# taz.de -- Expertin über die israelische Demokratie: „Wir müssen Israel ne… | |
> Israel hat bis heute keine Verfassung. Die Politologin Dahlia Scheindlin | |
> erklärt, wie sich das auch auf den Umgang mit den Palästinensern | |
> auswirkt. | |
Bild: Seit Jahren fordern Demonstrierende in Israel eine Verfassung für ihr La… | |
taz: Frau Scheindlin, Israel wird oft als einzige Demokratie im Nahen Osten | |
gepriesen. Zu Recht? | |
Dahlia Scheindlin: Israel ist demokratisch genug, um zu wissen, wie | |
undemokratisch es tatsächlich ist. Ich halte Israel persönlich nicht für | |
eine Demokratie, sondern ein Land mit demokratischen Elementen. Aber es ist | |
schwierig zu quantifizieren, wie demokratisch es genau ist. Denn alle | |
Indexe, die auch die Demokratie in Israel bemessen, beschränken sich auf | |
israelische Staatsbürger und schließen die palästinensischen Gebiete nicht | |
vollständig mit ein. | |
taz: Wie demokratisch ist Israel denn für seine Staatsbürger? | |
Scheindlin: Es schneidet nicht schlecht ab, und es kann tatsächlich als | |
beste Demokratie im Nahen Osten in Bezug auf seine eigenen Staatsbürger | |
gesehen werden. Es gibt eine freie Presse, regelmäßige Wahlen, eine | |
demokratische Praxis und auch demokratische Erwartungen der Bürger. Aber es | |
gibt eine sehr ernste Verschlechterung aufgrund eines langfristigen, | |
methodischen Angriffs auf diese demokratischen Institutionen durch die | |
politische Führung. | |
taz: Und für Nicht-Staatsbürger, für die Palästinenser? | |
Scheindlin: Das Problem ist, dass Israel auch drei Millionen Palästinenser | |
[1][in der Westbank kontrolliert], die sich ohne die Aufsicht Israels nicht | |
bewegen können. Die in einem vollkommen anderen rechtlichen Regime leben, | |
ohne einfache Bürgerrechte, ohne Wahlrecht. Dort herrscht ein israelisches | |
Militärregime, die Westbank wurde de facto schon annektiert. Hinzu kommen | |
die rund 350.000 Palästinenser in Ostjerusalem, die keine israelische | |
Staatsbürgerschaft haben. Israel besetzt und kontrolliert auch den | |
Gazastreifen, wo fast zwei Millionen weitere Palästinenser unter seiner | |
Herrschaft stehen. Und wenn man so auf die Situation blickt, dann ist das | |
fast ein Widerspruch, von der besten Demokratie im Nahen Osten zu sprechen. | |
taz: In Ihrem Buch, erschienen kurz vor dem 7. Oktober 2023, kritisieren | |
Sie, dass die militärische Besetzung der Westbank und die Tatsache, dass | |
Israel bis heute keine Verfassung hat, oft als zwei getrennte Themen | |
gesehen werden. Warum? | |
Scheindlin: Eine Verfassung würde Israels territoriale Souveränität | |
einschränken. Dann könnte man nicht Zivil- und Militärrecht in einer | |
rechtlichen Bürokratie einfach mischen, wie es in der Westbank der Fall | |
ist. Das würde auch die effektive Kontrolle Israels über den Gazastreifen | |
während der meisten Jahre seit 1967 betreffen. | |
taz: Warum hat Israel keine Verfassung? | |
Scheindlin: Es existierten schon vor der Staatsgründung 1948 | |
Verfassungsentwürfe. Aber es gibt aus meiner Sicht zwei Gründe dafür, dass | |
es bis heute keine Verfassung gibt: Israels erster Ministerpräsident David | |
Ben-Gurion wollte sich nicht mit den ultrareligiösen Parteien verfeinden, | |
die wir heute ultraorthodox oder nationalreligiös nennen. Und diese wollten | |
keine säkulare Verfassung, die über dem religiösen Gesetz stehen würde. Für | |
sie ist die Verfassung Israels die Tora. | |
taz: Und der zweite Grund? | |
Scheindlin: Ben-Gurion war sich nicht sicher, ob arabische Bürger im Land | |
