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# taz.de -- „Überlandschreiberinnen“: Eine Zuggesellschaft
> Berlin ist gar nicht der kosmopolitischste Ort des Landes, schreibt
> unsere Autorin. Sondern ein Regionalzug in Thüringen.
Bild: Bahnhof in Suhl
Es war am Mittwochabend um 21 Uhr 16. Der Regionalexpress 50 von Erfurt
über Zella-Mehlis nach Meiningen wartete am Erfurter Hauptbahnhof. Junge
Männer und vereinzelte Menschen mittleren Alters drückten sich in den engen
Waggons zusammen.
Viele der Reisenden waren unterwegs in Richtung Thüringer Wald zur
Erstaufnahmeeinrichtung. Es schienen keine Mitarbeiter einer vom Land
beauftragten Sicherheitsfirma den Zug zu begleiten, wie es manchmal
passiert. Ich drängte mich in die Menschenmasse hinein. Es duftete wie in
einem Barbershop.
Ich fand einen Platz neben einem Mann: um die fünfzig, groß und sportlich,
kurzes straßenköterblondes Haar, lokale Mundart. Eigentlich unauffällig,
wäre da nicht das Buch mit grauem und blauem Einband, in dem er gerade las.
Im von Sitzen gebildeten Viererabteil des Großraumwaggons war auch ein
junges Paar, das Ukrainisch sprach und auf Handys hantierte. Das Mädchen
hörte laut Musik, ohne Kopfhörer. Das störte, aber wir unterdrückten
jegliche Kommentare und Körperregungen. Ich sage „wir“, weil es sich so
anfühlte, als ob der Mann an meiner Seite, die beiden Jugendlichen und ich
eine Familie bildeten. Von außen mag es sogar so gewirkt haben: wie Eltern,
die meinen, es mit Teenagern geduldig aushalten zu müssen.
Ich arbeitete am Laptop. Ich musste einen Artikel für die Lokalzeitung
fertig schreiben. Es ging um eine Frau aus der Stadt, die in Deutschland
als Ärztin viel geleistet hat, aber eine hohe Auszeichnung für ihr
medizinisches Engagement in einem afrikanischen Land verliehen bekommen
hatte. Trotz nahender Deadline konnte ich nicht umhin wahrzunehmen, was um
mich herum passierte.
## Die Kultur der Barbershops hält Einzug in die Provinz
Links neben unserer „Familie“ saß noch ein Mann auf der anderen Gangseite.
Er musste Mitte vierzig gewesen sein, deutschsprachig, hatte einen
geschorenen Kopf und aufgepumpte Muskeln, die durch enge Jeans und T-Shirt
deutlich zur Geltung kamen. Bevor der Zug aus dem Bahnhof rollte, nahmen
noch zwei Männer bei ihm Platz. Der Durchtrainierte grüßte sie
überraschenderweise mit „Salam aleikum“, das etwas gleichgültig mit
„Aleikum salam“ erwidert wurde. Guck an, dachte ich, die Kultur der
Barbershops hält Einzug in die Provinz. Mit ihrer coolen Lässigkeit ziehen
die Barbershops an. Dort begegnen sich Männer, die sonst nicht ohne
Weiteres zusammenkommen würden.
Der Muskelmann presste mit den Fingern ein Gerät, einen Handtrainer. Er
schaute sich dabei Videos auf Whatsapp an, zum Teil laut. Es ging um
Respekt. „Respekt, aber nicht vor den Mitreisenden“, erlaubte sich der Mann
an meiner Seite einen Kommentar. Die Augen auf ihre Handys gerichtet,
unterhielten sich die beiden Teenager bei laufender Musik. Einer der zwei
auf Arabisch gegrüßten Männer fummelte mit leeren Bierdosen und Flaschen in
einem Rucksack, es raschelte. Allerhand Sprachen waren zu hören, vor allem
Arabisch, aber auch Kurdisch, Ukrainisch, sogar meine Muttersprache, was
mich erfreute. Es herrschte ein fröhliches Durcheinander.
