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# taz.de -- Parteitag der Linken: Habemus Linke
> Lässt sich die Linkspartei harmonisch so gut auf Kurs halten, wie sie
> derzeit erfolgreich unterwegs ist? Analyse eines lebhaften Parteitags.
Bild: „Alerta, alerta“: Auf dem Parteitag der Linken in Chemnitz spielt auc…
Die Inszenierung wirkt etwas pompös. Weißer Rauch steigt auf, rotes Licht
flackert und der Bass wabert durch die Messehalle Chemnitz. Rapper Flaiz
aus Görlitz ruft in einer ohrenbetäubenden Lautstärke „Alerta, alerta“. …
wie eine Mischung aus Papstwahl und Antifa-Demo klingt, ist der Beginn des
Bundesparteitags der Linken am vergangenen Freitagnachmittag.
„Die Linke ist zurück“, ruft die [1][Bundestagsfraktionsvorsitzende Heidi
Reichinnek] in ihrer Auftaktrede strahlend in den Saal. „Wir haben das
geschafft, woran fast niemand mehr geglaubt hat.“ Es sei „so ein verdammt
gutes Gefühl, endlich mal wieder gewonnen zu haben“. Die rund 540
Delegierten jubeln.
Für zwei Tage hat sich die Linkspartei im früheren Karl-Marx-Stadt
versammelt, um ihre Wiederauferstehung zu feiern. Der Parteitagstermin war
schon im vergangenen Jahr festgelegt worden, als die Linke noch glaubte,
sich einer Bundestagswahl diesen September entgegenzittern zu müssen. Nun
ist alles anders gekommen: Die Partei hat bei der [2][vorgezogenen
Bundestagswahl im Februar] mit 8,8 Prozent ein spektakuläres Comeback
geschafft. Und statt der ursprünglich geplanten
Bundestagswahl-Programmdiskussion steht jetzt Selbstvergewisserung auf der
Tagesordnung.
Einer der neuen Linken ist Emilio. Mit seiner Cousine ist der 17-Jährige in
Wollpulli und Jeans als Zuschauer nach Chemnitz gekommen. „Das ist ein sehr
nices Feeling hier, die Leute sind alle lieb“, sagt er. Vergangenes Jahr
ist Emilio der Partei beigetreten, seit diesem Jahr sitzt er im
Kreisvorstand im nordrhein-westfälischen Steinfurt. Er wollte „was machen,
weil der Rechtsruck zunimmt“ und findet „das Soziale bei der Linken gut“.
Ein Video für Tiktok und Insta wird er mit Co-Parteichefin Ines Schwerdtner
heute noch drehen – eines seiner Highlights. Eher zäh findet Emilio die
Antragsdebatten. „Manchmal ist es schon ein bisschen langweilig, wenn man
nicht Delegierter ist und die ganzen Anträge besprochen werden.“
Das Parteitagsmotto lautet in Chemnitz „Die Hoffnung organisieren“. In
Richtung der schwarz-roten Koalition von Friedrich Merz sagt die
Vorsitzende Schwerdtner: „Wir sind zurück, und die sollen sich warm
anziehen“. Die Linke verstehe sich als „die soziale Opposition“ im
Bundestag. „Wir haben in diesem Wahlkampf wirklich unendlich viel gewonnen:
an Vertrauen, an Glaubwürdigkeit und an Schlagkraft“, so Schwerdtner, die
nach Reichinnek spricht. Jetzt stehe ihre Partei vor einer großen Aufgabe.
„Unser Weg zu einer organisierenden Klassenpartei hat gerade erst
begonnen“, sagt Schwerdtner. Dazu zähle, die Linke zu einer Partei
weiterzuentwickeln, „die wie eine Art Universität für alle ist“. Sie solle
eine Partei werden, in der „erfahrene Genoss:innen den Schatz ihres
Wissens weitergeben können“ und „viele junge Menschen, die zu uns gekommen
sind, eine Perspektive auf eine andere, eine solidarische Gesellschaft
entwickeln“.
Seit dem Abgang von Sahra Wagenknecht und ihrem Anhang befindet sich die
Linkspartei [3][in einem Transformationsprozess]. Noch Ende 2023 mit rund
50.000 Mitgliedern auf einem historischen Tiefstand, zählt sie inzwischen
mehr als 112.000 Mitglieder. Sie ist jünger und weiblicher geworden. Zwar
legte sie in allen Landesverbänden zu, besonders jedoch im Westen. So
verfügt die Linke laut einer für den Parteitag erstellten Erhebung nun über
etwa 69.000 Mitglieder in West- und gut 43.000 in Ostdeutschland. Aber wie
stabil oder fragil ist der gegenwärtige Aufschwung? Das ist die große
Frage.
