# taz.de -- Jüdisches Leben in den USA: Mein erschüttertes Amerika | |
> Der 4. Juli ist der Nationalfeiertag der USA – für unseren Autor immer | |
> ein fröhliches Ereignis. Doch Trumpismus und Antisemitismus zerstören | |
> sein Vertrauen. | |
Bild: Die USA sind für viele Jüd*innen nicht nur ein Land, sondern ein Verspr… | |
Der Fourth of July, der 4. Juli, war für mich immer ein wichtiger Tag, | |
etwas Besonderes, ein Feiertag. Erstmals bin ich 1954 mit diesem Datum in | |
meinem Geburtsort Timișoara in Rumänien in Berührung gekommen. Ich war fünf | |
Jahre alt und saß gemeinsam mit meinem Vater vor unserem Blaupunkt-Radio. | |
Wir hörten das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft zwischen Ungarn und | |
Westdeutschland aus dem Wankdorfstadion zu Bern. | |
Wir kannten alle Namen der Spieler der „Goldenen Elf“ Ungarns. Die | |
Mannschaft war uns vertraut, und dennoch war mir klar, dass mein Vater | |
nicht den Ungarn die Daumen drückte. Auch nicht den Deutschen, natürlich | |
nicht. Die repräsentierten ein Gemeinwesen, das in unserer damaligen | |
jüdischen Welt tiefe Feindseligkeit hervorrief. | |
Am Ende dieses Spiels am 4. Juli sagte mein Vater etwas, das mich bis zum | |
heutigen Tag begleitet: „Dies war ein Spiel zwischen zwei gonosz“ – er | |
benutzte das ungarische Wort für böse –, „zwischen zwei bösen Nationen, … | |
unserer Familie und den Juden schreckliches Leid angetan haben. Du aber | |
solltest dich nur an ein wichtiges Ereignis dieses Tages erinnern: an sein | |
Datum, den 4. Juli. Das ist der Geburtstag der Vereinigten Staaten von | |
Amerika, in die du – so Gott will – eines Tages reisen und wo du Erfolg und | |
Glück finden wirst.“ | |
Seit diesem Tag nehme ich die Vereinigten Staaten von Amerika als | |
Verbündeten und Freund der Juden wahr, als Bollwerk gegen den | |
Antisemitismus, als unseren Befreier vom Holocaust. Das ist mein Gefühl | |
gegenüber Amerika, auch wenn dies zumindest in unserem Fall falsch ist, | |
denn unsere Befreier waren die Soldaten der Roten Armee der Sowjetunion. | |
Aber der bildungsbürgerliche Hintergrund meiner Eltern sorgte dafür, dass | |
sie nicht nur alles Sozialistische verabscheuten, sondern dass sie | |
überhaupt alles ablehnten, was aus dem Osten Europas kam. Das galt auch für | |
Ostjuden. | |
Zwar gab es auch noch Großbritannien. Aber irgendwie blieb die Aura, die | |
das Vereinigte Königreich umgab, für uns immer unnahbar. Das mag | |
irritieren, denn es war die britische Armee, die meine Tante aus | |
[1][Bergen-Belsen] befreite. Sie war übrigens einer der wenigen Menschen | |
aus der Familie Markovits, die aus den Vernichtungslagern lebend | |
zurückkehren konnten. | |
So blieb ganz allein Amerika, das in meiner kleinen Welt als der | |
eigentliche Gegner und Bezwinger der Nazis erschien. Es hatte etwas: eine | |
soft power, die von der englischen Sprache ausgeht und die sich besonders | |
in der Populärkultur ausdrückt, in Filmen und Musik. Diese Liebesbeziehung | |
zwischen mir und der amerikanischen Kultur hält nun schon seit 70 Jahren | |
an, ungebrochen. In Europa war ich stets nur ein geduldeter Jude, aber nie | |
einer, der je wirklich akzeptiert war. Die Macht und Kraft Amerikas | |
hingegen diente immer als meine Beschützerin, ganz egal, wie weit entfernt | |
die USA waren. | |
Das gilt trotz der schrecklichen Fehlentwicklungen der amerikanischen | |
Geschichte – mit der Sklaverei und der Unterwerfung und Vernichtung der | |
Native Americans nenne ich nur zwei der besonders ungeheuerlichen. Trotz | |
dessen waren die Vereinigten Staaten die älteste und die am längsten | |
existierende liberale Demokratie der Welt. Hier waren wir, mein Vater und | |
ich, ohne jede Einschränkung wirklich akzeptiert – als souveräne und | |
wertgeschätzte menschliche Wesen. | |
Ich werde nie vergessen, wie ich am 4. Juli 1976 mit meinem Vater auf einer | |
Wiese in Cambridge, Massachusetts, inmitten von einer Million Menschen saß. | |
