| # taz.de -- USA-Geschichtsklassiker auf Deutsch: Geschichte entzündet sich an … | |
| > Howard Zinns „Eine Geschichte des amerikanischen Volkes“ ist das | |
| > wichtigste Gegen-Geschichtsbuch der USA. Es liegt jetzt in deutscher | |
| > Übersetzung vor. | |
| Bild: Howard Zinn erzählt aus der Perspektive von Arbeitern, Sklaven oder Indi… | |
| Als Matt Damon in dem Film „Good Will Hunting“ aus dem Jahr 1998 das erste | |
| Mal auf Robin Williams trifft, kommt es zu einem Dialog über ein Buch. | |
| Damon spielt Will Hunting, ein 20-jähriges Genie, das sich gern besäuft und | |
| prügelt, Williams spielt einen Therapeuten. Bei ihrem ersten Treffen schaut | |
| sich Damon das Bücherregal von Williams an und entdeckt „Die Geschichte der | |
| Vereinigten Staaten von Amerika, Band 17“. Er murmelt: „Oh Gott … Wenn Sie | |
| mal ein richtiges Geschichtsbuch lesen wollen, lesen Sie ‚Eine Geschichte | |
| des amerikanischen Volkes‘ von Howard Zinn – das haut Ihnen den Arsch weg.�… | |
| Ob das denn besser sei als [1][Noam Chomskys] „Manufacturing Consent“, will | |
| Williams wissen. Damon antwortet: „Bei euch Vögeln fällt mir nix mehr ein. | |
| Ihr schmeißt ’ne Menge Geld für irgendwelche Schinken aus dem Fenster – u… | |
| dann sind es auch noch die falschen Scheißbücher.“ Was denn die richtigen | |
| Scheißbücher wären, fragt Williams. „Wo es einem wie Schuppen aus den | |
| Haaren fällt.“ | |
| Es gibt Bücher, die nicht geschrieben wurden, um zu gefallen, sondern um zu | |
| verstören. Oder eben: Damit es einem wie Schuppen aus den Haaren fällt. | |
| „Eine Geschichte des amerikanischen Volkes“ wurde auch geschrieben, um das | |
| Fundament zu erschüttern, auf dem sich eine Nation ihre Geschichte gebaut | |
| hat. | |
| ## Erstveröffentlichung 1980 | |
| Howard Zinns Buch ist seit seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1980 das | |
| erfolgreichste Gegengeschichtsbuch der USA – und bis heute eines der | |
| wirkmächtigsten. Nun liegt es in zeitgemäßer deutscher Übersetzung im März | |
| Verlag vor – die Übersetzerin Sonja Bonin hat großartig gearbeitet. Das | |
| Buch transportiert Zinns erzählerischen Rhythmus und seine moralische | |
| Dringlichkeit aufs Allerfeinste. | |
| Zinns historischer Zugriff war revolutionär – und ist es bis heute | |
| geblieben. Der Mann erzählt Geschichte nicht, wie [2][Henry Kissinger] es | |
| einmal formulierte, als eine „Erinnerung von Staaten“, also nicht aus der | |
| Sicht von Präsidenten, Generälen und Regierungen, sondern aus der | |
| Perspektive jener, die in der Geschichtsschreibung oft übersehen werden: | |
| aus der Perspektive von Arbeitern, Sklaven, Indigenen, Frauen, und | |
| Einwanderern. | |
| Zinns Sprache ist leidenschaftlich und parteiisch. Sein Ziel ist nicht | |
| historiografische Nüchternheit, sondern moralische Unruhe. Was er | |
| beschreibt, ist der Schattenriss einer Nation, deren Geschichte sich nicht | |
| an den Taten ihrer Repräsentanten entzündet, sondern an den Erfahrungen der | |
| Entrechteten. | |
| ## Manchmal pathetische Sätze | |
| Manchmal allerdings verliert er sich im Pathos – in Sätzen, die groß | |
| daherkommen, aber wenig Gehalt tragen. „Es geht mir nicht darum, die Opfer | |
| zu betrauern und die Henker anzuklagen“, heißt es zu Beginn. „Diese Träne… | |
| diesen Ärger auf die Vergangenheit zu richten, hieße, die moralische | |
| Energie der Gegenwart zu verbrauchen. Und die Grenze ist nicht immer | |
| einfach zu ziehen. Auf lange Sicht ist auch der Unterdrücker ein Opfer.“ | |
| Das ist rhetorisch in Ordnung, aber analytisch vage, denn Zinn drückt sich | |
