| # taz.de -- Polykrisen: Die Kultur im Zeitalter der goldenen Toilette | |
| > Wie steht es um Kunst und Kultur in einer Welt der Polykrise und nach dem | |
| > internationalen Aufstieg einer karnevalesken Rechten? Eine | |
| > Bestandsaufnahme. | |
| Bild: Alles im freien Fall? Die „Golden Knights“ trainieren für Trumps Mil… | |
| Wenn man die zehn Jahre seit 2015 und den Satz „Wir schaffen das“ zum | |
| Ausgangspunkt für eine Bestandsaufnahme des kulturellen Lebens macht, dann | |
| sieht es düster aus. Das Interesse an Kunst und Kultur scheint immer mehr | |
| zu schwinden, was in allerlei zurückgehenden Zahlen zum Ausdruck kommt, | |
| Besucherinnenzahlen oder Verkaufszahlen. Diese Zahlen betreffen | |
| Institutionen wie Theater, Konzerthäuser, Kinos, Verlage. | |
| Eine Zahl etwa, die seit 2018 kursiert, betrifft den gebeutelten Buchmarkt. | |
| Über sechs Millionen Buchkäufer:innen seien der Gesellschaft einfach | |
| komplett verloren gegangen, hieß es damals. Kulturelle Institutionen | |
| schlugen Alarm. Sandra Kegel schrieb in der Frankfurter Allgemeinen | |
| Zeitung: „Die Krise ist längst da. Und sie geht über Umsatzzahlen hinaus. | |
| Denn eine der wichtigsten Kulturtechniken, die wir besitzen, ist bedroht: | |
| das Lesen. Es ist an der Zeit, darüber zu reden.“ | |
| Die Krise war da und ist seitdem nicht mehr verschwunden. Nachrichten über | |
| sinkende Zahlen erreichen inzwischen auch die Institute für Geistes- und | |
| Kulturwissenschaften. Seit 2010, vermeldete die FAZ im Januar, „haben sich | |
| die Studentenzahlen in den Geisteswissenschaften international fast | |
| halbiert“. Einen regelrechten „Abschied von Herder und Hölderlin“ | |
| befürchtete die Frankfurter Rundschau deswegen bereits im Frühling 2024. | |
| Solche Krisendiagnosen sind inzwischen zum festen Bestandteil des | |
| kulturellen Gegenwartsdiskurses geworden. Kunst, Kultur, sowie der ganze | |
| Bereich journalistischer und akademischer Geistesarbeit befindet sich | |
| demnach in einem andauernden Stadium der Bedrohung und des | |
| Gerettetwerdenmüssens. Gleichzeitig legen die ständig sinkenden Zahlen | |
| nahe, dass sich ein rapider Bedeutungsverlust kultureller Institutionen | |
| vollzieht. Braucht man wirklich noch Hochliteratur, Opernhäuser, | |
| Geisteswissenschaften oder das Feuilleton, wenn sich niemand mehr dafür | |
| interessiert? | |
| ## Immer feindseliger vorgetragene Fragen | |
| Diese immer feindseliger vorgetragenen Fragen führen zu einem beflissenen, | |
| fast panisch anmutenden Spardiktat. Formate werden eingestellt, Budgets | |
| gekürzt, Lehrstühle eingestampft. Kunst und Kultur erscheint vor diesem | |
| Hintergrund als Luxus einer absterbenden bildungsbürgerlichen Elite, die | |
| man in Zeiten einer wirtschaftlichen Misere nicht mehr alimentieren möchte. | |
| Und diese wirtschaftliche Misere wiederum führt dazu, dass die Energie, die | |
| für die Rezeption von Romanen, Theater, Kunst, Filmen, Serien und Musik | |
| aufgebracht werden kann, immer mehr schwindet. | |
| In der Polykrise der letzten zehn Jahre, die von Pandemie, Krieg, | |
| Klimawandel und dem Aufstieg des Rechtsradikalismus geprägt ist, werden | |
| auch die Aufmerksamkeitsressourcen restlos aufgebraucht, die für Kunst und | |
| Kultur zur Verfügung stehen. Ein nervöses Krisenbewusstsein ist keine gute | |
| Voraussetzung für eine florierende Kulturlandschaft. | |
| Vielleicht war es im Nachhinein absehbar, dass es kein gutes Jahrzehnt für | |
| Kunst und Kultur werden würde. Im Winter 2016 wurde einer der | |
