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# taz.de -- Autobiografie von Politologe Markovits: Lob der Wurzellosigkeit
> Der amerikanisch-jüdische Politologe Andrei S. Markovits hat seine
> Autobiografie geschrieben. Zu Recht kommt die deutsche Linke darin nicht
> gut weg.
Bild: Der amerikanisch-jüdische Politologe Andrei S. Markovits hat ein Lob der…
Der Titel der jetzt auf Deutsch erschienenen Autobiografie von [1][Andrei
S. Markovits] ist programmatisch: „Der Pass mein Zuhause – aufgefangen in
Wurzellosigkeit“. Der amerikanisch-jüdische Politologe hat ein Lob der
Wurzellosigkeit geschrieben. Geboren 1948 in der rumänischen Stadt
Timișoara als Sohn eines ungarischsprachigen Paars aus dem jüdischen
Bürgertum, verbringt er die ersten neuneinhalb Jahre seines Lebens in
seiner Geburtsstadt.
„Timișoara war ein Ort der Vielsprachigkeit, wie es seiner multikulturellen
Geschichte am östlichen Rand des Habsburger Reiches entspricht“,
rekapituliert Markovits. Die Stadt habe mitten in einer Welt gelegen, „die
den berühmt-berüchtigten Begriff des ‚wurzellosen Kosmopoliten‘
hervorgebracht hat, ein Euphemismus für ‚Jude‘, mit dem die jüdische
Wurzellosigkeit, ihr Kosmopolitismus und ihre Bodenlosigkeit denunziert
wurden“.
Der Autor schlägt in seiner Erzählung en passant den Bogen vom
Antisemitismus der spätstalinistischen Welt, in der er aufgewachsen ist,
zum heutigen Antisemitismus, der sich auf Feindbilder wie George Soros
kapriziert und bis heute eine giftige Gemeinsamkeit vieler Linker und
Rechter darstellt.
En passant – das könnte das unausgesprochene Motto des größten Teils dieser
Autobiografie sein: Man erfährt viele persönliche Details aus Markovits’
Leben und nebenbei eine Menge über die Gesellschaft sowie das politische
und intellektuelle Klima an seinen langjährigen Wohnorte Timișoara, Wien,
New York, Boston oder Ann Arbor.
## Die Familie in der Shoah verloren
Sowohl sein Vater als auch seine Mutter verloren große Teile ihrer Familie
in der Shoah. Als der kleine Andy neun Jahre alt ist, stirbt die Mutter.
Kurz darauf wird der Antrag der Familie auf Ausreise nach Israel, schon
Jahre zuvor gestellt, genehmigt. Markovits’ Vater macht sich mit dem Sohn
nach Wien auf. Schnell ist klar, dass es nicht nach Israel, sondern in die
USA gehen soll. Doch erst nach seiner Matura 1967 am Theresianum in Wien
geht Andrei Markovits endgültig in die Vereinigten Staaten, während der
Vater in Österreich bleibt.
Trotz aller Widrigkeiten ist Markovits’ Lebenserzählung teils geradezu von
Heiterkeit geprägt. Markovits ist vielseitig interessiert, er schwärmt für
die Oper und erlebt Größen der Rockgeschichte wie die Rolling Stones und
die Grateful Dead live, er liebt American Football und europäischen
Fußball, er führt eine erfüllte Partnerschaft und setzt sich für den
Tierschutz ein. Er spricht ein halbes Dutzend Sprachen, studiert und lehrt
an renommierten Universitäten.
Immer wieder gelingt es ihm, seine privaten und politischen Interessen mit
Forschungsprojekten zu verknüpfen. Er liebt die akademische Lehre und den
intellektuellen Austausch. Als er wegen der Coronapandemie „einer großen
Leere“ gegenübersteht, nimmt er die schon länger angedachte Autobiografie
in Angriff. Immer wieder denkt man beim Lesen: ein gelungenes Leben.
## „Trost, Geborgenheit und Sicherheit“
1971 erhält Markovits seinen US-Pass – sein „einziger Anker in der
Wurzellosigkeit, ein Dokument, dessen eigentlicher Zweck die
Wurzellosigkeit ist, weil es im Grunde nur für das Reisen genutzt wird, um
frei und wurzellos zu sein“. Sein Pass spende ihm „Trost, Geborgenheit und
Sicherheit“, so Markovits. „Mein Pass ist zu meinem Anker geworden, meinem
Verwurzeltsein.“ Vielleicht war es diese Umarmung der erzwungenen
Wurzellosigkeit, die ihm solch ein gelungenes Leben ermöglicht hat.
Als Einführung in Markovits’ Forschungsfelder taugt das Buch nur bedingt.
Wer sich etwa für seine Untersuchungen zu den Neuen Sozialen Bewegungen
interessiert, sollte lieber sein 1997 veröffentlichtes Werk „Grün schlägt
Rot: Die deutsche Linke nach 1945“ lesen. Wer mehr über Markovits’
bahnbrechende Erkenntnisse zur Bedeutung des Sports im transatlantischen
Vergleich erfahren will, sollte zunächst das 2002 erschienene „Im Abseits“
konsultieren.
Eine Ausnahme aber gibt es. Das Kapitel „Germany“ bietet tiefe Einblicke in
das, was Markovits sarkastisch the thing nennt: dieses „giftige,
schwammige, aber deutlich wahrnehmbare Amalgam aus Antisemitismus,
Israelhass, Antiamerikanismus, deutschem Nationalismus, Nazis und
antiwestlichem Ressentiment“.
Dieses Ding hat in seinem Verhältnis zu Deutschland immer eine Rolle
gespielt – so sehr, dass er Anfang der 2000er verständlicherweise
entschied, sich aus entsprechenden Kontroversen zurückzuziehen: „Ich hatte
genug von den ewig gleichen Diskussionen.“ Es war – und ist – eben doch
nicht alles heiter.
14 Oct 2022
## LINKS
[1] /Politologe-ueber-die-Macht-der-Uefa/!5780592
## AUTOREN
André Anchuelo
## TAGS
Autobiografie
Juden
Politisches Buch
USA
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