| vor der Frage, welche Mechanismen genau dazu führen – und was genau das | |
| „Opfersein“ des Unterdrückers eigentlich bedeutet. | |
| Dieses Pathos hängt auch mit seiner methodischen Ausrichtung zusammen. Wer | |
| bei Zinn eine nüchterne Analyse gesellschaftlicher Strukturen erwartet, | |
| bekommt meist ein leidenschaftliches Plädoyer. Er ist vom Marxismus und der | |
| kritischen Theorie geprägt, arbeitet aber nicht nach den Mustern des | |
| strukturalistischen Marxismus, der stabile Systemlogiken betont; seine | |
| „Geschichte des amerikanischen Volkes“ ist bewusst parteilich und | |
| aktivistisch. | |
| ## Kolonialismus, Rassismus, Klassenausbeutung | |
| Seine Stärke liegt woanders. Für Zinn sind Kolonialismus, Rassismus, | |
| Klassenausbeutung, Patriarchat und Imperialismus keine historischen | |
| Ausrutscher, sondern systemische Konstanten. Er schreibt nicht über eine | |
| große Geschichte mit dunklen Momenten, sondern über ein dunkles Kontinuum | |
| mit kleinen Momenten der Hoffnung. Dabei geht er chronologisch vor – von | |
| der Gründung der Kolonien bis in die Gegenwart. | |
| Das Buch beginnt, natürlich, mit der Landung von Christoph Kolumbus 1492 | |
| und schildert die Kolonisierung nicht als Entdeckungsreise, sondern als | |
| Beginn systematischer Ausbeutung und Vernichtung. Die transatlantische | |
| Sklaverei erscheint nicht nur als ökonomisches Rückgrat des Südens, sondern | |
| als Grundlage einer rassistischen Ordnung, die bis heute besteht. Die | |
| Revolution von 1776 sieht er nicht als Freiheitskampf für alle, sondern als | |
| Machtprojekt kolonialer Eliten, bei dem Arme, Sklaven und Ureinwohner | |
| weiter entrechtet blieben. | |
| Vom Krieg gegen Mexiko über den Spanisch-Amerikanischen Krieg bis zum | |
| Vietnamkrieg analysiert Zinn die US-Außenpolitik als hegemonial, | |
| wirtschaftlich motiviert und aggressiv. Die Industrialisierung, die | |
| Massenarmut im 19. Jahrhundert, die Arbeitskämpfe – Zinn rekonstruiert die | |
| verdrängte Geschichte der amerikanischen Arbeiterbewegung mit Streiks, | |
| staatlicher Repression und gezielter Spaltung. | |
| ## Widerstand, Emanzipation und ziviler Ungehorsam | |
| Zinn widerspricht damit dem berühmten Satz Heraklits: „Der Krieg ist der | |
| Vater aller Dinge.“ Für ihn sind nicht Krieg und Gewalt, sondern | |
| Widerstand, Emanzipation und ziviler Ungehorsam die Antriebskräfte der | |
| Geschichte. Auch das liest sich eher als Hoffnung denn als nüchterne | |
| Analyse und steht im Gegensatz zu Historikern wie Ian Morris oder Jared | |
| Diamond, die eine makrohistorische, evolutionstheoretisch geprägte Sicht | |
| vertreten. | |
| Sie argumentieren, Kriege hätten langfristig für Stabilität gesorgt und die | |
| Gewalt sei im Zuge der Zivilisierung zurückgegangen. Zinn hingegen fragt | |
| nicht nach langfristigen Trends, sondern nach konkreter Ungerechtigkeit. Wo | |
| andere systemisch denken, bleibt er beim moralischen Impuls. Vielleicht | |
| liegt der Unterschied letztlich in der Haltung: Die einen schreiben | |
| Geschichte, um sie zu erklären. Zinn schreibt sie, um sie zu verändern. | |
| ## Gegengedächtnis schaffen | |
| „Eine Geschichte des amerikanischen Volkes“ ist deshalb auch Kritik an | |
| offizieller Geschichtsschreibung, die systematisch die Perspektive der | |
| Mächtigen reproduziert. Zinn will ein Gegengedächtnis schaffen – durch die | |
| Montage von Tagebüchern, Reden, Liedtexten, Berichten von Zeitgenossen. Das | |
| verleiht seinem Stil Dringlichkeit, Anschaulichkeit und Kraft. | |