| unkultiviertesten Menschen der Gegenwart zum Präsidenten der USA gewählt – | |
| eine Figur, die seitdem die Medienrealität der Gegenwart durch ihre Präsenz | |
| vollständig beherrscht (Achten Sie einmal darauf, wie früh am Tag und wie | |
| oft sie dieses Gesicht sehen). Den Trump-Schock hat die Kultur bis heute | |
| nicht verarbeitet. Und wie auch: Die Tatsache, dass Millionen von Menschen | |
| einen Mann wählen, der politische Niedertracht mit charakterlicher Leere | |
| auf diese Art vereint, entzieht sich jedem Verständnis. | |
| ## Die karnevaleske internationale Rechte | |
| Es handelt sich nicht nur um ein Misstrauensvotum gegen die Institutionen | |
| der Zivilgesellschaft, sondern auch um eine Delegitimierung jeder | |
| Vorstellung von ästhetischem und intellektuellen Niveau. Trump und die | |
| karnevaleske internationale Rechte, die er verkörpert, sind stolz auf ihren | |
| [1][Mangel an Kultiviertheit, auf ihre Ignoranz, auf ihren protzigen | |
| Kitsch]. Im Jahr 2015 hat man über die goldene Toilette noch gelacht; zehn | |
| Jahre später ist sie längst zum Inbegriff einer neuen Herrschaftskultur | |
| geworden. | |
| Diese neue Repräsentationskultur der Unkultiviertheit fand ihren | |
| vorläufigen Höhepunkt in der Hochzeit, die der Amazon-Gründer Jeff Bezos im | |
| Juni in Venedig feierte. Zahlreiche Beobachter:innen kritisierten die | |
| hemmungslose Geschmacklosigkeit – die Privatjets und Jachten, die | |
| Schaumparty und die naheliegenden Promis, ihre teuren, aber schlecht | |
| sitzenden Anzüge und Kleider, ihre teuren, aber schlecht sitzenden | |
| Gesichter. | |
| Diese Kritik wird die Herrscher der Gegenwart aber kaum aus der Ruhe | |
| bringen, denn es handelt sich um eine programmatische Kulturlosigkeit. Die | |
| „Robber Barons“ des „Gilded Age“, die Ende des 19. Jahrhunderts in | |
| kleptokratischem Überschwang riesige Vermögen und unendliche Macht | |
| angehäuft haben, hatten immerhin noch Museen, Konzertsäle oder | |
| Universitäten gebaut (Guggenheim, Frick, Stanford, Carnegie). In der | |
| Gegenwart hat sich jede Form von Kultiviertheit vom Habitus der Eliten | |
| abgelöst. | |
| ## Der Abbau kultureller Institutionen | |
| In ihrem Hass auf Kunst und Kultur können die Eliten der Gegenwart die | |
| Scharade eines populistischen Antielitismus inszenieren. Das kommt in einer | |
| lustvoll kulturfeindlichen Politik zum Ausdruck, in einem Abbau kultureller | |
| Institutionen. In den USA werden die Universitäten systematisch zerstört, | |
| Medienangeboten wie dem National Public Radio (NPR) werden die Mittel | |
| gestrichen, Institutionen wie das Kennedy Center in Washington werden | |
| genüsslich entkernt und übernommen. | |
| Es handelt sich um ein Programm, das weit über Trump hinaus die Gegenwart | |
| bestimmt. Hier verbindet sich der siegreiche Populismus mit dem Darwinismus | |
| eines ins mythische gesteigerten Neoliberalismus, der sich immer darauf | |
| berufen kann, dass die Gesellschaft sich diesen elitären Luxus nicht mehr | |
| leisten will. Damit ist auch die Kultur Opfer der Mischung aus Austerität | |
| und Marktglauben, die seit Längerem die Fundamente unserer Gesellschaft | |
| erodiert. | |
| Vor dem Hintergrund dieser Krisenphänomene hat sich in den Institutionen | |
| der klassischen Hochkultur eine winterige, melancholische Stimmung | |
| eingebürgert – eine kulturkritische Klage, die sich auf eine lange | |
| Tradition berufen kann. Immer weniger Menschen interessieren sich demnach | |
| für die große, für die echte Kunst. Theater und Opernhäuser und | |
