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# taz.de -- Wahlerfolg der Linkspartei: Wenn die Linke 139.000-mal klingelt
> Die Linkspartei hat ein spektakuläres Comeback hingelegt. Für eine Reform
> der Schuldenbremse kommt man im Bundestag nicht mehr an ihr vorbei.
Bild: Bewegend: Der Straßen- und Haustürwahlkampf in Berlin Neukölln hat sic…
Obwohl sie kaum geschlafen haben, ist Jan van Aken, Ines Schwerdtner und
Heidi Reichinnek die Müdigkeit kaum anzusehen. In bester Laune betritt das
Spitzentrio der Linkspartei am Montagmittag den Saal der
Bundespressekonferenz. „Die Linke ist wieder da“, beginnt van Aken
sichtlich stolz seine Ausführungen.
Das lässt sich kaum bestreiten. Mit 8,8 Prozent und 64 Abgeordneten zieht
die noch vor Kurzem totgesagte Partei wieder in den Bundestag ein. Und sie
ist plötzlich so wichtig wie noch nie. Denn ohne die Linke gibt es für
Union, SPD und Grüne keine verfassungsändernde Mehrheit mehr im Parlament –
zumindest, solange sie nicht gemeinsame Sache mit der AfD machen wollen.
Die Linke sei damit das „Zünglein an der Waage“, sagt Co-Parteichefin
Schwerdtner.
Die Erhöhung der deutschen Militärausgaben über ein neues „Sondervermögen…
oder über eine Aufweichung der Schuldenbremse? Das sei ein „No go“, sagt
ihr Co-Vorsitzender van Aken. Ansonsten werde die Linke abwarten, was die
neue Regierung in Sachen Schuldenbremse vorlegen werde, sekundiert
Schwerdtner. Schließlich sei die Linke „von Anfang an gegen die
Schuldenbremse“ gewesen. „Natürlich erwarten wir, in Gespräche einbezogen
zu werden“, sagt Reichinnek. Erfolg macht selbstbewusst.
In Erfurt stößt Bodo Ramelow dreimal seine Faust in die Luft, als am
Sonntagabend um 18 Uhr auf der Leinwand im Kulturbahnhof Zughafen die
Prognose für die Bundestagswahl über die Leinwand flimmert. Der
Wiedereinzug in den Bundestag ist mit Bravour gelungen. Die Gäste auf der
Linken-Wahlparty in der thüringischen Landeshauptstadt johlen ausgelassen.
## Anspannung in Thüringen
„Es ist sechs Monate her, dass wir hier zusammen [1][einen schweren Abend
erlebt haben“, ruft Ramelow] von der Bühne seinen Genoss:innen entgegen.
Seit der verlorenen Landtagswahl im vergangenen September sei so viel
passiert. Der 69-jährige Ex-Ministerpräsident schwärmt von den tausenden
neuen Mitgliedern und der „Aufbruchsstimmung, die wir zusammen erzeugt
haben“.
Und dann war da noch die „Mission Silberlocke“. Die hatte Ramelow Mitte
November gemeinsam mit Gregor Gysi und Dietmar Bartsch gestartet, um der
damals noch am Boden liegenden Linken wenigstens noch die Hoffnung zu
geben, über drei Grundmandate wieder in den Bundestag zu kommen. Jetzt, wo
die Partei locker die Fünfprozenthürde geschafft hat, ist es eigentlich
nicht mehr besonders relevant, ob es auch mit den Grundmandaten geklappt
hat.
Aber trotzdem ist Ramelow gespannt auf sein Abschneiden im Wahlkreis
Erfurt-Weimar-Weimarer Land. „Dass dieser Wahlkreis an einen AfD-Menschen
geht, wäre keine gute Entwicklung“, sagt Ramelow. Schließlich lägen dort
die KZ-Gedenkstätte Buchenwald und der [2][Erinnerungsort Topf & Söhne].
Die Firma hatte Krematorien für Konzentrationslager gebaut.
Doch bis die Erststimmen ausgezählt sind, dauert es. Zunächst macht eine
andere Zahl die Runde: Laut der ersten Hochrechnung hat die AfD in
Thüringen 43 Prozent der Zweitstimmen bekommen. Die Nachricht versetzt der
Party einen ordentlichen Dämpfer. „Es quält mich, wenn ich den blauen
Balken für Thüringen als Ganzes sehe“, sagt Ramelow. Am Ende kommt die
faschistische Partei auf 38,6 Prozent.
