# taz.de -- „Überlandschreiberinnen“: Ruinen als Vergessmaschinen | |
> Brandenburg steht voll mit ehemaligen Bunkern und Kasernen. Da waren die | |
> Preußen, die Nazis, die Rote Armee. Wie erinnert man daran? | |
Bild: Schützenfest in Luckenwalde und der „Shelter Albrecht“ in Niedergör… | |
Luckenwalde/Jüterbog/Wünsdorf taz | Turbulenter Dorfmorgen in | |
Ostprignitz-Ruppin. Ortsfremde mit Messgeräten werkeln, begleitet von | |
Hundegebell. Einer brüllt: „Keen Empfang!“ Alle Nachbarn lachen. Von hier | |
ins südliche Brandenburg zu gelangen, wird an diesem Tag ebenfalls | |
erschwert. Zugverbindungen sind gesperrt. Also Auto fahren. Über Berlin. | |
Das liegt immer im Weg, egal, wo man hinwill im Land. | |
Heute geht es in den Landkreis Teltow-Fläming: Weite Felder mit verblühten | |
Sonnenblumen, Mais, ein riesiger Windpark. Die Getreideernte ist fast | |
vorüber. Traktoren, umkreist von Rabenvögeln, ziehen schweres Gerät | |
Richtung Horizont. Es riecht nach Erde. Der Abstand zwischen den | |
Ortschaften wird größer. Mit der Entfernung von der Metropole wachsen | |
Leerstand und Verfall. Heruntergelassene Rollläden begleiten die Fahrt, als | |
verschlössen die Dörfer ihre Augen. Es gibt auch nichts zu sehen. | |
In den vergangenen Jahren geriet die Gegend wegen verheerender Waldbrände | |
in die Schlagzeilen. Kiefermonokulturen brannten wie Streichhölzer. | |
Munitionsreste im Boden erschwerten die Löscharbeiten. Die liegen hier | |
überall. Die lange Tradition der heute verlassenen Truppenübungsplätze | |
reicht vom Kaiserreich über die faschistische Wehrmacht bis hin zur Roten | |
Armee. Schlachtfelder unter Sand, Gras und Kieferbewuchs – | |
[1][Explosionsgefahr]. Aus der Asche bricht Mischwald hervor. Als wäre | |
keine Zeit vergangen. | |
Die [2][zivile Umnutzung] der riesigen Areale ehemaliger | |
Militärliegenschaften ist eine Mammutaufgabe für das Land Brandenburg. In | |
Teltow-Fläming ist fast die Hälfte der nicht landwirtschaftlich genutzten | |
Bodenflächen betroffen. Seit bald 35 Jahren versucht man sich an immer | |
neuen Konversionsideen. Kurz nach der Jahrtausendwende etwa wurde hier die | |
längste zusammenhängende Rollstrecke Europas geschaffen – ein | |
Skaterparadies. Die weit verstreuten Kasernenruinen und Bunkeranlagen | |
locken Militärfreaks und [3][Fotografen], waren und sind Kulisse illegaler | |
Partys und Autorennen. Aber für all das gibt es inzwischen auch legale | |
Varianten: Kartbahn, Technoklub im Bunker oder teure Führungen zu den „Lost | |
Places“. | |
## Sauer macht lustig | |
Verlorene Orte. Verrammelte Dorfkrüge, trübe Löschwasserteiche, kein Laden | |
weit und breit. Auffällig die Schönheit der roten Ziegel, die mal hinter | |
herabfallendem Rauputz hervorleuchten, mal ganze Ensembles aus teils | |
intakten, teils brüchigen Gebäuden bilden. An Ortseingängen hängen | |
Gummistiefel als Zeichen des Protests, warnen bemalte Laken: „Stirbt der | |
Bauer, stirbt das Land.“ Es sind auch frisch renovierte Häuser zu sehen, | |
vor denen parken große Autos mit Kennzeichen aus Braunschweig, Frankfurt am | |
Main und Berlin. Die wilden Alleeäpfel wecken schöne Erinnerungen. Wir | |
pflücken. Sauer macht lustig. | |
Vor Luckenwalde weht es die ersten Herbstblätter von den Alleebäumen. Der | |
so typische Anblick einer leeren Innenstadt wandelt sich in einer | |
Nebenstraße. Das Schützenfest hat viele Leute angezogen, die haben sich | |
feingemacht. Seidenkleider neben grünen Uniformen. Bier und Bratwurst für | |
Ergraute, eine Hüpfburg für die Enkel. Die Generation dazwischen ist kaum | |
vertreten. | |
