| # taz.de -- „Überlandschreiberinnen“: Sterne fallen über Cottbus | |
| > Krieg, Abriss, Wegzug – die Stadt hat Lücken. Und Menschen, die dafür | |
| > kämpfen, dass in diesen Lücken Platz für alle entsteht, die hier leben | |
| > möchten. | |
| Bild: Eine Stadt, zwei Sprachen: Deutsch und Sorbisch | |
| Ein sonniger Dorfmorgen in der Ost-Prignitz. Nach der Hunderunde muss ich | |
| los. Der schnellste Weg von hier nach Cottbus führt zunächst mit dem Auto | |
| zum Bahnhof ins 20 Kilometer entfernte Gransee. Weil es dorthin keine | |
| direkte Busverbindung gibt, bräuchte ich ohne Auto vier Stunden für die | |
| ganze Strecke, mit sind es zweieinhalb. Am Wegesrand plakatiert die AfD: | |
| „Endlich Zeit für Meinungsfreiheit!“ Daneben hängt ein geldgieriges grün… | |
| Männchen mit Euro-Hut. So werben die Freien Wähler. | |
| „Scheiß Grüne.“ Noch am Vorabend hatte mir eine alte Nachbarin in den Ohr… | |
| gelegen: „Die schöne Wiese! Früher wurde jemäht. Da konntste allet sehen. | |
| Rehe, Hasen, Schweine. Und jetze? Allet zu mit Schilf. Ick könnt heulen.“ | |
| Und schloss ihren Seufzer wie viele im Land: „Scheiß Grüne.“ | |
| Stau vor Gransee. Gedehnte Zeit. Zug verpasst. Auf dem Parkplatz vorm | |
| Discounter gibt es Kaffee, dünn und heiß. Frauen kaufen. Männer warten. Am | |
| Bratwurststand beim Bier. Hier lila Haare und üppige Formen, dort | |
| großflächige Tätowierungen auf zu dünnen Armen. Zahnlücken überall. Leute | |
| schieben ihre Einkaufwagen wie Gehhilfen vor sich her. Das Leben zeichnet. | |
| Alle. Ein junger Mann, seine Haut ist dunkler als die der meisten, | |
| schleicht geduckt vorbei. Blicke sprechen. Er versteht: „Scheiß Ausländer.�… | |
| Das ehemalige Dieselkraftwerk in Cottbus ist ein dunkler Klinkerbau, dessen | |
| funktionale Schönheit und Strenge im Innern leuchtet. Mit Beginn der | |
| Braunkohleförderung in der Lausitz verlor es 1959 seine Kernaufgabe und ist | |
| seit 2017 einer von zwei Standorten des Brandenburgischen Landesmuseums für | |
| moderne Kunst. | |
| Ich treffe Kunstvermittlerin Christina Rahn. Das Gespräch dreht sich um | |
| Cottbus, Zugehörigkeiten, Utopien. Sie lädt mich ins Magazin ein. | |
| Fotografien aus der DDR [1][senden Grüße aus einer untergegangenen Welt]. | |
| Mit Bildern von starken, auch verletzten Menschen ohne Scheu. Trotzig, | |
| uneindeutig. „Es gab in Cottbus eine queere Szene, Feiern, Travestie …“ | |
| Aber die Erzählungen davon seien mit den einstigen Akteurinnen abgewandert. | |
| Wie daran anknüpfen, die losen Fäden aufheben und verbinden? „Kunst kann so | |
| was leisten.“ | |
| Beim Stöbern in den Zeugnissen gelebten Lebens habe ich die Zeit vergessen. | |
| Taxi? Das wird schwierig. Gerade erst habe ein weiteres Unternehmen | |
| dichtgemacht. Also laufen. Der Himmel reißt auf. Badewetter. | |
| ## Die Subkultur wurde hart erkämpft | |
| Wenn hier jemand Ostsee sagt, ist nicht das Meer gemeint, sondern ein | |
| riesiges Loch, das der Braunkohletagebau Cottbus-Nord hinterlassen hat. Die | |
| Verfüllung mit Wasser aus der Spree dauert seit fünf Jahren an. Viel | |
| Fördergeld und Hoffnung hängt an dem Projekt. Alles tun, damit Menschen | |
| kommen. Die Stadt hat nach dem Mauerfall ein Viertel ihrer Bewohner | |
| verloren. Im Sommer 2018 jedoch siegte der Klimawandel über den | |
| Strukturwandel. Das Trinkwasser in Berlin drohte knapp zu werden. Also | |
| Flutungsstopp in der Lausitz. „Scheiß Berlin.“ Braucht Wasser. „Scheiß | |
| Grüne.“ | |
| Vorm Café Klunker treffe ich Kat mit den grünen Augen. Den Trotz in ihrem | |
| Blick erkenne ich sofort wieder. Kat kommt aus der Gegend von Lübben und | |
| engagiert sich schon lange für die Region, aktuell im [2][Bündnis Unteilbar | |
| Südbrandenburg]. Niederlagen. Siege. Kat erzählt und wirft Anker in die | |
| Zukunft: Ab Oktober können sie mit dem Geflüchtetennetzwerk und einem | |
