| # taz.de -- Politologe über die Macht der Uefa: „Das Grölen ist neu“ | |
| > Andrei S. Markovits beobachtet die EM aus den USA. Er hört Hymnen, sieht | |
| > kosmopolitische Fußballer und eine Uefa, die immer mächtiger wird. | |
| Bild: Voll patriotischem Vorfreudenstolz singen Fans die englische Hymne in Lon… | |
| taz: Herr Markovits, bekommen Sie in den USA viel von der Fußball-EM mit? | |
| Andrei S. Markovits: Ich schaue tatsächlich viel. Ich lebe derzeit in einer | |
| Orgie von Sport: tagsüber die EM-Spiele, zwischendurch die | |
| Olympiaqualifikationen in den USA, die NHL- und NBA-Playoffs, die sehr | |
| spannend sind, und nicht zu vergessen abends die Copa America. | |
| Vor lauter EM gehen die Meldungen von der Copa America in Deutschland | |
| beinah unter. | |
| Das ist schade, denn sie wird in diesem Jahr auf einem sehr hohen Niveau | |
| gespielt. | |
| Was fällt bei der EM auf? | |
| Die Spieler sind internationaler geworden. Sie stellen eine Fraternity, | |
| eine verbrüderte Gemeinschaft dar. Etwa als Toni Kroos und Karim Benzema | |
| Cristiano Ronaldo begrüßten, umarmten, lange mit ihm sprachen. Die sind | |
| Freunde. | |
| Das sind Kollegen, die sich von gemeinsamen Jahren bei Real Madrid kennen. | |
| Ist das so verwunderlich, dass die miteinander befreundet sind? | |
| Nein, aber es steht dafür, dass die Verbissenheit, die ein solches Turnier | |
| auszeichnet, nicht von den Spielern kommt, sondern von den Fans. Solche | |
| Spieler, etwa Kroos, haben eher einen internationalen Habitus. Aber der | |
| Nationalismus, das fällt eben auch bei der EM auf, besteht weiterhin. | |
| Deswegen war ich auch nie ein Fan von Nationalmannschaften, ich | |
| interessiere mich mehr für Klubfußball. Die Schotten haben für ihr | |
| Vorrundenspiel gegen die Engländer irgendeine Schlacht von 1314 ins Spiel | |
| gebracht. | |
| Nationale Konkurrenz macht doch die EM gerade aus. | |
| Es gibt dennoch bestimmte Aspekte, die stärker auffallen als bei früheren | |
| EMs. Ich habe gerade ein Projekt begonnen, das sich mit dem Mitsingen von | |
| Hymnen beschäftigt. Es fällt auf, dass alle, wirklich alle Spieler der EM | |
| [1][bei den Hymnen mitsingen müssen] … | |
| … außer die Spanier … | |
| … weil deren Hymne keinen Text hat. In Belgien wurde es problematisiert, | |
| dass Kevin De Bruyne und die beiden Hazard-Brüder nicht mitgesungen haben. | |
| Dieses Grölen ist etwas ziemlich Neues. | |
| Dass Sport zusammenführt und gelebte Völkerfreundschaft ist, lässt sich | |
| erst mal nicht bestätigen? | |
| Doch, neben dem Grölen der Hymnen, hat diese EM auch etwas | |
| Universalisierendes. | |
| Was heißt das? | |
| Es sind auch viele Nicht-Hardcore-Fußballfans dabei. Auffallend ist, dass | |
| es viele Frauen und viele Kinder in den Stadien sind, viel mehr als bei | |
| früheren Turnieren. Es schaut beinahe amerikanisch aus. Das hat etwas | |
| Kosmopolitisches. | |
| Nationalismus ist ja gar nicht das große Thema dieser EM. Das sind eher | |
| [2][die LGBT-Solidarität] und die [3][Aktionen gegen Rassismus]. Warum | |
| kommt das im Fußball an? | |
| Das Niederknien ist eine Geste, die aus den USA kommt, von dem NFL-Profi | |
| Colin Kaepernick, danach popularisiert durch die Basketballstars der NBA, | |
| und ohne den Mord an George Floyd hätten sich europäische Profis nie mit | |
| der Black-Lives-Matter-Bewegung solidarisiert. Dass die Geste jetzt in | |