Wir alle feierten 200 Jahre amerikanische Republik. Mein Vater sagte mit | |
Tränen in den Augen zu mir: „Das ist gut, das ist gut!“ Das galt nicht nur | |
dem Umstand, dass ich gerade meinen Doktortitel erlangt hatte und meine | |
erste Stelle an der Harvard University antrat. Noch mehr drückte es die | |
tröstliche Erkenntnis aus, dass wir als Juden in Sicherheit und in Würde | |
leben konnten. So etwas hatte mein Vater in Rumänien und Österreich nie | |
gesagt. | |
Als ich 1967 an der Columbia University ankam, war dies eine der | |
lehrreichsten Erfahrungen meines Lebens. Die Columbia hat mich zu dem | |
gemacht, was ich für den Rest meines Lebens geworden bin: ein | |
Wissenschaftler, der gelernt hat, seinen Beruf in all seinen Facetten zu | |
lieben. | |
Ich lernte in Columbia den Wert des Widerspruchs zu schätzen und dass man | |
Macht in Frage stellen muss. Mit anderen Worten: Die Liberalität der | |
Menschen der 68er-Jahre hat in mir eine dauerhafte Liebe für das Wesen der | |
Demokratie geschaffen – mit Opposition und Widerspruch. | |
## „Mein Amerika“ gibt es nicht mehr | |
Die Ereignisse des vergangenen Jahres jedoch haben diese fröhliche | |
Gemütslage zutiefst erschüttert. Kurz gesagt, ich sehe, wie die letzten | |
verbleibenden Jahre meines Lebens von der Skylla des Trumpismus zerstört | |
werden. Trump ist im Begriff, so ziemlich alles zu zerstören, was ich an | |
Amerika zu lieben gelernt habe. Und ich sehe [2][die Charybdis des | |
Antisemitismus], die an den heiligsten Orten meines Lebens am stärksten | |
ist, nämlich in der Welt von Eliteuniversitäten wie Columbia, Harvard und | |
der University of Michigan. | |
Trumpismus. Wo soll ich da anfangen? Es ist eine Bewegung, die [3][stolz | |
auf ihre Arroganz und Ignoranz ist]. Sie kennt nur die nackte Machtausübung | |
– im Inland und international. Es ist eine Bewegung, die die Schwachen | |
verachtet, [4][die rohe Gewalt preist]. | |
Das Amerika, das für mich einen Zufluchtsort darstellte, das mir Sicherheit | |
und Beistand bot und mir die Chance zum Erfolg gab, gibt es nicht mehr. Das | |
ist äußerst beängstigend und deprimierend! | |
Was machte mein Amerika aus? Es waren nicht die Naturwunder der Rocky | |
Mountains, nicht die Weite seiner Städte, auch nicht die Vielfalt seines | |
gesellschaftlichen Lebens. In erster Linie war es die Welt der | |
Eliteuniversitäten. Sie wurden zu meinem Arbeitsplatz, zu meinem Zuhause | |
und auch zu einem Ort der Geborgenheit! Doch die Universitäten sind seit | |
dem 7. Oktober 2023 nicht mehr dieselben. Ich glaube sogar, dass es im | |
heutigen Amerika nur wenige Institutionen gibt, in denen sich ein Mensch, | |
der offen als Jude lebt, unbehaglicher fühlt als in der Welt der | |
Eliteuniversitäten. | |
Ich möchte Ihnen zwei Vignetten aus der University of Michigan erzählen, | |
die ich im März 2024, dem letzten Semester meiner Lehrtätigkeit, dort | |
erlebt habe. | |
Erstens fiel mir auf, dass einige Studenten am Ende meiner Vorlesungen ihre | |
Davidstern-Halsketten unter ihren Pullovern versteckten, bevor sie | |
hinausgingen. Sie taten dies ganz selbstverständlich, als wenn sie mit | |
einem Schal ihren Hals schützen. Zweitens: Als ich einmal über den Campus | |
ging, wurde ich Zeuge, wie eine junge Frau eine andere junge Frau | |
hasserfüllt anbrüllte: „Geh zurück nach Polen!“ Eine Jüdin aus Amerika | |
solle „raus aus Palästina“, sie solle „zurück nach Polen“, von wo –… | |
vermute – ihre Familie einst vor Pogromen, vor dem Holocaust fliehen | |
musste! | |
Ich hätte nie gedacht, dass ich diese beiden Ereignisse an einer | |
amerikanischen Universität erleben würde. Sie waren der Ort meiner | |
Sicherheit, meines Erfolgs, meines Glücks! Das ist leider dahin. | |
Meine Trauer, meine Enttäuschung, sie sitzen sehr tief! Ich fürchte, dass | |
sie in den verbleibenden Jahren meines Lebens nicht verschwinden werden. | |
4 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Andrei S. Markovits | |
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