Ella ist erst 16. „Richtig interessant“ sei das hier, sagt die junge
Chemnitzerin. Es ist ihr erster Parteitag, den sie sich anschaut. Aber sie
war schon einmal auf einem Bundeskongress der Grünen Jugend. Da sei es ein
bisschen freundschaftlicher gewesen, „vielleicht weil es da nicht so große
Altersunterschiede gibt“. Trotzdem ist sie guter Dinge. Ellas Clique, mit
der sie zum Linken-Parteitag gekommen ist, hat sich ausgestattet mit
Linken-Schals oder Jutebeuteln, auf denen „Keine Profite mit der Miete“
steht. Im Januar sind sie alle der Linksjugend beigetreten. Ella findet,
dass die Linke von allen Parteien noch am meisten für junge Menschen tut.
„Hier in Chemnitz zum Beispiel brauchen wir mehr Orte, wo wir Jugendlichen
uns aufhalten können“, sagt sie. Dafür setze sich die Linkspartei ein.
Entscheidend dafür, ob Menschen wie Emilio und Ella nicht nur kurzfristig
in der Linken aktiv sein werden, dürfte sein, ob es der Partei gelingt,
Lehren aus ihrer vergangenen langen Krisenzeit zu ziehen. Das gilt vor
allem für den klassischen linken Hang zur Selbstzerfleischung, dessen
Überwindung sich die heutige Parteiführung auf die Fahnen geschrieben hat.
Wenn sie von „revolutionärer Freundlichkeit“ spreche, meine sie das ernst,
sagt Ines Schwerdtner. Ihr sei es „wichtig, dass wir eine neue Parteikultur
entwickeln“. Es gehe „nicht darum, keine Fehler zu machen oder nicht mehr
zu streiten, es geht darum, eine Kultur zu entwickeln, die uns nicht mehr
zerreißt“. Denn nur eine Partei, die untereinander solidarisch ist, könne
glaubhaft vermitteln, für eine solidarische Gesellschaft zu kämpfen.
Erfolgreich hat sich die Parteiführung im Vorfeld darum bemüht,
unterschiedliche, auch sich widersprechende Vorstellungen mittels etlicher
Kompromissformulierungen und einiger Wortakrobatik unter einen Hut zu
bringen. Beim [4][Leitantrag] funktioniert das recht gut: Von 211
Änderungsanträgen bleiben mit einigem diplomatischen Geschick nur ein paar
wenige übrig. Größere Diskussionen über sie gibt es nicht, das sieht die
Geschäftsordnung nicht vor. Es ist ein eingeübtes Ritual: Eine Minute gibt
es für die Einbringung eines Änderungsantrags und jeweils noch eine Minute
für eine Gegen- und eine Fürrede. Dann wird abgestimmt. Platz für
Diskussionen ist nicht vorgesehen.
Letztlich bekommt nur ein einziger Änderungsantrag eine Mehrheit:
Rausgestrichen aus dem Leitantrag wird die ambitionierte Zielstellung,
innerhalb von vier Jahren auf 150.000 Mitglieder anwachsen zu wollen.
Abschließend wird der Leitantrag mit einer großen Mehrheit und nur wenigen
Gegenstimmen beschlossen. Die Linkspartei nehme „eine zentrale Rolle im
Protest gegen Aufrüstung, Sozialabbau, Klimazerstörung und Rechtsruck ein“,
ist in dem Beschluss zu lesen. Sie müsse „die Zuversicht stärken, dass eine
bessere Welt möglich ist“.
Während die Delegierten im Saal routiniert ihrer Antragsberatungspflicht
nachkommen, spielt Paul Kölbel aus Rudolstadt in Thüringen auf dem Platz
vor der Messehalle in der Sonne Tischtennis. Er ist Mitglied des
Orga-Teams. Hinter ihm liest auf einer kleinen Bühne ein junger Mann aus
einem Buch vor, rund zehn Leute hören zu. Daneben gibt es einen Stand der
Linken-Arbeitsgemeinschaft Cuba Sí mit Flugblättern und Getränken. In einem
kleinen Vortragszelt sprechen rund 20 Leute über das NS-Gedenken in
Chemnitz. Außer ihnen, Kölbel, seinem Spielpartner und ein paar Leuten in
Liegestühlen ist es ansonsten ziemlich leer. Organisiert von der
Rosa-Luxemburg-Stiftung, sollte hier eigentlich ein kleines „Festival“ für
Interessierte, vor allem die vielen Neuen in der Partei stattfinden. Keine
schlechte Idee. Aber geklappt hat es nicht so ganz.
