bewege mich eh vor allem in der Innenstadt und
Neustadt von Dresden. Ich habe aber natürlich Angst davor, dass sich das,
was diese jungen Neonazis wollen, in echte Politik umsetzt. Wenn Rassismus
und Queerfeindlichkeit irgendwann von oben aus dem Bundestag kommt, das
wäre furchtbar.
taz: Bei der Bundestagswahl 2021 haben die Erstwähler:innen vor allem
Grüne und FDP gewählt. Bei der [16][Bundestagswahl 2025] haben sie AfD und
Linke gewählt. Wie kam es zu der Verschiebung?
Präkels: Wie ist denn reagiert worden auf die engagierten grünen
Jugendlichen? Auf Fridays for Future und später die Letzte Generation? Die
Jugendlichen haben versucht, aus ihrer Hilflosigkeit einen Move zu machen,
und sind kriminalisiert und schlechtgeredet worden, voller Häme und
Gemeinheit. Bei der AfD erfahren junge Leute dagegen Unterstützung und
werden ernst genommen. Hier haben sie das Gefühl, die Gesellschaft
tatsächlich verändern zu können. Leider zum Schlechteren.
Diaby: Gegen Klimaengagement zu sein, ist doch heute Mainstream. Da haben
die Rechtspopulist:innen ganze Arbeit geleistet, die Themen
Klimaschutz und globale Gerechtigkeit ins Lächerliche zu ziehen. Schauen
Sie sich an, wie erfolgreich [17][Markus Söder mit seinen Wurst-Videos]
ist. Das Problem ist, dass diesen Leuten niemand widerspricht. Das macht
natürlich Eindruck auf die jungen Leute.
Präkels: Wir haben ein allumfassendes, strukturelles Problem, was die
Position von Kindern und Jugendlichen und deren Wert in dieser Gesellschaft
betrifft. Wenn ein neuer Kanzler antritt, dann erwartet schon niemand mehr,
dass er irgendein Wort über Kinder und Jugendliche sagt. Warum eigentlich
nicht? Über die müsste er doch als Erstes sprechen. Es wird immer viel
geredet von der Zukunft. Aber was wird denn getan für die Menschen, die die
Zukunft gestalten sollen? Was ist das für ein Gefühl, als junger Mensch in
diesem Land aufzuwachsen? Offenbar kein sehr wertschätzendes.
taz: Gibt es heute denn auch grundlegende Unterschiede zu den neunziger
Jahren?
Diaby: Der große Unterschied ist, dass mit der AfD eine Partei im
Bundestag, in den Landtagen und den Kommunen sitzt, die das Sprachrohr für
die gewaltbereiten Neonazis ist. Die AfD bereitet den Nährboden für die
Gewalt auf der Straße. Wir hatten auch in den Neunzigern starke
rechtsextreme Parteien. Bei den Landtagswahlen 1998 ist die DVU mit 13
Prozent eingezogen. Das war aber eine temporäre Sache, die haben sich in
kurzer Zeit so zerfleischt, dass sie nach einer Wahlperiode wieder
rausgeflogen sind. Das sehe ich bei der AfD leider nicht kommen.
Präkels: Es gibt allem Gegenwind zum Trotz zum Glück heute überall und
flächendeckend engagierte Menschen. Es gibt Institutionen, wenn auch
prekär, geschulte Leute, psychologische Betreuung, Opferberatung. Sogar die
Entdeckung der Psyche hat auch in Ostdeutschland endlich stattgefunden! In
den Neunzigern sind unglaublich viele Leute in Krisen gestürzt, ohne dass
man nach psychologischen Erklärungen gesucht hat. Die zarten
institutionellen Pflänzchen sind zwar schon wieder massiv bedroht, aber es
gibt diese Menschen. Ich erlebe schon auch, dass Jüngere ihre Sorgen und
Nöte heute viel besser artikulieren können. Mag es auch die Minderheit
sein, es gibt Momente, da denke ich: Wow, so selbstbewusst war ich damals
nicht. Da merkt man, dass 35 Jahre vergangen sind. Also im positiven Sinne.
Diaby: Ja, es gibt die Engagierten. Aber mir fehlt ein großer Konsens der
Mehrheitsgesellschaft für die Demokratie. Die vielen Demos Anfang
vergangenen Jahres waren toll. Aber in den Neunzigern gab es große Konzerte
für die offene Gesellschaft, in Frankfurt und Köln. Da haben
Mainstream-Künstler:innen gespielt, vor 150.000 Besucher:innen. Wo sind die
heute? Warum bekennen sich nicht Musiker:innen, Schriftsteller:innen,
Influencer:innen in den sozialen Medien zur Demokratie? Könnte nicht
die taz so was anstoßen?
taz: Das ist nicht gerade unser Kerngeschäft …
Diaby: Ja, ja, jetzt reden Sie sich raus. Aber ich glaube, es ist wichtig,
dass die prodemokratischen Leute sehen, dass sie nicht in der Minderheit
sind. Was es auch gab in den neunziger Jahren, waren Lichterketten für die
Demokratie im ganzen Land. Das war ein gutes Format, bei dem man auch den
Nachbarn und die Nachbarin informieren kann. Das ist spektakulär, vor allem
im Social-Media-Zeitalter.
