Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- „Überlandschreiberinnen“: Sie hatten so viel Spaß
> Die Stadt ist die, die sie einmal war, und dennoch eine andere. Unsere
> Autorin begibt sich auf eine Reise durch die Zeit mit Ingrid aus Suhl.
Bild: Betriebsfeier in der DDR 19808 und Skisprung im Berggebiet 1956/57
Man empfindet sich selbst nicht so alt, wie andere uns sehen. Das Phänomen
gilt für uns alle. Wie ist das in Suhl, in der Stadt mit dem höchsten
Anteil an älteren Menschen in ganz Deutschland? Ein Gedankenexperiment.
„Wir haben so viel Spaß gehabt!“, meint die zweiundsiebzigjährige Ingrid
begeistert.
Wir sitzen auf der Terrasse einer Kneipe am neu gepflasterten Boulevard in
Suhl. Ich bin zehn Tage in der Stadt und weiß schon, wer wann wo was trinkt
– und die Suhler:innen wiederum, wo ich mit wem wann was trinke. Schnell
hat man hier die Gaststätten und deren menschliches Inventar erkundet.
Ingrid redet ausgiebig. Ich höre ihr zu und schaue mich dabei um. Wie jeden
Tag beobachte ich dasselbe: alte Menschen, die in der Altstadt unterwegs
sind. Der Rollator prägt längst das Bild vieler Städte Thüringens, vor
allem vormittags, wenn deren Schieber:innen kurze Wege langsam
erledigen. Als Ingrid wiederholt: „Was meinst du, wie viel Spaß wir
hatten!“, wage ich ein Experiment: Ich versuche, mir die Bewohner:innen
vorzustellen, als sie jünger waren: schlanke Männer mit vollen Haaren,
Frauen mit zierlichen Füßen und gerader Körperhaltung. In manchen von ihnen
erkenne ich das Jugendliche, das bis in die Gegenwart strahlt. Sie werden
anders sichtbar, als Einzelne.
## Ingrid schlägt mir ein Experiment vor
Ich sollte nicht umherschauen, sondern ihr meine ganze Aufmerksamkeit
widmen, fordert Ingrid. Sie erzählt von aufwändigen Frisuren und eleganten
Anziehsachen, Cocktailkleidern sogar, die sie in den 1980er Jahren trug.
Mit einer Hand streicht sie sich durchs Haar. Sie schaut selbst umher und
prüft, wer gerade auf der Hauptstraße entlanggeht. Sie winkt eine Bekannte
mit schneeweißer Kurzhaarfrisur herbei. Sie schwatzen kurz über die neusten
Neuigkeiten. Als die Frau weg ist, erfahre ich über sie: 85, Ingenieurin
a.D. Zusammen waren sie an der Riviera, haben viel erlebt: Männer- und
Alkoholgeschichten. „Ich zeige dir später Bilder,“ sagt Ingrid, die immer
Beweismaterial bereitstellen möchte. Nun fällt mir ein Detail bei der
Bekannten auf, das ich nicht gleich bemerkt habe: ihre gemalten – ich
vermute sogar tätowierten – Augenbrauen. Auf einmal passiert etwas: Ich
sehe die junge Frau, die sie einmal war, und die Kokette, die sie noch ist.
Zwei angetrunkene Männer um die Siebzig in Jeans und T-Shirts setzen sich
zu uns. Ingrid verdreht die Augen, fängt aber trotzdem mit dem „Wir haben
so viel Spaß gehabt!“ an und macht dann weiter mit: „Wenn ich daran denke,
kriege ich ganz rote Backen.“ Binnen Sekunden ist die Konversationsmaschine
in vollem Gang. Man bestellt eine neue Runde und erzählt von früher, von
abenteuerlichen Geschichten und Partner:innen – einige davon sind schon
verstorben. Ingrid hatte eine Affäre mit einem ausländischen
Leistungssportler, ist tollen Frauen begegnet. Es wird ein bisschen
anzüglich. Das ganze Kneipenpublikum hört als flüchtige Gemeinschaft der
schlüpfrigen Geschichte eines der angetrunkenen Männer zu.
Als die beiden Männer weg sind, macht mir Ingrid Vorhaltungen; das Publikum
schaut weiter gespannt zu: Ich hätte die beiden dazu animiert, bei uns
Platz zu nehmen. Sie wären einfach peinlich. Auch sie macht bei meinem
Gedankenspiel mit und fällt dabei ein Urteil, das kein schönes Licht auf
die Vergangenheit wirft: Die zwei angetrunkenen Männer sind nicht
attraktiv, auch als junge Männer seien sie es nicht gewesen.
Das Experiment kann man auf Menschen, aber auch auf Städte und deren Orte
anwenden.
## Manche alte Orte existieren noch
Suhl ist die gleiche Stadt, die sie einmal war, und dennoch eine andere. In
den 1990er Jahren zogen viele ihrer jüngeren Einwohner:innen weg und
die Gebliebenen bekamen weniger Kinder. Von 56.000 Einwohner:innen Ende
1988 sind es 37.000 Ende 2023 geworden. Ein Drittel der Stadtbevölkerung
ist älter als 65 Jahre.