Im Saal zeigt sich am frühen Freitagabend, was das Problem ist, hier
einfach nur möglichst alles unter einen Hut bringen zu wollen. Auf der
Tagesordnung steht ein Thema, das ursprünglich identitätsstiftend für die
Linke war: [5][die Friedenspolitik]. Was bedeutet es angesichts einer
komplizierter gewordenen Weltlage heute noch, sich als „Friedenspartei“ zu
verstehen? Darüber gehen die Auffassungen weit auseinander. Trotzdem ist es
dem Parteivorstand gelungen, aus vier Anträgen einen einzigen mit dem Titel
„Ohne Wenn und Aber: Sage Nein zu Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit!“ zu
machen.
„Gerade jetzt braucht es eine klare und eindeutige Haltung“, heißt es
darin. Doch genau daran fehlt es, weil es keine gemeinsame Einschätzung
gibt, ob und welche Gefahr vom russischen Imperialismus ausgeht. Also wird
sich darum herumgedrückt. Stattdessen heißt es nur: „Mit der Behauptung,
Russland könne bald Nato-Territorium angreifen, werden bewusst Ängste
geschürt.“ Es wird nicht einmal benannt, dass Russland die Ukraine
angegriffen hat. Auch die Forderung nach einem russischen Rückzug fehlt.
Stattdessen wird nur beklagt, dass die EU keinerlei diplomatische
Initiativen ergriffen habe, „um den Krieg zu beenden und wieder zu einer
eigenständigen Entspannungspolitik in Europa zu gelangen“. Die Solidarität
mit der Ukraine beschränkt sich auf die Forderung nach einem
Schuldenschnitt.
Kritiklos passiert der Antrag den Parteitag nicht. „Ob es uns gefällt oder
nicht: Die Welt verändert sich ziemlich rasch“, sagt der Bremer
Landessprecher Christoph Spehr. „Das, was in dem Antrag vorgestellt wird,
konnte man früher mal glauben.“ Von einer „Realitätsverweigerung“ spric…
die Wiesbadener Stadträtin Brigitte Forßbohm. Sie finde „es schon ein
ziemliches Kunststück, es fertigzubringen, sich für Frieden auszusprechen
und dabei den schlimmsten Krieg, der in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg
in der Ukraine stattfindet, so zu verharmlosen“. Russland setze
unverdrossen auf einen militärischen Sieg. „Also bitte Leute, kommt doch
mal auf den Boden der Tatsachen“, fordert sie.
Er wisse, dass in dem Antrag „Sätze drinstehen, die nicht von dem ganzen
Parteitag geteilt werden“, räumt Parteivorstandsmitglied Wulf Gallert ein.
Doch bei aller Kritik werbe er für die Annahme, weil es wichtig sei, „eine
ganz klare Alternative zur militaristischen Debatte in der Bundesrepublik“
zu formulieren. Mit einer breiten Mehrheit folgen ihm die Delegierten, auch
um des lieben innerparteilichen Friedens willen.
Als am Freitagabend langsam die Dämmerung einsetzt, füllt sich der
„Festival“-Platz dann doch noch. Die Delegierten strömen aus dem
Tagungssaal auf die Bierbänke. Inzwischen ist es etwas kalt geworden. Doch
alle sind guter Laune. Die bessert sich noch weiter, als Schwerdtner mit
ihrem Co-Vorsitzender Jan van Aken und Reichinnek mit ihrem männlichen
Pendant Sören Pellmann gemeinsam die Bühne betreten.
Der Moderator Honey Balecta, ein Content Creator und „Linksfluencer“ aus
München, lobt das Linken-Führungsquartett über den grünen Klee. Dann
befragt er van Aken nach der [6][Kanzlerwahlklatsche für Friedrich Merz] am
vergangenen Dienstag. „Der Typ kann das nicht“, sagt van Aken. Der habe ja
nicht mal seine Koalition im Griff, wie wolle er denn da das Land vereinen?
„Der Typ spaltet, wo er nur hinkommt.“
## Zweimal an einem Tag Nein zu Merz sagen
Schwerdtner und Pellmann werden dazu befragt, warum die Linksfraktion
zugestimmt hat, dass der zweite Wahlgang für Merz noch am gleichen Tag
stattfinden kann. „Wir standen vor der Frage, ob wir die Chaotisierung des
politischen Alltags hinnehmen sollten und dass die Faschisten von der AfD
uns über drei Tage vor sich hertreiben, oder ob wir für klare Verhältnisse
sorgen“, antwortet Pellmann. „Ich wollte an einem Tag zweimal Nein zu
Friedrich Merz sagen“, frotzelt Schwerdtner.
