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# taz.de -- Konstituierende Sitzung des Bundestags: Harmonie und Krawall
> Alterspräsident Gregor Gysi hält eine staatstragende Rede. Julia Klöckner
> wird erwartungsgemäß zur Bundestagspräsidentin gewählt. Die AfD poltert.
Bild: Gerne Hofnarr, am Dienstag als Alterspräsident lieber staatstragend: Gre…
Berlin taz | Gregor Gysi hat den Westdeutschen oft mit einer Mixtur aus
Charme und Unverschämtheit ihre Fehler bei der Vereinigung vorgehalten. Er
weiß, wie man den Hofnarren spielt. Am Dienstag um 11 Uhr passiert etwas
Seltenes. Gysi, seit fast 31 Jahren Parlamentarier, vergisst erst, das
Mikrofon anzumachen, und dann, dass eine Rede eine Dramaturgie braucht. Er
ist nervös, verschluckt Silben und reiht fast 40 Minuten lang Thema an
Thema, Nahost und Trump, die Krise der Demokratie und Frieden,
Gesundheitssystem, Steuerpolitik. Kein Feuerwerk, eher eine politische Tour
d’Horizon.
Unterhaltsam ist Gysis Rede eher nicht. Vielleicht, weil das nicht zu dem
Genre passt: Es ist die staatstragende Rede eines Ostdeutschen. Gysi
erinnert in seiner Rede als Alterspräsident an die KPD-Frau [1][Clara
Zetkin] und Willy Brandt als große Parlamentarier, aber auch an Wolfgang
Schäuble. Linke und Konservative: Damit ist der Ton gesetzt.
[2][Linke Antimilitaristen] sollten angesichts von Trump und russischem
Krieg Politiker, die nun auf Rüstung und Abschreckung setzten, „nicht als
Kriegstreiber bezeichnen“. Und vice versa dürfe, wer Diplomatie und
Abrüstung wolle, nicht als „Putin-Knecht“ diffamiert werden. Das ist nicht
als Harmoniesoße gemeint, sondern ein – für einen Linken bemerkenswert
klares – Bekenntnis zur offenen Gesellschaft: Weil wir nicht wissen, was
wahr ist, müssen wir damit rechnen, dass der andere recht haben kann.
In dieses Bild passt, dass Gysi, vielleicht etwas langatmig,
überparteiliche Gremien für Steuern, Renten, Demokratie vorschlägt. Gerade
bei Renten und Steuern gibt es nur Lösungen in der Mitte. Dies ist eine
Intervention für die Vernunft des bundesdeutschen Konsensmodells, möglichst
ohne die parteitaktischen Selbstblockaden. „Mit noch mehr Gremien möchte
ich Sie nicht behelligen“, sagt Gysi nach einer halben Stunde. Höhnischer
Beifall bei Union und AfD.
## Das rhetorische Talent aufblitzen lassen
Der 77-Jährige mahnt wenig, polemisiert nicht, er wirbt eher. Etwas
schärfer wird er nur bei der Wiedervereinigung. Man habe „aus der DDR nur
das Sandmännchen, das Ampelmännchen und den grünen Abbiegepfeil übernommen
und damit den Ostdeutschen gesagt, dass sie sonst nichts geleistet hätten“.
Das sei ein Grund für das Gefühl, gedemütigt worden zu sein.
[3][Der SPD-Linke Ralf Stegner] findet, dass Gysi den Job des
Alterspräsidenten „würdevoll und ohne Gespreiztheit“ über die Bühne
gebracht hat. Er habe sein immerhin manchmal „rhetorisches Talent
aufblitzen“ lassen und habe bei der Kritik der Wiedervereinigung in manchem
recht. Jan van Aken, Linkspartei-Chef, ist nicht so recht glücklich mit der
Rede, weil sie – 37 Minuten – zu kurz gewesen sei. Van Aken hatte auf eine
mindestens 80 Minuten lange Rede gewettet und hat nun leider eine Flasche
Wein verloren. Und er hatte eine „längere anekdotenreiche Rede über die
Fehler der Wiedervereinigung erwartet“.
Um kurz nach 12 ist Gysi fertig. Er wirkt etwas fahrig. Die Linksfraktion
feiert ihn pflichtschuldig, SPD und Grüne applaudieren. Bei der Union rührt
sich kaum etwas, obwohl diese Rede ein Bekenntnis zur liberalen Demokratie
und, ohne sie zu erwähnen, gegen die AfD ist. Dass die Union demonstrativ
nicht klatscht, so SPD-Mann Stegner, sei einfach „unsouverän“. In gewisser
Weise zeigt es, dass dieses Plädoyer für die Einigkeit gegen die
Rechtsextremen ziemlich nötig ist.
## Julia Klöckner klatscht überparteilich
Nur die CDU-Parlamentarierin Julia Klöckner applaudiert knapp nach Gysis
Rede. Klöckner wird kurz danach mit 383 Stimmen zur neuen
Bundestagspräsidentin gewählt. Ihr einsamer Applaus mag ein Vorschein der
neuen Rolle sein – überparteilich zu sein. Das ist Klöckner nicht in die
Wiege gelegt. Bei SPD, Linken und Grünen zweifeln viele, ob sie das Format
dazu hat.