## Erstmals auch in Westdeutschland
Aber wenigstens gewinnt Ramelow tatsächlich seinen Wahlkreis. Mit 36,8
Prozent siegt er deutlich vor dem AfD-Mann, der auf 26,7 Prozent kommt. Es
ist der einzige Wahlkreis, der in Thüringen nicht an die AfD geht. In
Sachsen sieht es nicht anders aus. Da ist es nur Sören Pellmann, der
Linksgruppen-Co-Vorsitzende im Bundestag, der in Leipzig ebenfalls mit 36,8
Prozent den dortigen AfD-Kandidaten schlagen kann.
Ganz geklappt hat die [3][„Mission Silberlocke“] nicht. Wenn auch knapp,
hat es Ex-Linksfraktionschef Bartsch in Rostock nicht geschafft. Aber dafür
räumt die Linke in Berlin ab: Neben Gysi in Treptow-Köpenick (41,8 Prozent)
gewinnen auch Ines Schwerdtner in Lichtenberg (34 Prozent), Pascal Meiser
in Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost (34,7 Prozent) und Ferat
Koçak in Neukölln (30 Prozent). Bei den Zweitstimmen wird die Linke mit
19,9 Prozent die stärkste Partei in der Bundeshauptstadt.
Den Sieg Pascal Meisers hatte kaum jemand auf der Rechnung, der alte
Wahlkreis des 2022 verstorbenen Christian Ströbele galt als eine
uneinnehmbare Grünen-Hochburg. Eine noch größere Sensation ist jedoch der
Erfolg in Neukölln. Denn es ist das erste Mal, dass die Linkspartei einen
Wahlkreis in Westdeutschland gewinnt.
Auf die Bühne in einem Veranstaltungssaal in Neukölln, südlich des
Tempelhofer Feldes, traut sich Ferat Koçak erst, als klar ist, dass er
nicht mehr eingeholt werden kann. „Alle zusammen gegen den Faschismus“,
skandiert der Saal, als der 45-Jährige zu seiner Rede ansetzt. Manche haben
Tränen in den Augen. „Ich küsse eure Augen, ich küsse eure Herzen, ich
möchte euch eigentlich alle umarmen“, beginnt Koçak seine Rede, „es ist so
unglaublich, was wir zusammen geschafft haben.“
## Neukölln nicht vergessen
Während er spricht, klettert die Zahl der ausgezählten Stimmen stetig nach
oben, Koçaks Vorsprung aber bleibt. „Das kennen viele Menschen mit
Migrationsgeschichte: Man glaubt uns nicht, man vertraut uns nicht, man
denkt, wir schaffen das eh nicht“, ruft Koçak in den Saal. „Aber wir haben
Geschichte geschrieben.“
Über dem Eingang zeigen rote Luftballons die Zahl 139.000 – an so viele
Türen hat die Linke mit ihren Unterstützer:innen im Bezirk geklopft.
In goldenen Buchstaben prangt „Team Ferat“ an der Wand.
[4][Insgesamt sollen sich knapp 2.000 Aktive am Neuköllner Haustürwahlkampf
beteiligt haben]. „Mein Opa hat mir gesagt, ich soll nie vergessen, wo ich
herkomme“, sagt Koçak „und ich beziehe das auf Neukölln.“ Wie er es bis…
als Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses gehalten habe, wolle er weiter
an die Haustüren gehen, seine Sozialsprechstunde abhalten, mehr auf der
Straße als im Parlament sein. Und in einem Jahr sich bei einer
Stadtteilversammlung mit den Neuköllner:innen darüber austauschen, ob
er ihre Anliegen würdig im Parlament vertrete.