Auch Reichinnek, die sich vom Cuba-Sí-Stand inzwischen den zweiten Mojito
auf die Bühne hat reichen lassen, teilt gegen Merz aus: „Wenn so ein
Hardliner wie Dobrindt jetzt das Innenministerium übernehmen darf“, dann
sei ja klar, wohin der neue Kanzler dieses Land lenken wolle, „und das ist
das Problem“. Aber Linke wüssten ja, „dass man sich im Kampf gegen Nazis
halt auf Staat und Polizei nicht verlassen kann“, fügt sie hinzu. Das sei
nun „keine neue Erkenntnis“. Sie brauche auch keinen Verfassungsschutz um
zu wissen, dass die AfD rechtsextrem sei, deshalb müsse „diese verdammte
Partei“ endlich verboten werden.
Auch für Reichinnek ist der Applaus erwartungsgemäß groß. Nachdem die
Gesprächsrunde der vier beendet ist, bleiben sie alle noch lange auf der
Bühne. Geduldig stehen sie für Gruppenfotos mit Gästen und Fans bereit. Der
Andrang ist groß, das Quartett umgibt eine Aura wie bei Popstars.
Am Samstag trifft sich die Linken-Politikerin Caren Lay vor der Halle mit
einer Gruppe von Influencer:innen. Sie wollen mit ihr ein Video drehen und
schlagen vor, ein paar Szenen vor dem „Nischel“ aufzunehmen, dem großen
Karl-Marx-Monument in der Chemnitzer Innenstadt. Lay will sich das noch mal
überlegen. In der Bundestagsfraktion kümmert sie sich um die Mieten- und
Wohnungspolitik, außerdem ist sie für Clubkultur zuständig. [7][Nebenbei
hat sie auf Tiktok eine zweite Karriere gemacht.] „Heidi war die Pionierin,
ich bin gefolgt“, erzählt Lay. Im vergangenen Oktober sorgte sie mit einem
Video für Aufsehen, für das sie den Song „Bauch Beine Po“ der Rapperin
Shirin David emanzipatorisch umdichtete.
Erst vor einem halben Jahr hat die Linke erstmals Influencer:innen zu
einem Parteitag eingeladen. Eine davon ist Klara Simon. Die 22-jährige
Berlinerin mit roten Locken postet auf Tiktok zu Feminismus und Politik.
Eine andere, Laura Gumo aus Bielefeld, trägt ein weißes T-Shirt und sonst
viel Schwarz, ihr Look geht in Richtung Gothic. Um die Schultern trägt sie
eine schwarz gemusterte Kufiyah. Am Morgen hat sie ein Video gepostet, in
dem sie sich zusammen mit dem [8][linken Bundestagsabgeordneten Ferat
Koçak] und anderen Genoss:innen mit den Menschen in Palästina
solidarisiert.
Der dritte Influencer mit dem alias @its.daniel.brln ist schon etwas älter,
nämlich 40. Er hat 20 Jahre lang für eine Medienagentur gearbeitet und auf
Tiktok über 230.000 Follower:innen. Beim Parteitag hat er mit dem
Bundestagsvizepräsidenten Bodo Ramelow ein Video aufgenommen, in dem er mit
ihm über die SED-Vergangenheit der Partei spricht. Alle drei
Influencer:innen sind Mitglieder der Partei. Sie posten privat,
verbreiten aber auch politische Inhalte der Linkspartei.
Am Samstagnachmittag wird es noch mal spannend. Die linksjugend.solid und
der Studierendenverband Die Linke.SDS fordern den Rücktritt der linken
Minister:innen und Senator:innen in Bremen und
Mecklenburg-Vorpommern, die im Bundesrat für das von Union, SPD und Grünen
ausgehandelte milliardenschwere Finanzpaket und die Aufhebung der
Schuldenbremse fürs Militärische gestimmt haben.
„Wer so abstimmt, zerstört die Geschlossenheit der Partei“, kritisiert ein
Antragssteller. Parteichefin Ines Schwerdtner zeigt Verständnis für den
Unmut, bittet aber darum, an Einzelnen kein Exempel zu statuieren. „Wir
haben ein verbindliches Verfahren beschlossen, dass es nie wieder passieren
kann, dass Landesregierungen anders abstimmen als wir im Bundestag“, sagt
sie. Der Antrag wird nur knapp abgelehnt, mit 219 zu 192 Stimmen.