„Du lässt mich gleich raus, ja?“, forderte der Durchtrainierte seinen
Sitznachbarn später auf. Letzterer verstand wenig Deutsch, brabbelte etwas,
wollte sich wohl über ein mögliches geteiltes Interesse und
Berührungspunkte unterhalten: Fitnessstudios. Er erwähnte, dass er aus
Tunesien komme, aber seine Geschichte wurde er nicht los.
## Eine traurige Geschichte fröhlich erzählt
Als sein Nachbar in Zella-Mehlis ausstieg, sprach ich den Mann auf
Französisch an. Ich hörte mir seine Geschichte an. Er spulte ab, was er
bestimmt immer erzählt: Er sei jung, lebe in der Erstaufnahmeeinrichtung,
seine Aussichten seien nicht gut, er wolle bloß eine Chance bekommen. Er
vertraue auf Gott. Eine traurige Geschichte, die dennoch fröhlich erzählt
wurde.
Wir näherten uns dem Suhler Bahnhof. Der junge Tunesier wurde von einem
Mitreisenden mit festem Handschlag und liebevollem Druck verabschiedet:
„Mach’s gut, Habibi.“
Bevor ich – zusammen mit den zwei Teenagern und mehreren jungen Männern –
den Zug verließ, drehte ich mich zu meinem Sitznachbarn um und kommentierte
hingerissen: „Ist das nicht der kosmopolitischste Ort überhaupt, viel mehr
als Berlin?“
## Normal unter Menschen
Er machte große Augen, mochte etwas sagen. „Ich fahre selten Zug,“ fing er
an, sich zu erklären. „So was kenne ich nicht …“ – „Es ist nicht wie…
Berichterstattung oder in den Kommentarspalten dargestellt wird. Gestern
war in einem Nachrichtenportal die Rede von ‚Angst-Zug‘ “, quatschte ich
dazwischen. Als Frau habe ich überhaupt keine Angst.“ – „Ja“, sagte er
weiter zögerlich, „aber manche vielleicht schon.“ – „Was lesen Sie?“,
fragte ich unvermittelt und wies auf das Buch mit dem grauen und blauen
Einband.
Der Zug fuhr schon in den Bahnhof ein. Ich musste los, er musste bleiben.
Das war unsere Geschichte: Wir trafen zusammen, um auseinanderzugehen.
Am Bahnhof teilte sich die Zuggesellschaft. Der Junge aus Tunesien, der
seine Chance haben will, und ich tauschten unsere Instagram-Accounts aus.
Das Leben trennte uns an dieser Stelle, ihn brachte ein Bus weiter in den
Wald am Rand der Stadt, mich meine Füße in die Altstadt.
Über so eine Zugfahrt berichtet die Lokalzeitung nicht – zumindest noch
nicht. Die Zeitungsleser:innen, die von mir porträtierte ausgezeichnete
Ärztin und die hiesigen Journalist:innen gehören zur Fraktion der
Autofahrenden. Mit der Bahn fahren sie nicht und haben wenig Ansporn, es zu
tun.
Wider Erwarten begegnete ich ein paar Tage später doch noch einmal zufällig
dem Mann aus dem Zug, nicht dem einsamen Leser, sondern dem jüngeren Mann
aus Tunesien, diesmal mitten im Wald. Ich war mit dem Fahrrad von der
Lokalzeitungsredaktion, die ihren Sitz unweit der Erstaufnahmeeinrichtung
im Wald hat, zu einem Termin in die Stadt unterwegs. Er ging allein zum
Bahnhof, um nach Erfurt zu fahren. Dort wollte er sich auf dem Anger, am
Domplatz oder an anderen Plätzen und öffentlichen Orten, deren Namen er
sich nicht gemerkt hatte, aufhalten: die Stadtatmosphäre genießen, Freunde
treffen, einfach normal unter Menschen sein und, wie ich später sah,
Selfies auf Instagram posten.
23 Jul 2024
## AUTOREN
Barbara Thériault
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