| Studierendenprojekt der Technischen Universität eine leer stehende | |
| Ladenzeile bespielen. Wenigstens für ein paar Monate Sichtbarkeit, nicht | |
| ortlos sein, sondern Teil des öffentlichen Lebens. | |
| Auch die gigantischen Mondlandschaften, die die Kohleförderung hinterließ, | |
| wollen bespielt werden. Aber statt riesiger Verdunstungsflächen bräuchte es | |
| kleine, tiefe Seen, um Landschaft und Wasserhaushalt nachhaltig zu pflegen. | |
| So wie die bestehenden Bündnisse langfristig ausfinanzierte Strukturen | |
| brauchen, um die politischen und sozialen Abgründe der Region zu befrieden. | |
| Seit Jahrzehnten gilt es hier, gegen gewachsene Nazi-Netzwerke zu bestehen. | |
| „Spreelichter“. „Zukunft Heimat“. Nur die Namen der Gegner wechseln. | |
| Wir besuchen das Chekov im alten Strombad der Stadt – ein alternativer | |
| Klub, der aus den Kämpfen der Neunzigerjahre erwuchs und lebendiger | |
| Subkultur Raum gibt. Die hat es immer gegeben. Wurde hart erkämpft. | |
| „Grüß dich, Genosse.“ Man kennt sich. Austausch drinnen und draußen, auf | |
| Englisch und Deutsch. Unter dem Titel „Winter is coming“ sind Aktivistinnen | |
| aus Ungarn, Polen und Österreich zu Gast, um von ihrer Arbeit zu berichten. | |
| Gegen Armut, geschlossene Grenzen und für das Recht am eigenen Körper. Für | |
| solidarisches Handeln. Von irgendwo in der Nähe drücken Bassbeats in den | |
| Hof. Könnte das Elbenwald-Festival sein. Die Spree fließt dahin. Das alte | |
| Schwimmbad versinkt in Dunkelheit. Mücken schwirren. Stechen. Der Weg zum | |
| Hotel führt über Gleise. Kein Mensch auf den Straßen. Freitagnacht. Ein | |
| Fahrzeug der Volkssolidarität kreist. Häuslicher Pflegedienst rund um die | |
| Uhr. In Cottbus kann man viel Himmel sehen. | |
| ## Faschisierung der Stadt in der Coronazeit | |
| Am nächsten Morgen besuche ich die studentische Kirchengemeinde. Pfarrer | |
| Lukas Pellio bereitet mit Kat das Frühstück für die internationalen Gäste | |
| vor. Die beiden berichten aus ihrem Alltag, zu dem Bedrohungen und viel zu | |
| viel schlecht- oder unbezahlte Arbeit gehören. Ein Lied, das alle singen, | |
| denen ich hier begegne. An der Technischen Universität kommen über 40 | |
| Prozent der Studierenden aus asiatischen und afrikanischen Ländern. Weder | |
| gibt es Wohnheimplätze noch Jobs für sie. Die migrantische Community hat | |
| keinen Treffpunkt, die verschiedenen Kreise berühren sich kaum. | |
| Kat schildert die Faschisierung der Stadt [3][in der Coronazeit]: „Da | |
| trittst du vor die Tür und alle zwei Tage sind Tausende unterwegs, | |
| marschierende Nazis vorneweg.“ Scheiß Grüne. Scheiß Ausländer. | |
| Scheißscheiße … | |
| Fortgehen ist keine Option für Kat. Cottbus ist ihr Zuhause, die Haltung | |
| klar: Du wirst nicht immer mögen, was du siehst, musst aber trotzdem die | |
| Augen aufbehalten und agieren. Was sie sich wünscht? „Na, dass Leute | |
| bleiben. Zurück- oder neu dazukommen. Hier ist vieles unsortiert, unfertig. | |
| Man kann noch gestalten.“ Dafür wird jede gebraucht. | |
| Mittagshitze. Rückweg zum Zug. Kriegszerstörung und Abrissfuror haben | |
| Lücken ins Stadtbild geschlagen. Aus der Tram sehe ich zum ersten Mal | |
| Wahlwerbung für die Schwarze CDU Abgeordnete Adeline Abimnwi Awemo, die | |
| kürzlich beim Plakatieren angegriffen worden war. In der Innenstadt war sie | |
| nicht präsent. Zwei Elbenwesen mit Plaste-Schwertern stürzen aus der | |
| Sparkassenfiliale am Bahnhofsvorplatz. Im Schatten gegenüber nehmen sich | |
| ein paar Nazis saufend selbst aus dem Spiel. | |
| Wieder im Dorf riecht es schon nach Grillfleisch. Der Himmel ist klar. Es | |
| regnet Schnuppen. Einen meiner Wünsche widme ich Kat und dem schönen, | |
| leeren Cottbus. | |
| 12 Aug 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Manja Präkels | |
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