| Howard Zinn wurde 1922 in Brooklyn geboren. Seine Eltern waren arme | |
| Einwanderer. In seiner Jugend arbeitete Zinn auf einer Werft, im Zweiten | |
| Weltkrieg kämpfte er als Bomberpilot. Später wurde er zu einem der | |
| profiliertesten Kriegsgegner Amerikas, lehrte am Spelman College und an der | |
| Boston University und engagierte sich in der Bürgerrechtsbewegung. Er blieb | |
| bis zu seinem Tod 2010 ein unbequemer Intellektueller. | |
| Seine Arbeitsweise hat er einmal so beschrieben: „Wegen der unvermeidlichen | |
| Stellungnahme für oder gegen eine bestimmte Seite in der Geschichte ziehe | |
| ich es vor, die Entdeckung Amerikas aus dem Blickwinkel der Arawaks zu | |
| erzählen, die Verfassung vom Standpunkt der Sklaven, Andrew Jackson, wie er | |
| von den Cherokees gesehen wurde.“ | |
| ## Werkzeug für politisches Bewusstsein | |
| Zinns Methode ist dabei nicht nur geschichtswissenschaftlich, sondern | |
| bildungspolitisch relevant. „Eine Geschichte des amerikanischen Volkes“ | |
| will nicht nur verstanden, sondern gebraucht werden – als Werkzeug für | |
| politisches Bewusstsein. In einer Gegenwart, in der historisches Wissen oft | |
| als abstrakte Faktenvermittlung erscheint, formuliert Zinn eine radikal | |
| andere Idee von Bildung: Sie sollte im besten Sinne politisch, parteiisch | |
| und engagiert sein. | |
| Heute ist Zinns Ansatz noch angreifbarer als 1980: | |
| [3][Geschichtsschreibung] wird zunehmend entlang politischer Frontlinien | |
| gelesen und von Populisten, Nationalisten oder Kulturkämpfern vereinnahmt. | |
| Sein Buch erinnert daran, dass Demokratie kein Zustand ist, sondern ein | |
| ständiges Ringen. | |
| Zwischen „Wokeness“- und „Cancel Culture“-Vorwürfen gerät leicht in | |
| Vergessenheit, was Zinn als erkenntnistheoretisches Problem formuliert: | |
| Gibt es überhaupt wertfreie Geschichtsschreibung? Für ihn ist | |
| „Objektivität“ meist nur ein anderes Wort für hegemoniale Perspektive. | |
| Doch wie viel moralische Dringlichkeit verträgt der historische Diskurs, | |
| bevor er sich selbst verschließt – und kann man parteiisch erzählen und | |
| zugleich offen für Widerspruch bleiben? Zinn gibt darauf keine Antwort; er | |
| zwingt seine Leser, sie selbst zu finden. | |
| ## Bruce Springsteen hat's gelesen | |
| Der vielleicht prominenteste Leser von „Eine Geschichte des amerikanischen | |
| Volkes“ ist Bruce Springsteen. Als er sich 1980 freiwillig von der Welt | |
| isolierte, um an seinem düsteren Meisterwerk „Nebraska“ zu arbeiten, ein | |
| Album über gescheiterte Existenzen, strukturelle Gewalt und den verlorenen | |
| amerikanischen Traum, las er parallel Zinns Buch. Beide Werke teilen die | |
| Perspektive derer, die am Rand stehen. Springsteens Figuren sind keine | |
| Helden, sondern Gefangene ihrer Hoffnungen. | |
| Zinns Buch will nicht primär erklären, warum Geschichte so verlaufen ist, | |
| wie sie sich uns darstellt, sondern warum sie so nicht hätte verlaufen | |
| dürfen. Es ist – bei aller Wut und Kritik – keine Absage an die USA, | |
| sondern eine Liebeserklärung an das andere Amerika, an das widerständige, | |
| solidarische, immer noch mögliche Amerika. | |
| Zinns Kritik speist sich nicht aus Verachtung, sondern aus der Hoffnung, | |
| dass dieses Land seinem eigenen Versprechen gerecht werden könnte. Zinn | |
| zeigt sich als enttäuschter Idealist. Genau das haut einem den Arsch weg. | |
| 21 Aug 2025 | |
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| Matthias Kalle | |
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