| # taz.de -- Alltag in Ostdeutschland: Nichts wird noch mal gut gegangen sein | |
| > Das Buch „Extremwetterlagen. Reportagen aus einem neuen Deutschland“ | |
| > versammelt Texte, die vor den Landtagswahlen im Osten 2024 entstanden | |
| > sind. | |
| Bild: Was tun im Auge des Orkans? | |
| Seit wann wissen wir, dass Extremwetterereignisse häufiger werden, wenn wir | |
| den menschengemachten Klimawandel nicht stoppen? Und seit wann ahnen wir, | |
| dass wir nach irgendeiner der kommenden Landtagswahlen in Ostdeutschland | |
| nicht mehr sagen können: „Noch mal gut gegangen“? | |
| So unterschiedlich diese beiden Fragen thematisch auch sind, im Titel des | |
| Buchs „Extremwetterlagen“ (dreizeilig gesetzt „EXTREM WETTER LAGEN“) ko… | |
| sie zusammen: Nichts am gesellschaftlichen Klima in Deutschland und vor | |
| allem [1][in den ostdeutschen Bundesländern] ist „normal“, und nichts wird | |
| noch mal gut gegangen sein. | |
| In dem nun erschienenen Band, der den Subtitel „Reportagen aus einem neuen | |
| Deutschland““ trägt, sind Texte versammelt, die für das Projekt | |
| „Überlandschreiberinnen“ entstanden sind. Als solche sind die Autorinnen | |
| Manja Präkels, Tina Pruschmann und Barbara Thériault im Sommer 2024 durch | |
| ostdeutsche Städte gefahren, um Stimmungen und Haltungen dort einzufangen. | |
| Mit initiiert hat das Projekt der Soziologe Alexander Leistner von der | |
| Universität Leipzig; man müsse schauen, was auf den Straßen passiert sei, | |
| wolle man verstehen, wie „Stimmungen zu Strukturen gerinnen konnten, die | |
| sich manchmal beklemmend, zementiert und ausweglos anfühlen können. Die | |
| tief hineinragen in das Denken und die Wahrnehmung von Politik“, schreibt | |
| er. Die versammelten Texte waren vorher zum Teil in der taz, zum Teil in | |
| anderen Medien erschienen, einige waren bislang unveröffentlicht. | |
| Sie lesen sich wie ein lauter Aufschrei, sind eine Zumutung in dem Sinne, | |
| dass aus ihnen eine fortgeschrittene Normalisierung des menschenfeindlichen | |
| und rechtsextremen Diskurses spricht. | |
| Lehrer:innen ducken sich bei rechtsextremen Worten und Taten weg; ein | |
| Bewohner einer erzgebirgischen Kleinstadt fürchtet sich, wenn er den „Hass | |
| in den Augen“ seiner Mitbürger:innen sieht; die hundert größten | |
| rechtsextremen Telegram-Kanäle haben allein in Sachsen mehrere | |
| Hunderttausend Mitglieder; bei der Abschlusskundgebung des BSW in Dresden | |
| wird ein sowjetisches Militärlied angespielt; Ressentiments werden gezielt | |
| getriggert, wo es nur geht: Willkommen in (Ost-)Deutschland 2024/25. | |
| Die Trigger der Rechtsextremist:innen und -populist:innen werden | |
| jeweils der Lage angepasst – Geflüchtete, Corona, „Frieden“ mit Russland | |
| etc. —, sie warten nur auf Abnehmer:innen. | |
| „Eigentlich ist es immer dieselbe Unzufriedenheit“, erklärt der ehemalige | |
| Punkmusiker Bernd Stracke („L ’Attentat“) von der Initiative „Augen Auf | |
| Zivilcourage zeigen“, den die Autorin Tina Pruschmann in Kittlitz besucht, | |
| einer kleinen Gemeinde in der Oberlausitz. Stracke beschreibt einen | |
| finsteren Normalzustand, in dem Verschwörungserzählungen und | |
| Demokratieverachtung auf fruchtbaren Boden fallen. | |
| Das Schüren von Ressentiments folgt, daran erinnert Pruschmann, dem | |
| Playbook des neurechten Vordenkers Götz Kubitschek, der schon 2006 in dem | |
| Text „Provokation“ schrieb: „Unser Ziel ist nicht die Beteiligung am | |
| Diskurs, sondern sein Ende als Konsensform, nicht ein Mitreden, sondern | |
| eine andere Sprache, nicht der Stehplatz im Salon, sondern die Beendigung | |
| der Party.“ | |
| ## Genug Erklärungsansätze dafür, wie die Neue Rechte so dominant werden | |
| konnte | |
| Die Alltagsszenen, Beobachtungen, Satzfetzen, die die drei Reporterinnen | |
| notieren, sind oft stark, stehen für sich. Doch bietet der Band auch genug | |
| Erklärungsansätze dafür, wie die Neue Rechte so dominant werden konnte. Der | |
| Redner einer Bürgerinitiative für Toleranz und Demokratie, ebenfalls im | |
| Erzgebirge, sagt treffend: „Jahrzehntelang haben Ignoranz von oben und eben | |
| auch die jahrelange Gleichgültigkeit von unten uns dahin gebracht, wo wir | |
| jetzt stehen. Deshalb sollten wir nicht mehr schweigen.“ | |
| Der Appell, die Zivilgesellschaft möge nicht mehr bloß dem Ende der | |
| Demokratie beiwohnen, sondern endlich aufwachen, lässt sich aus vielen der | |
| hier versammelten Texte herauslesen. | |
| Stellvertretend für die merkwürdige Apathie im Land steht eine Szene, die | |
| Barbara Thériault in Thüringen kurz vor der Landtagswahl erlebt. | |
| Lokaljournalist:innen sitzen da träge zusammen, nichts kann die | |
| schwere Stimmung, die über dem Zusammensein liegt, aufhellen; auch nicht | |
| ein heruntergefallenes Glas, dessen Inhalt sich über einen der Anwesenden | |
| ergießt. | |
| „Zu gerne würde ich hier berichten, dass der Krach des zersplitternden | |
| Glases irgendwie alle wachgerüttelt und – wie ein Blitz – die Luft | |
| gereinigt hätte, um so endlich den Weg zum Spaß zu eröffnen. Aber nein. Das | |
| Einzige, was gereinigt wurde, war der Boden“, schreibt Thériault. Es wird | |
| so viel mehr kaputtgehen als bloß Glas, denkt man sich während der Lektüre | |
| dieses Bandes des Öfteren. | |
| 17 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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