Die 52-jährige Rheinländerin segelte in Flüchtlingsfragen immer deutlich
rechts von Angela Merkel. Als Landwirtschaftsministerin ließ sie wohl
[4][Studien zu Lebensmittelkennzeichnung frisieren] und erarbeitete sich
den Spitznamen Nestlé-Julia. Manche zweifeln, ob sie die aggressive
AfD-Fraktion disziplinarisch im Zaum halten kann. Kurz vor der
Bundestagswahl hatte Klöckner mit dem Spruch irritiert: „Für das, was Ihr
wollt, müsst Ihr nicht AfD wählen. Dafür gibt es eine demokratische
Alternative: die CDU.“ Ein zunächst angekündigter Antrittsbesuch in der
AfD-Fraktion löste sich nach Empörung wegen „Terminproblemen“ auf.
Am Montagabend war die CDU-Frau in der grünen Fraktion gewesen. Jakob
Blasel, Bundessprecher der Grünen Jugend, schrieb danach auf Bluesky:
„Nichts an Julia Klöckners Auftritt in der Grünen Bundestagsfraktion hat
mich überrascht. Diese Politikerin ist eine Gefahr für die Demokratie, weil
sie die Bedrohung durch die AfD im Parlament immer wieder verharmlost.“
## Die AfD-Fraktion strotzt vor Selbstbewusstsein
Klöckner hat nun das protokollarisch zweithöchste Staatsamt inne – und hat
es mit einer 152-köpfigen, vor Selbstbewusstsein berstenden AfD-Fraktion zu
tun. Schon ein paar Minuten vor der Eröffnung der Sitzung macht die
AfD-Fraktion klar, dass sie den Bundestag als Bühne nutzen will. Die AfDler
marschierten in Gruppen vor der leeren Regierungsbank auf und machten dort
Selfies. Der rechtsextreme Lautsprecher Maximilian Krah machte
dresscodemäßig klar, dass er sich für etwas Besonderes hält. Die AfDler
tragen dunkle Anzüge, Krah unübersehbar einen hellen.
Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Bernd Baumann, beschimpfte in
der Geschäftsordnungsdebatte noch vor Gysis Eröffnungsrede unter dem
Gejohle der AfD-Fraktion die anderen Parteien als „Kartell“. Die AfD
forderte, dass der älteste Abgeordnete Alterspräsident wird und nicht der
dienstälteste. Also Gauland statt Gysi. SPD, Union und Grüne hatte diese
Regel 2017 geändert, um Gauland keine Bühne zu bieten. Wie sinnvoll dies
ist, zeigte sich 2024 bei der Konstituierung des Thüringer Landtages. Dort
blockierte die AfD das Parlament durch ihren Alterspräsidenten. Das
Landesverfassungsgericht musste eingreifen, um die AfD-Show zu beenden.
Klöckner konterte die Krach-Rhetorik der AfD im Bundestag mit einem
Seitenhieb: „Mehrheiten, die demokratisch gefunden worden sind, sind keine
Kartelle.“ Dafür gab es aus allen Fraktionen Beifall, natürlich außer aus
der AfD.
Nach Klöckners Wahl ging alles seinen erwarteten Gang. Als Vize wurden
Josephine Ortleb (SPD), der frühere Grünen-Chef Omid Nouripour, Andrea
Lindholz (CSU) und sehr knapp der Linke Bodo Ramelow gewählt. Der AfD-Mann
Gerold Otten scheiterte klar, wie immer, wenn die AfD Kandidaten aufstellt.
Allerdings bekam Otten im ersten Wahlgang mit 185 Stimmen, 33 mehr, als
die AfD Abgeordnete hat.
Vizefraktionsvorsitzender Stephan Brandner beschimpfte die anderen
Parteien als „widerlich“ und „erbärmlich“ und polterte mit Zwischenruf…
als Gysi von Familienmitgliedern sprach, die in Auschwitz ermordet wurden.
Davor hatte Gysi gesagt: „Mit einer Partei, die das schlimmste
Menschheitsverbrechen als Schuldkult verunglimpft und marginalisieren will,
sind Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht zu verteidigen.“
Der verächtliche AfD-Sound wird im Bundestag ab jetzt noch häufiger zu
hören sein. Als zweitgrößte Fraktion darf die AfD immer als erste auf die
Bundesregierung erwidern. Remmidemmi ist auch wegen der Zusammensetzung der
neuen Bundestagsfraktion programmiert: Neben dem krawalligen Krah ist das
selbsttitutlierte „freundliche Gesicht des NS“ Matthias Helferich Teil der
rechten Fraktion. Die AfD dürfte auch in der nächsten Legislaturperiode
wieder den zweifelhaften Rekord für Pöbeleien aufstellen: Schon in der
letzten Legislaturperiode kassierten die 76 Abgeordneten mit deutlichem
Abstand die meisten Ordnungsrufe.
Jan van Aken ist erschüttert, wie es sich anfühle, „150 Faschos
gegenüberzusitzen“. Man müsse aufpassen, nicht dauernd empört zu sein. Auch
SPD-Mann Ralf Stegner warnt, der AfD zu viel Aufmerksamkeit zu schenken.
Man müsse den Rechten zwar Paroli bieten, dürfen sie aber „nicht zu oft zum
Thema machen“. Einfach wird dieser Spagat nicht. „Es ist unser Job, dafür
zu sorgen, dass die Rechten wieder aus dem Bundestag verschwinden“, sagt
Stegner. Es klingt wie eine Selbstermahnung.
25 Mar 2025
## LINKS
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[4] /Kritik-an-Lebensmittelkennzeichnung/!5603284
## AUTOREN
Stefan Reinecke
Gareth Joswig
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