| # taz.de -- Folgen von Kürzungen in Berlin: Leere Stühle, leere Kassen | |
| > Berlin spart massiv an der sozialen Infrastruktur. Dabei sind Ausgaben im | |
| > Sozialbereich eine Investition, die sich auszahlt, wie eine neue Studie | |
| > zeigt. | |
| Bild: Betreutes Wohnen für psychisch erkrankte Menschen (Archivbild): Die Nach… | |
| Berlin taz | Klaus ist wütend. Seit 15 Jahren singt er im Chor der Kontakt- | |
| und Beratungsstelle (KBS) von Pinel in Schöneberg, einem Anlaufpunkt für | |
| Menschen mit psychischen Erkrankungen. „Die heilsame Wirkung bemerke ich | |
| bei jeder Probe“, erzählt Klaus – also jede Woche, derzeit trifft sich der | |
| Chor so oft. Doch damit könnte bald Schluss sein und deshalb ist Klaus so | |
| sauer. Denn der Bezirk Tempelhof-Schöneberg, der die KBS bislang | |
| finanziert, hat ab 2026 [1][kein Geld mehr für die Einrichtung eingeplant]. | |
| Bislang erhielt der Träger Pinel vom Bezirk 165.000 Euro pro Jahr für | |
| [2][die KBS im S-Bahnhof Schöneberg]. Eine Summe mit viel Wirkung: Von | |
| Montag bis Freitag können sich Menschen dort ohne große Hürden Hilfe suchen | |
| – etwa wenn sie sich einsam fühlen, psychisch erkrankt sind oder andere | |
| soziale Probleme haben. Rund 4.000 Mal wurde das im Jahr 2024 in Anspruch | |
| genommen. Außerdem stellt Pinel mit dem Geld ein umfangreiches Programm auf | |
| die Beine: zum Beispiel Yoga, eine Kunstgruppe und eben den Chor. | |
| Wenn Pinel die KBS im S-Bahnhof schließen muss, gibt es künftig im gesamten | |
| Bezirk Tempelhof-Schöneberg nur noch zwei solcher niedrigschwelligen | |
| Anlaufstellen. Dabei ist jetzt schon die Nachfrage für psychosoziale | |
| Beratung und Hilfe [3][viel höher als das Angebot]. Und das hat Folgen, | |
| erklärt Klaus: „Vereinzelung und Vereinsamung führen zu gesundheitlichen | |
| Problemen. Die Leute fangen dann zum Beispiel an, Alkohol zu trinken. Und | |
| das kommt die Gesellschaft am Ende viel teurer zu stehen.“ | |
| Die KBS ist nicht das einzige psychosoziale Angebot, das der angespannten | |
| Haushaltslage zum Opfer fällt. Betroffen ist auch eine Frauenalkohol- und | |
| Medikamentenberatungsstelle sowie ein Projekt, das Menschen mit psychischen | |
| Erkrankungen sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten bietet, teilt | |
| Tempelhof-Schönebergs Bezirksstadtrat Oliver Schworck mit. | |
| ## Jahr für Jahr bangen soziale Träger um ihre Existenz | |
| Auch in anderen Bezirken kommt es zu Kürzungen der psychosozialen Angebote. | |
| Eine Sprecherin vom Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf spricht von „massiven | |
| Einschränkungen der ambulanten Versorgung“, die sich durch Kürzungen in | |
| Höhe von 200.000 Euro ergeben. Friedrichshain-Kreuzberg beklagt ein Minus | |
| von 160.000 Euro. | |
| Dass die niedrigschwelligen, psychosozialen Angebote von den Kürzungen | |
| betroffen sind, liegt an dem Finanzierungsmodell. Die bedrohten Projekte | |
| fallen in den sogenannten „Zuwendungsbereich“. Das heißt, Jahr für Jahr | |
| müssen die Träger Mittel beantragen, vorausgesetzt, die notwendigen Gelder | |
| werden im Haushalt beschlossen. | |
| „Es ist frustrierend, wie oft wir den entscheidenden Vorteil dieser | |
| wohnortnahen, ambulanten Versorgung, die einen präventiven Charakter hat, | |
| erläutern müssen“, klagt Caroline Böhm vom Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf, | |
| mit jedem Doppelhaushalt kämpfe der Bezirk erneut um die Mittel. | |
| Kürzungen im Sozialbereich sparen vielleicht kurzfristig Geld, doch richten | |
