# taz.de -- „Überlandschreiberinnen“: Erinnern an die Gewalt des NSU | |
> Kosmonaut Sigmund Jähn ist in seinem Geburtsort in Sachsen omnipräsent, | |
> aber über das Zuhause des NSU-Trios wächst Gras. Wie erinnert man an | |
> Terror? | |
Bild: Die Deutsche Raumfahrtausstellung in Morgenröthe-Rautenkranz (links) und… | |
Morgenröthe-Rautenkranz und Zwickau taz | Busfahrer oder Raumfahrer: Wofür | |
würden Sie sich entscheiden, wenn Sie die Wahl hätten?“, frage ich die Dame | |
im Museumsshop, als ich ihr das Geld für den Lolli in die Schale lege, aus | |
dessen Inneren der Planet Erde aus buntem Zucker hervorfunkelt. Dem Effekt | |
kann ich nicht widerstehen, schließlich bin ich in der Deutschen | |
Raumfahrtausstellung in Morgenröthe-Rautenkranz, dem Geburtsort des ersten | |
deutschen Raumfahrers Sigmund Jähn. | |
Schon auf dem Ortseingangsschild grüßt ein Maskottchen im Astronautenanzug, | |
die Bäckerei mit Ausschank nennt sich Space-Café, und einen Steinwurf von | |
der Ausstellung entfernt schickt der „Weltraumbahnhof 1875“ seine Pensions- | |
und Cafégäste im Jules-Verne-Stil auf eine retrofuturistische Zeitreise. | |
Die Museumsdame überlegt, bevor sie antwortet. „Ach, in meinem Alter“, sagt | |
sie. Was ich aber sehe, ist das Leuchten in ihren Augen. Sie würde schon | |
gern einmal ins Unbekannte ziehen, denke ich, dorthin, wo auf den | |
mittelalterlichen Karten die Drachen saßen. Hic sunt dracones. Hier sind | |
Drachen. | |
Im 35 Kilometer entfernten Zwickau ist dagegen etwas von der Karte | |
verschwunden: Die Adresse Frühlingsstraße 26, im Ortsteil Weißenborn, wo | |
die Rechtsterroristen des Nationalsozialistischen Untergrunds Beate | |
Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos ein nahezu bürgerlich anmutendes | |
Leben lebten, zeigt Google Maps nicht mehr an. Auch sonst erinnert an | |
diesem Ort nichts an den NSU. Wo das Haus stand, wachsen Gras und Gebüsch. | |
## Eine Frau mit schwarzgefärbten Locken | |
Ich erinnere mich, dass ich mich nach der Selbstenttarnung des Trios im | |
Herbst 2011 vom Bild der Beate Zschäpe kaum abwenden konnte. Nicht nur, | |
weil sie so alt ist wie ich und wie ich aus Thüringen stammt. Es gibt eine | |
Aufnahme von ihr, auf der sie sich mit beiden Händen die schwarzgefärbten | |
Locken im Nacken zusammenstreicht, und alles an ihr: der Blick, die Haare, | |
die Geste erinnert mich an mein eigenes jugendliches Ich der 1990er Jahre. | |
Bist du links oder rechts?, war damals eine häufig gestellte Frage an uns; | |
als ich ins Herz der Leipziger autonomen Szene nach Leipzig-Connewitz zog, | |
entschied sich Zschäpe für den Nationalsozialismus, dessen Verbrechen des | |
Holocaust geschichtlich präzedenzlos ist. | |
Es ist der menschliche Abgrund, der immer wieder neu kartiert werden muss, | |
und die Stadt Zwickau entschied sich, dafür das Haus in der Frühlingsstraße | |
abzureißen und Gras wachsen zu lassen. Man wolle keine Pilgerstätte für | |
Neonazis schaffen, so die Begründung. Wären nicht verschiedene | |
zivilgesellschaftliche Akteur:innen, wüchse das Gras nicht nur auf dem | |
Gelände des ehemaligen Wohnhauses, sondern auch auf dem Gelände der | |
Erinnerung. | |
Einer dieser Akteure ist Jörg Banitz. Für viele ist er Bani. Der | |
Sozialarbeiter arbeitet seit 2019 am Soziokulturellen Zentrum Altes | |
Gasometer in Zwickau mit Kindern und Jugendlichen. Die [1][Bildungs- und | |
Jugendarbeit] begleitet ihn aber schon seit seiner Jugend, zunächst | |
ehrenamtlich, später nach seinem Sozialpädagogik-Studium hauptamtlich. Nach | |
seiner ersten Ausbildung als Maschinist in der Uranaufbereitung bei der | |
SDAG Wismut war er zunächst in oppositionellen Kirchenkreisen und | |
Umweltgruppen aktiv. | |
Offene Jugendarbeit bedeutete damals, am Beispiel konkreter Themen wie dem | |