Trotz aufwändiger Sanierungsarbeiten nach 1990 scheint Suhl über den Zenit
seiner Zeit hinaus zu sein. Es ist keine Bezirksstadt mehr mit Verwaltung,
Industrie, einer Offiziersschule, Hotels und Sporteinrichtungen. Die
Verjüngung mancher Stadtteile ging einher mit dem Rückbau anderer. Das
Wohnviertel, in dem Ingrid über 30 Jahre lebte, wurde größtenteils
abgerissen.
Manche Orte – wie die Kneipe in der Altstadt, wo wir gerade trockenen
Weißwein trinken – existieren noch. Ich suche sie auf und schaue mir alte
Fotografien an, aber sie erschließen sich mir nicht. Ingrid und ihre
Bekannten haben jedoch die – durch den Alkohol verstärkte – Fähigkeit,
diese Orte und ihre Auren durch ihre Erinnerungen, Gedächtnisbilder und
Erzählungen heraufzubeschwören und ihnen einen Glanz zu verleihen, der für
auswärtige Betrachter:innen nicht ersichtlich ist: DDR-Schick in Form
von Gaststätten und Kaminen in Hotelbars, wo Erfolge und Misserfolge von
Weltmeisterschaften im Schießen oder im Rennrodeln mit Rotkäppchen-Sekt
gefeiert wurden.
Wenn eine auswärtige Person wie ich bemerkt, dass alte Menschen das Bild
Suhls – und anderer ostdeutscher Städte – prägen, reagieren diese Menschen
oft empfindlich. Die Bemerkung wirkt befremdlich. Man muss verstehen: Sie
selbst empfinden sich nicht so alt, wie wir Betrachter:innen sie sehen.
Wenn hiesige Frauen und Männer über Siebzig über alte Menschen reden,
meinen sie nicht sich selbst, sondern noch ältere. Anders formuliert: Wenn
sie sich die eigene Stadt und ihre Bewohner:innen ansehen, sehen sie
etwas, was uns weitgehend verborgen bleibt. In der Diskrepanz zwischen der
von der Statistik gestützten Beobachtung über die Alterung der Bevölkerung
und ihrer Selbstbetrachtung liegt eine Irritationsquelle und möglicherweise
der Wunsch, gesehen zu werden.
Trotz Zweifeln an manchen Details (trug Ingrid wirklich Cocktailkleider?)
und mitunter des Scheiterns meines Experiments (bei manchen Personen und
Orten lässt sich kein Bild von früher heraufbeschwören) ist eins sicher:
Meine neuen Bekanntschaften können sich amüsieren, ein Fünkchen von früher
ist noch da. Wie heute Abend. Beim Verlassen des Lokals kommt ein Mann zu
unserem Tisch, der uns den ganzen Abend belauscht hat. Wie nach einer
Aufführung möchte er sich bedanken. Ja, er hätte viel Spaß gehabt.
7 Aug 2024
## AUTOREN
Barbara Thériault
## TAGS
Strukturwandel
Thüringen
Wahlen in Ostdeutschland 2024
Altern
wochentaz
Wahlen in Ostdeutschland 2024
Kultur in Berlin
Strukturwandel
Diversität
Brandenburg
Wahlen in Ostdeutschland 2024
## ARTIKEL ZUM THEMA
Landtagswahl in Thüringen: Zwischen Höcke und Wagenknecht
In drei Wochen wählt Thüringen. Die CDU will an die Macht – ohne AfD und
Linke. Aber mit wem dann? Unterwegs in einem komplizierten Wahlkampf.
Poetry Slammer über seine Branche: „Literatur auf die Straße bringen“
Wolf Hogekamp hat Poetry Slams in den 90ern nach Deutschland geholt. Unser
Autor ist Slam Poet und mit ihm befreundet. Ein Generationengespräch.
„Überlandschreiberinnen“: Sterne fallen über Cottbus
Krieg, Abriss, Wegzug – die Stadt hat Lücken. Und Menschen, die dafür
kämpfen, dass in diesen Lücken Platz für alle entsteht, die hier leben
möchten.
„Überlandschreiberinnen“: Eine Zuggesellschaft
Berlin ist gar nicht der kosmopolitischste Ort des Landes, schreibt unsere
Autorin. Sondern ein Regionalzug in Thüringen.
„Überlandschreiberinnen“: Unsortiert im Hinterland
Drei Schriftstellerinnen dokumentieren Ihre Reisen durch Ostdeutschland vor
den Wahlen. Manja Präkels beobachtet Rheinsberg in Brandenburg.
„Überlandschreiberinnen“: Von Dingen, die nötig sind
Drei Schriftstellerinnen erzählen in den kommenden Wochen in der taz von
ihrem Alltag in Ostdeutschland. Den Auftakt macht Tina Pruschmann.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.