| sie langfristig große Schäden an, warnen Expert:innen immer wieder im | |
| Zuge der Haushaltsdebatte. Doch lässt sich der Betrag quantifizieren und in | |
| einer Euro-Summe ausdrücken? Dieser Frage versuchte der Bezirk Pankow | |
| zumindest in Teilen zu beantworten. Am Montag stellte der Bezirk im | |
| Pfefferberg im Prenzlauer Berg zusammen mit acht Sozialunternehmen eine | |
| Studie zum gesellschaftlichen Mehrwert sozialer Arbeit im Bezirk vor. | |
| Das Ergebnis der Studienautoren Bernd Halfar und Jürgen Zerth: Für jeden in | |
| soziale Angebote investierten Euro, der 2023 im Bezirk Pankow investiert | |
| wurde, flossen 51 Cent zum Bezirk zurück. Die Summe errechnet sich aus den | |
| Sozialabgaben und Steuern, die sich aus den Gehältern der Beschäftigten | |
| ergeben. | |
| Weitere Rückflüsse ergeben sich durch Konsumausgaben der Beschäftigten | |
| (samt Mehrwertsteuer). Ein wesentlicher Faktor sind auch Vorleistungen, die | |
| die Träger bei anderen Unternehmen in Anspruch nehmen. So benötigt eine | |
| betreute Wohneinrichtung Reinigung, Catering und Inneneinrichtung. | |
| In einem weiteren Schritt versuchten sich die Autoren der Frage zu nähern, | |
| welche gesellschaftlichen Auswirkungen die Angebote haben. Dazu wurde | |
| berechnet, wie viel Arbeitszeit Angehörige betreuungsbedürftiger Menschen | |
| durch Einrichtungen wie behinderten Werkstätte oder betreutes Wohnen | |
| gewinnen. | |
| Dabei ist der Betrag noch recht konservativ berechnet, erklärt Jürgen | |
| Zerth. Nicht mit enthalten seien die präventiven und langfristige Effekte | |
| der Angebote, etwa wenn ein Mensch in Krisensituation die eigene Wohnung | |
| behalten kann. „Wir befinden uns mit der Analyse auf der untersten Ebene | |
| der Treppe“, sagt Zerth. | |
| „Wir wissen natürlich, dass unsere Arbeit wirkt“, sagt Anne Jeglinski, | |
| Geschäftsführerin des paritätischen Wohlfahrtsverbands bei der Vorstellung | |
| der Studie. Doch „in der aktuellen Haushaltsdebatte müssen wir viel mehr an | |
| Daten, Zahlen und Fakten liefern“. | |
| Die Erkenntnis, dass Kürzungen wie bei den psychosozialen Angeboten | |
| langfristig nur mehr Kosten verursachen, ist auch schon in die | |
| Senatsverwaltung für Finanzen durchgedrungen. „Finanzpolitisch ist es schon | |
| von Interesse, präventiv zu arbeiten“, sagt Verwaltungsbeamte Melanie | |
| Rubach bei einer Diskussion im Anschluss der Vorstellung, „aber | |
| haushaltspolitisch ist es sinnvoller, kurzfristig zu arbeiten“. Dieser | |
| Widerspruch müsse in Zukunft besser aufgelöst werden. | |
| Die Studie des Bezirks offenbart auch, dass der Zuwendungsbereich extrem | |
| ineffizient ist. Bei zuwendungsfinanzierten Projekten beträgt der Rückfluss | |
| statt 51 Cent pro Euro nur 33 Cent. „Die soziale Rendite versinkt in | |
| Anträgen und Überprüfungen“, erklärt Studienautor Bernd Halfar. | |
| Projekte wie Kontakt- und Beratungsstelle in Schöneberg sicher und | |
| langfristig zu finanzieren, würde nicht nur Klaus freuen, sondern wäre auch | |
| aus ökonomischer Perspektive sinnvoll. „Die Politik sollte | |
| unternehmerischer und langfristiger denken“, fordert Harald Thiel, | |
| kaufmännischer Vorstand der Stephanus Stiftung auf dem Podium. | |
| 29 Sep 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kuerzungen-in-Berlin/!6101988 | |
| [2] https://www.pinel.de/angebote/kontakt-und-beratungsstelle/ | |
| [3] /Traumareferentin-zu-Aschaffenburg/!6064606 | |
| ## AUTOREN | |
| Jonas Wahmkow | |
| Hanno Fleckenstein | |
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