„Angetreten!“ Menschen erheben sich von den Bierbänken. Streben zur Bühne. | |
Schweiß fließt „Marscherleichterung ist befohlen!“ Die Uniformjacken dür… | |
liegen bleiben. „Schützen, rührt euch!“ Meine Sitznachbarin wirkt | |
angefasst. „Ich hab richtig Gänsehaut.“ Sie schnieft und schaut zur | |
Siegerehrung. „Der Adler ist gefallen!“ Der Gewinner des Bürgerschießens | |
trägt unter großem Applaus seine Zielscheibe davon, ein zerschossenes | |
Pappbild. Raubvogel kaputt. Es folgen Ehrungen: Apfelprinz, Prinzessinnen, | |
Kronprinz und viele Medaillen. Ein 95-Jähriger wird bejubelt: „Er schießt | |
noch Wettkämpfe.“ Die Prozedur neigt sich dem Ende zu. Am Nachbartisch | |
kommt Unruhe auf. Sie gilt einem Tisch am Rande. | |
„Dit sind keene Deutschen.“ „Sitzen aba janz still.“ „Sind nur noch | |
Ausländer aufm Boulevard.“ „Du traust dich doch als Weib nicht mehr raus.�… | |
„Bin jespannt, wer bei mir gegenüber einzieht.“ „Na, Schwatte. Zieht een… | |
in, komm’ 20.“ | |
„Legt an!“ Die Stimme des Zeremonienmeisters erlöst. Salutschüsse lassen | |
die Luft vibrieren. „Kanone kommt!“ Zeit zu gehen. | |
## 850 Jahre Jüterbog | |
Das benachbarte Jüterbog ist die zweitälteste Stadt Brandenburgs, davon | |
künden Stadtmauerreste, Kirchen und Klosterbauten. In der Halle der | |
gotischen Nikolaikirche predigte einst Thomas Müntzer gegen die Pfaffen, | |
bevor er die Bauern in die Schlacht führen sollte. Den Aufstand. Das | |
Blutbad. Ihre Niederlage. | |
„850 Jahre Jüterbog“! Die Stadt hat Geburtstag. Bürgermeister Arne Raue | |
wird als parteiloser Kandidat zur Landtagswahl antreten. Die evangelische | |
Kirche stellte sich vor Kurzem in einem offenen Brief gegen ihn – wegen | |
Raues AfD-Nähe. Sein Tun und Lassen spaltet die 12.000-Einwohner-Stadt. | |
Am alten „Russenbahnhof“ war kürzlich ein ICE-Halt geplant. Zur Probe. Was | |
für ein Hoffnungsstrahl! Doch daraus wurde nichts. Das Gebäude vor den | |
Gleisen mit dem dazugehörigen Bunker gehört dem „Frontvogt“, einem | |
Düsseldorfer Militariafetischisten und Online-Händler. Vor Jahren hatte er | |
sich mal in die Luft gesprengt. Hausdurchsuchungen folgten. Verstoß gegen | |
Waffengesetze, in einer Gegend voller Munition im Boden. | |
Über breite Heerstraßen aus preußischem Kopfsteinpflaster fahren wir zum | |
Alten Lager, das 1870 gegründet worden war, um französische Kriegsgefangene | |
unterzubringen. Die Wehrmacht schulte hier später Piloten in Theorie und | |
Praxis. Bis zum Jahr 1992 Sowjetgarnison und Militärflugplatz, ist der | |
Ortsteil der Gemeinde [4][Niedergörsdorf] heute halb Museum, halb | |
Panoptikum der Zeiten. Rote Sterne, Kampfflugzeuge, rostiger Stacheldraht. | |
An der nächsten Tankstelle wanken langhaarige Partygänger barfuß an gut | |
trainierten Glatzköpfen vorbei. Zwischen Karl-Liebknecht- und Lenin-Straße | |
gibt es „Mischka-Eis“, daneben schaut Sahra Wagenknecht mit ihrer | |
Luxemburg-Maske von einem Wahlplakat. Unweit brüllt es von einem | |
Transparent: „Wie lange müssen wir uns eigentlich noch von den Amis und | |
dieser Bundesregierung verarschen lassen? Sofortige Friedensverhandlungen!“ | |
Die Ukraine gibt es für sie nicht. | |
Der anarchistische Pazifist Ernst Friedrich nannte uns Menschen | |
Vergessmaschinen. Auch in der schönen Bücherstadt Wünsdorf vor den Toren | |
Berlins – einst Sitz des Oberkommandos der Gruppe der sowjetischen | |
Streitkräfte in Deutschland – erinnert man sich eher selektiv. Ein Vortrag | |
stellt die Frage: „30 Jahre Truppenabzug – ein strategischer Fehler?“ | |
25 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Manja Präkels | |
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