| Vortragssäle bleiben leer, die etablierte Kritik verliert ihre Macht, das | |
| Niveau der historischen und kulturellen Bildung sinkt. Diese Klage ist | |
| nicht aus der Luft gegriffen, sondern von bitterer lebensweltlicher | |
| Realität. Gleichzeitig ist sie aber auch das Resultat einer eingeschränkten | |
| Perspektive. | |
| ## Kultur ist vital, wenn gestritten wird | |
| Wenn man danach fragt, was es bedeuten würde, dass die Kultur es „schafft“, | |
| dann muss man nach den Orten fragen, wo im Alltag der Rezeption und | |
| Produktion von Kunst, im gelebten Leben einer Gegenwart kulturelle Energien | |
| freigesetzt werden. Die Vitalität einer Kultur zeigt sich dort, wo über sie | |
| gestritten wird, denn Menschen streiten nicht um Dinge, die ihnen | |
| gleichgültig sind. Seit einigen Jahren tobt etwa ein regelrechter Krieg um | |
| die Rezeption der Werke J. K. Rowlings, [2][die das Fandom durch ihr | |
| politisches Engagement gegen die Anerkennung von trans Menschen] | |
| vollständig gespalten hat. Wer in die sozialen Medien schaut oder sich die | |
| entsprechenden Foren auf Reddit ansieht, der findet Tausende von | |
| Kommentaren und Beiträgen, die die Frage diskutieren, wie man damit umgehen | |
| soll, dass die Autorin eines geliebten Werkes inzwischen politische | |
| Ansichten vertritt. | |
| Egal, wo man sich in der Kontroverse verortet, muss man anerkennen, dass | |
| die Probleme, die mit ästhetischen Erfahrungen, mit Autorschaft und Ethik | |
| einhergehen, hier auf eine Art und Weise verhandelt werden, die die | |
| ungebrochene Relevanz dieser Probleme unter Beweis stellt. Allerdings haben | |
| sich die Orte der kulturellen Vitalität verschoben. Die produktiven, | |
| hochenergetisierten Konflikte spielen sich ab in einer kulturellen | |
| Öffentlichkeit, in der high und low, E und U, Hoch- und Populärkultur immer | |
| mehr miteinander verschwimmen, ineinander zusammenfallen. | |
| Der Literatur- und Buchwissenschaftler Gerhard Lauer hat unlängst in einem | |
| Essay in der Zeitschrift Merkur eine „neue literarische Öffentlichkeit“ | |
| beschrieben, die ihre Vitalität vor allem dort entwickelt, wo man früher | |
| die Peripherien des Literarischen verortet hatte: in der | |
| [3][Populärliteratur, im Bereich Young-Adult], im digitalen Social Reading, | |
| in den Fankulturen des Internets, auf Booktok oder Booktube. | |
| ## Lehrstühle für Taylor-Swift-Forschung? | |
| Die Energie, die hier freigesetzt wird, findet man aber auch in den | |
| händeringenden Diskussionen zur Ästhetik und Ethik von Computerspielen, im | |
| Konflikt widerstreitender Stile, die in Superheldenfranchises zum Ausdruck | |
| kommen, im Interpretationsfuror, mit dem die Texte populärer Songs | |
| auseinandergenommen werden. Das bedeutet nicht, dass alle Opernhäuser | |
| sofort auf Musicals umsatteln müssen, alle Feuilletons nur noch Games und | |
| Romances besprechen, dass nur noch Lehrstühle [4][für | |
| Taylor-Swift-Forschung] eingerichtet werden. | |
| Stattdessen sollten wohl die Institutionen der Kunst und Kultur, die in den | |
| letzten zehn Jahren so sehr unter Beschuss geraten sind, diese Orte | |
| aufsuchen, um in Dialog mit der brodelnden Alltagskultur zu treten und sich | |
| deren Vitalität im Kampf gegen den kulturfeindlichen Impuls von | |
| Austeritätspolitik und populistischer Polemik einzuverleiben. | |
| 14 Aug 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Johannes Franzen | |
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