Präkels: Ich finde das eine schöne Idee mit den Konzerten. Aber die
Wahrheit ist doch, dass wir in vielen Regionen tatsächlich in der
Minderheit sind. Ich war auf der „Wir sind mehr“-Tour vor zwei Jahren
dabei, und es war deprimierend, mit diesem Motto auf dem Marktplatz
irgendeiner ostdeutschen Stadt vor weniger als hundert Menschen zu stehen.
Weil es dort einfach ein Pflaster ist, in dem es viel Mut kostet, sich zur
Demokratie zu bekennen.
taz: Was lässt sich denn aus den Neunzigern lernen: Auf was und wen kommt
es an?
Präkels: Stärkung der Schwachen! Die Antwort auf die rechtsextreme Gewalt
der neunziger Jahre hieß: akzeptierende Jugendarbeit. Man hat die Nazis
einfach angenommen, ihre Jugendzentren und sogar Propagandapublikationen
finanziert, sie unterstützt – in dem Glauben, dann fänden sie schon allein
den Weg zurück. Das ist grandios gescheitert. Heute müssten daher die
gestärkt werden, die potenziell von rechtsextremer Gewalt betroffen sind.
Aber offenbar fehlt der politische Wille.
Leuschner: Wenn ich die Lebenssituation vieler Kinder und Jugendlicher in
Schwerin und Rostock sehe, dann verstehe ich deren Verzweiflung. Viele
leben in absoluter Armut. Die resignieren. Deshalb glaube ich, es muss das
komplette Gegenteil passieren von dem, was wir gerade erleben: kein Herbst
der Reformen, kein Sozialabbau, sondern eine massive Sozialstärkung.
taz: Das klingt einleuchtend. Aber die Realität ist doch eine andere: Die
AfD träumt von der Alleinregierung in Ostdeutschland, die aktuelle
Koalition hat keine vernünftigen Pläne, Kinder aus der Armut zu holen, für
gute Jugendarbeit fehlen Geld und Personal. Sehen Sie da irgendeinen
Hoffnungsschimmer?
Leuschner: Ja, es ist düster. Aber ich erlebe auch, dass sich Leute
zusammenschließen, neue Bündnisse und Initiativen entstehen, von einer
kleinen Antifa-Gruppe bis zu Künstler:innen auf dem Dorf. Bei denen
wächst ein Verständnis dafür, dass es nicht reicht, die eigene Blase zu
bespielen, sondern dass wir es schaffen müssen, die Mehrheit hinter uns zu
versammeln.
Leopold: Der Vernetzungsgedanke treibt auch uns an. Wir bei den „Schülis
gegen Rechts“ arbeiten gerade an einem Plan, wie wir auch bundesweit aktiv
werden können. Wir laden gezielt auch Menschen ein, die noch nicht
organisiert sind, damit bundesweit noch mehr Ortsgruppen entstehen.
Präkels: Ich merke auch, dass sich etwas bewegt. Neulich hat mich die
Vorsitzende eines Elternbeirates angesprochen und um Hilfe gebeten. Sie
wollte, dass die Eltern geschult werden, und sagte: „Wir sind doch die
Antifa.“ Sie hat diesen Begriff als Utopie benutzt, also nicht mit einem
linksradikalen Duktus, sondern ganz klar als demokratischen Grundkonsens.
„Selbstverständlich müssen wir Antifaschisten sein. Wir als Eltern wollen,
dass unsere Kinder Antifaschisten sind.“ Das zu hören, in dem Tonfall, das
hat mich begeistert.
taz: Das klingt in der Tat hoffnungsvoll.
Leuschner: Ja, aber es kommt auch wirklich auf die Einzelnen an. Ich habe
mich mit Freunden zusammengetan, wir haben solidarische Nachbarschaften für
einige Stadtteile entwickelt. Wir klopfen an die Haustüren und laden die
Leute zu Nachbarschaftstreffen ein. Das klingt erst mal banal, aber da sind
dann so 40 bis 50 Leute gekommen. Deren großes Thema war Einsamkeit. Ja, da
kommen dann auch mal Ressentiments hoch. Aber wichtig ist erst mal zu
erkennen, dass das ganz unterschiedliche Leute sind. Wir machen jetzt mit
ihnen verschiedene Aktionen wie Müllsammeln, Spieleabende, wir gestalten
selber Flyer und so weiter. Das ist natürlich Arbeit im Kleinen. Aber ich
finde, es ist ein guter Weg, um aus der eigenen Sprachlosigkeit
rauszukommen. Das muss nicht antifaschistisch heißen, es kann auch erst mal
nur um Solidarität gehen.
Präkels: Ihr riskiert eure eigenen Gewissheiten. Das ist doch großartig.
Echte Solidarität über den eigenen Jägerzaun hinaus ist immer
antifaschistisch.
3 Oct 2025
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