Nato-Doppelbeschluss oder dem Kalten Krieg ein Geschichtsverständnis zu | |
entwickeln, das im Kontrast zum DDR-Duktus stand. Mit einem rechten | |
Meinungsbild sah er sich zum ersten Mal noch zu DDR-Zeiten konfrontiert, | |
als in der Ausstellung „Gesichter des Krieges“, die in der Zwickauer | |
Marienkirche über das Leid des Ersten Weltkriegs erzählte, immer wieder | |
Stimmen laut wurden, die den Krieg und die kriegerische Männlichkeit | |
feierten. | |
## „Wir dachten, die Baseballschlägerjahre sind vorbei“ | |
In den 1990er Jahren habe dieses Männlichkeitsbild den Boden für | |
Neonazistrukturen und die Baseballschlägerjahre bereitet. Die | |
Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011 hat Bani dennoch kalt erwischt. | |
„Selbst wir, die wir uns mit Rechtsextremismus beschäftigten, dachten, die | |
Baseballschlägerjahre seien vorbei. Die Zivilgesellschaft hat sich | |
einlullen lassen“, sagt er rückblickend. | |
Ich frage Bani, ob der NSU seine Bildungsarbeit verändert hat. Ja, sagt er. | |
Noch genauer als zuvor achte er jetzt auf die Fakten- und Quellenlage. Er | |
will nichts mehr übersehen. Was das bedeutet, vermittelt ein Workshop zum | |
Thema NSU, den er gemeinsam mit Ethiklehrerin Franziska Laube für | |
Schüler:innen der 11. Klasse des Clara-Wieck-Gymnasiums gibt. Bereits am | |
ersten Workshop-Tag erfahren die Jugendlichen jede Menge Details zum | |
NSU-Komplex: über die Opfer, das Tätertrio, das Unterstützernetzwerk – vor | |
allem in Zwickau, die Entwicklung der [2][rechtsextremistischen Szene] | |
seit den 1990er Jahren, die NSU-Ermittlungen und die Rolle der | |
Verfassungsschutzämter. | |
In ihrem Vortrag achten die beiden sehr darauf, herauszustellen, was als | |
gesichertes Wissen gilt, weil es dokumentiert ist, was nach der | |
Zusammenschau der Quellen naheliegt und was nur vermutet werden kann. Ihnen | |
ist wichtig, sich mit dem Leid der Opfer auseinanderzusetzen, sagt | |
Franziska Laube, und dennoch wolle sie auch die Täterorte nicht aussparen: | |
„Man darf das nicht einfach so mit der Haltung abtun, na ja, dort wohnen | |
jetzt eben andere Leute.“ | |
Die Teilnehmer:innen ihres Workshops waren zum Zeitpunkt der | |
NSU-Selbstenttarnung vier oder fünf Jahre alt. Einer von ihnen, Felix, | |
erzählt, dass er vom NSU zwar schon gehört hat, die Geschichte aber nicht | |
in ihrer Komplexität kennt. | |
## Überall NS-Schriftzüge | |
Für die Jugendlichen bietet der Workshop die Möglichkeit der Erstkartierung | |
dieses [3][Teils der jüngeren Stadtgeschichte]. Dass die | |
Baseballschlägerjahre wiederkehren könnten, spürt er aber schon: „Man sieht | |
überall NS-Schriftzüge, und in Hartenstein gibt es mit der Hartensteiner | |
Jugend als Anspielung auf NS-Jugend ein neues Spraymotiv“, erzählt er. „Das | |
wird immer präsenter.“ An den folgenden zwei Tagen werden sich er und seine | |
Mitstreiter:innen mit dem Quellenmaterial auseinandersetzen und | |
Antworten auf ganz eigene Fragen finden. | |
Auf die Frage: Busfahrer oder Raumfahrer? antwortet Franziska Laube: | |
Busfahrerin, weil der Beruf in sozialer Hinsicht nah an dem der Lehrerin | |
ist. Bani und Felix entscheiden sich für Raumfahrer. Felix würde sich gern | |
auf eine Ausschreibung der Europäischen Raumfahrtagentur bewerben, um | |
unerforschte Gebiete zu bereisen. | |
Und vielleicht sitzen die Drachen ja gar nicht auf unbekanntem Terrain, | |
sondern vielmehr dort, wo das Gras des Verdrängens, des Ausweichens, des | |
Ablenkens wächst. Zum Beispiel auf dem Rasen in der Zwickauer | |
Frühlingsstraße 26, wo einst das Haus stand, in dem drei Rechtsterroristen | |
wohnten und ihre mörderischen Ausflüge planten. Hic sunt dracones. | |
21 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Tina Pruschmann | |
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