900 Menschen sind gekommen, das ausladende Buffet haben die Gäste selbst
mitgebracht. Betül Havva Yılmaz durfte selbst nicht wählen, aber sie
strahlt über das ganze Gesicht. „Wir haben so sehr gekämpft, und jetzt
haben wir gewonnen.“ Immer wieder wandert ihr Blick auf die Hochrechnungen
an der Wand, so, als könne sie die Ergebnisse noch nicht fassen. „Ferat ist
unsere Stimme“, sagt Yılmaz. „Er sagt, was wir Migrant:innen sagen
wollen.“
## Versöhnlicher Abschluss für Petra Pau
Mit Genoss:innen aus der türkischen [5][linken Arbeiterpartei TIP] sei
sie deshalb in den Haustürwahlkampf eingestiegen. „Viele Menschen, mit
denen ich an den Türen gesprochen habe, sind selbst
Türkisch-Muttersprachler:innen“, sagt Yılmaz. „Ich glaube, es macht einen
Unterschied, wenn jemand dich in deiner Sprache anspricht und nach deinen
Sorgen fragt.“
Besonders berührt habe sie die Begegnung mit einer Frau. „Solange sie hier
wohnt, hat noch nie jemand an ihre Türe geklingelt, um mit ihr zu sprechen“
– so habe es die Frau gesagt.„Das ist nur der Anfang“, sagt Yılmaz. „W…
werden uns gegen den Faschismus stellen.“
Auf der Wahlparty der Bundespartei im Glashaus in Berlin-Alt-Treptow stoßen
Spitzenkandidatin Reichinnek und Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau auf
das fulminante Ergebnis an. Für die 61-jährige Pau ist es der versöhnliche
Abschluss einer langen politischen Karriere, erst im Berliner
Abgeordnetenhaus, seit 1998 im Bundestag. Sie hat die Höhen und Tiefen der
PDS wie auch der Linkspartei mitgemacht. Bei dieser Bundestagswahl hat sie
auf eine erneute Kandidatur verzichtet.
Wie sie den Wiederaufstieg ihrer Partei erklärt? „Wir haben unsere Stärken
gebündelt“, sagt Pau der taz. „Alles andere kann man auch mal
beiseitelassen, wenn man ein gemeinsames Ziel hat.“ Viele Jahre ist das der
Linken nicht gelungen. Auch für Reichinnek liegt der Schlüssel zum Erfolg
auf der Konzentration auf die Gemeinsamkeiten. „Dass wir alle an einem
Strang gezogen, dass wir Soziales in den Mittelpunkt gestellt haben, das
hat sich ausgezahlt!“, sagt sie der taz. Dann stoßen die beiden Frauen noch
einmal an und verschwinden in der feiernden Menge.
## Van Aken „total geflasht“
Aus Sachsen ist Luise Neuhaus-Wartenberg zu der Wahlparty in einem
ehemaligen Busdepot an der Spree angereist. „Wir haben den
innerparteilichen Streit, der uns früher gelähmt hat, beiseite gepackt“,
sagt die 44-jährige Landtagsabgeordnete. Das heiße allerdings nicht, dass
sich nun alle einig wären. „Es gibt bei der Außenpolitik und beim
Sozialstaat sehr verschiedene Ideen.“ Das im Wahlkampf auszuklammern, sei
zwar richtig gewesen, „aber wir müssen das in einer Programmdebatte
klären“. Das würden sicherlich harte Debatten.
Nach seinem Auftritt in der „Berliner Runde“ von ARD und ZDF kommt Jan van
Aken zurück zur Linken-Wahlparty. Er sei immer noch „total geflasht“, sagt
er der taz. „Mich berührt es, wenn ich mir vorstelle, dass jetzt mehr als
4,3 Millionen Menschen die Linke gewählt haben.“ Ob jetzt alles wieder gut
ist in der Partei? „Alles gut ist nie bei der Linken“, sagt van Aken. „Ze…
Personen, 20 verschiedene Meinungen.“
Die Frage sei, ob es gelingt, Differenzen intern zu moderieren oder sie zu
einem öffentlich ausgetragenen Streit führen. „Ich glaube, nach diesem
unfassbaren Erfolg wird es viele geben, die sagen: Hat ja gut funktioniert,
lasst uns so weitermachen“, gibt sich van Aken zuversichtlich. Deswegen sei
er „im Moment sehr optimistisch“.
24 Feb 2025
## LINKS
[1] /Bodo-Ramelow-nach-Thueringen-Wahl/!6033631
[2] https://www.topfundsoehne.de/ts/de/index.html
[3] /Krise-der-Linke/!6048777
[4] /Wahlkampfkampagne-fuer-Linken-Kandidaten/!6065601
[5] https://www.bpb.de/themen/europa/tuerkei/541751/tuerkiye-isci-partisi-tip/
## AUTOREN
Pascal Beucker
David Muschenich
Franziska Schindler
Lotte Laloire
Stefan Reinecke
## TAGS
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Die Linke
Ferat Koçak
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Die Linke
Die Linke
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Stadtland
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