| Europa angekommen ist, hat auch viel mit der Internationalisierung zu tun, | |
| die ich angesprochen habe. Der Österreicher David Alaba, der jetzt Bayern | |
| München verlässt, ist beispielsweise ein Freund des NBA-Profis Kyle Kuzma | |
| von den LA Lakers. | |
| Es gab auch Pfiffe gegen diese Geste. | |
| Diese Pfiffe gegen das Niederknien habe ich aber auch schon vor der EM | |
| gehört, im Klubfußball. In der Premier League, als es endlich wieder | |
| Fußball gab, hörte ich bei einem Chelsea-Spiel Pfiffe. Es gibt so eine Art | |
| männliche Trotzhaltung, die stolz darauf ist, nicht politisch korrekt zu | |
| sein. Das ist in den Sportarten, die ich die hegemoniale Sportkultur nenne | |
| – Fußball, Baseball, Football – sehr stark verbreitet. Das ist eine Art | |
| Gegenkosmopolitisierung. | |
| Das bringt ja die drei Themen dieser EM zusammen: Regenbogen, Antirassismus | |
| und Covid. Fans, fast ausschließlich Männer, präsentieren sich als harte | |
| Kerle, die Queere, Antirassisten und Menschen, die wegen der Pandemie | |
| vorsichtig sind, hassen. | |
| Ja, denen gilt all das als Verweichlichung. Das ist eine toxische | |
| Männlichkeit. Und die hat einen Platz im Fußball. | |
| Zugleich haben sich ja bemerkenswert viele Akteure – bis hin zur Uefa | |
| selbst – mit der LGBT-Community solidarisiert. Ist das nicht etwas | |
| wohlfeil? | |
| Dass es in der Bundesliga oder der Premier League keine erklärten Schwulen | |
| gibt, heißt nicht, dass Akzeptanz nicht immer mehr in die Gesellschaft | |
| kommt. | |
| Aber Bundesliga, Uefa, DFL und DFB üben hier Solidarität, ohne sich | |
| klarzumachen, dass sie selbst noch ganz viel machen müssen. | |
| Gegenfrage: Würden sie mehr machen, wenn sie sich hier nicht mit der | |
| Regenbogenfahne zeigen? Kaum. | |
| Dass die Spiele vor Zehntausenden Fans stattfinden, die oft ohne Mundschutz | |
| und völlig distanzlos agieren, widerspricht ja aller derzeit geltenden | |
| Gesundheitspolitik. Hat die Uefa wirklich so viel Macht? Kann sie sich über | |
| Nationalstaaten hinwegsetzen? | |
| Ja. Und sie hat die Macht, weil die Menschen den Fußball lieben und weil | |
| die Uefa in Europa Monopolist ist in Sachen Fußball. Die Fifa und Uefa | |
| haben schon oft souveräne Entscheidungen von Nationalstaaten abgestraft: | |
| Wenn ihr dieses Gesetz, das den Fußball betrifft, nicht zurücknehmt, darf | |
| eure Nationalmannschaft nicht am nächsten Turnier teilnehmen. Die | |
| Fußballverbände haben diese Macht, weil sie das Monopol haben. Sie sind wie | |
| die katholische Kirche, sie können machen, was sie wollen. | |
| Ist das nicht sehr dreist? | |
| Ja, ihre Macht stammt nicht von einer Armee, sie verfügen aber über ein | |
| Gut, das Millionen Menschen wichtig ist. | |
| Jüngst hatten die Spitzenklubs ihre eigene Super League gründen wollen – | |
| gegen die Macht der Uefa. | |
| Und wer hat es blockiert? Die Fans. Die haben sich benommen wie | |
| mittelalterliche Bauern, deren Obrigkeit angegriffen wurde, die sie | |
| verteidigen wollen. Wenn die Super League das geschickter gemacht hätte, | |
| hätte die Macht der Uefa gebrochen werden können. Deren Monopol lässt sich | |
| nur mit den Spitzenklubs brechen. | |
| 6 Jul 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Martin Krauss | |
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