Heftige Diskussionen hatte es hinter den Kulissen über mehrere Anträge zum
Gazakrieg gegeben. Auch hier gelingt es der Parteiführung, die internen
Differenzen mit der Verständigung auf einen gemeinsamen Antrag zu
überbrücken. Er trägt den Titel „Vertreibung und Hungersnot in Gaza
stoppen“. Sein zentraler Satz lautet: „Unsere Solidarität gilt den Menschen
in Israel, Palästina und weltweit, die für ein sofortiges Ende des Krieges
und ein Ende der Besatzung kämpfen und sich gegen die ultrarechte
Netanjahu-Regierung, die Hamas und die globalen Profiteure wenden.“
Co-Parteichef van Aken verkündet selbst am Mikrofon die Verständigung und
wirbt um Zustimmung. Ohne Diskussion wird der Antrag mit sehr großer
Mehrheit angenommen.
[9][Ein weiterer Antrag fordert,] sich die Antisemitismus-Definition der
„Jerusalemer Erklärung“ zu eigen zu machen, die 2020 von
Wissenschaftler:innen und Antisemitismusexpert:innen
aufgestellt wurde. Sie ist allerdings umstritten, weil ihre Definition
enger ist als die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance
Alliance (IHRA), an der sich beispielsweise der Bundestag orientiert. Der
Antrag steht nicht das erste Mal auf dem Programm eines Linksparteitags.
Bereits im Oktober 2024 gab es ihn in Halle, er wurde dort jedoch an den
Parteivorstand überwiesen, der sich damit nicht weiter beschäftigte. Das
gleiche Verfahren schlägt die Antragskommission jetzt wieder vor. Doch
damit geben sich die Antragsteller:innen diesmal nicht mehr zufrieden
– und auch eine Mehrheit des Parteitags nicht.
Also sieht sich van Aken gezwungen, noch mal kurz vor Schluss ans Mikrofon
zu treten. Nachdem Aussitzen diesmal nicht geklappt hat, plädiert er dafür,
den Antrag abzulehnen. „Das ist eine wissenschaftliche Debatte“, die Partei
solle ihr nicht vorgreifen. Doch das Argument verfängt nicht. „Das ist
keine akademische Frage, sondern eine konkrete Frage für viele, die davon
betroffen sind“, kontert die Europa-Abgeordnete Özlem Alev Demirel. Denn
mit dem Antisemitismusvorwurf würden Kritiker:innen der israelischen
Regierung mundtot gemacht. Mit 213 zu 181 wird der Antrag angenommen.
Es ist eine Niederlage für die Parteispitze. Zumindest nach außen hin trägt
sie es mit Fassung. „Das ist halt Demokratie und völlig in Ordnung“, sagt
van Aken. „Ich hätte mir an der Frage eher eine Debatte als eine Abstimmung
gewünscht, aber wenn die Mehrheit das anders sieht, bin ich damit fein.“
Andere sind das weniger. „Wie kann man etwas beschließen, was eine
Angelegenheit von Wissenschaft & Analyse ist?“, empört sich
Bundestagsvizepräsident Bodo Ramelow auf X. Das sei ein „fataler
Beschluss“, twittert die Thüringer Landtagsabgeordnete Katharina
König-Preuss. Eine Einschätzung, der sich auch Ramelows Vorgängerin Petra
Pau anschließt. Die proklamierte neue Harmonie innerhalb der Linkspartei,
sie ist brüchig.
Die Bochumer Bundestagsabgeordnete Cansın Köktürk freut sich über die
gefassten Beschlüsse. „Die mehrheitlich beschlossenen Anträge zum Thema
Palästina sind ein starkes Signal und in meinen Augen eine
Selbstverständlichkeit als Menschenrechtspartei“, sagt sie der taz. „Die
Linke spricht sich gemeinsam mit ihren Mitgliedern somit als einzige Partei
im Bundestag offen dafür aus, Waffenlieferungen an Israel endlich zu
beenden und das Schweigen über das Leid in Gaza zu brechen.“
Bundesgeschäftsführer Jannis Ehling schließt den Parteitag versöhnlich und
bedankt sich für die gute Atmosphäre auf dem Parteitag. Am Ende seiner Rede
erklingt die „Internationale“. Alle Delegierten stehen auf und stimmen die
alte Hymne der Arbeiterbewegung an. Etliche recken die Faust. Als die Musik
nach der ersten Strophe endet, singen immer noch viele weiter bis zur
dritten Strophe und der Sonne, die ohne Unterlass scheint. Es ist ein wenig
wie nach einem Film, wenn der Abspann läuft.
11 May 2025
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## AUTOREN
Pascal Beucker
Daniel Bax
Lotte Laloire
Franziska Schindler
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