gleiche Rechte genießen sollten oder nicht, und eine Verfassung hätte sie | |
berechtigt, sie einzufordern. 1950 entschied die Knesset, dass sie keine | |
Verfassung verabschieden wird – sondern nur Grundgesetze, die in der Regel | |
vollkommen undefiniert waren und mit beliebiger Mehrheit verabschiedet, | |
geändert oder annulliert werden konnten. Nur ein einziger Artikel in einem | |
der Grundgesetze erfordert die hohe Zweidrittelmehrheit für Änderungen, wie | |
sie in den meisten Verfassungen vorgesehen ist. Erst seit den 1990ern gibt | |
es überhaupt Grundgesetze, die die Rechte des Individuums oder | |
Menschenrechte bewahren. Viele weitere Bürgerrechte sind bis heute nicht | |
gesetzlich verankert. | |
taz: Manche Linksliberale blicken nostalgisch auf die goldenen Jahre der | |
israelischen Demokratie unter Ben-Gurion und seiner sozialistischen | |
Mapai-Partei zurück. Ein Irrtum? | |
Scheindlin: Das ist falsch aus einer demokratischen Perspektive, auch aus | |
einer historischen und empirischen. Ben-Gurion war sich keineswegs darüber | |
im Klaren, ob er für eine Gewaltenteilung war, um seine Macht und die der | |
Exekutive zu kontrollieren. Das war auch ein wichtiger Grund, weshalb er | |
keine Verfassung wollte. Aber schon in den 1950er Jahren gab es vom | |
Obersten Gericht Gegenwind. Es war so ziemlich die einzige institutionelle | |
Kontrolle über das Ungleichgewicht der Exekutivgewalt, neben regelmäßigen | |
Wahlen. | |
taz: Mit [2][umstrittenen Justizreformen] versucht Benjamin Netanjahu seit | |
2023, die Unabhängigkeit ebendieses Gerichts zu schwächen … | |
Scheindlin: Seine Regierung denkt nicht, dass sie damit ein | |
undemokratisches Projekt vorantreibt, im Gegenteil. Sie verkaufen das so, | |
dass sie Israel eigentlich demokratischer machen. So nach dem Motto: | |
Gewählte Vertreter sollen das Land regieren, nicht irgendein Gericht. | |
taz: Netanjahu kritisiert, dass das Oberste Gericht seine Richter selbst | |
auswählt, was undemokratisch sei. Muss es nicht auf irgendeine Art und | |
Weise doch reformiert werden? | |
Scheindlin: Es gibt viele Probleme in der Justiz und einiges, was man | |
reformieren müsste. Das größte Problem ist, wie langsam sie ist: Israel hat | |
einen großen Rückstau an Fällen, weil es nicht genug Richter gibt. Aber das | |
will die Regierung zum Beispiel gar nicht verbessern. Und Netanjahus Kritik | |
muss ich zurückweisen: Das Oberste Gericht wählt sich selbst nicht, es gibt | |
ein Komitee, das aus Richtern, Mitgliedern der Anwaltskammer, Ministern und | |
Abgeordneten besteht. Solche Slogans von Benjamin Netanjahu und seinen | |
Verbündeten sind manipulativ und inkorrekt. | |
taz: Die geplanten Justizreformen haben 2023 [3][Hunderttausende in Israel | |
auf die Straße gebracht], die Regierung musste teilweise zurückrudern. | |
Spielt die fehlende Verfassung Israels eine Rolle bei den Protesten? | |
Scheindlin: Schon früh forderten die Demonstrierenden eine Verfassung. Und | |
das hat mich sehr überrascht. Junge Menschen stellten verfassungsrechtliche | |
Fragen, und Rechtswissenschaftler organisierten Teach-ins. Ich hoffe, dass | |
genug Menschen klar ist, wie grundsätzlich die Krise der israelischen | |
Demokratie mit dem aktuellen Konflikt in Gaza und der Besatzung im | |
Allgemeinen verbunden ist. Es reicht nicht, Netanjahu aus dem Amt zu | |
kriegen. Wir müssen Israel neu erfinden. | |
taz: Seit zwei Wochen gibt es wieder Massenproteste in Tel Aviv und | |
Jerusalem, nachdem Netanjahu versucht hatte, [4][den Chef des | |
Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, Ronen Bar, sowie die Generalstaatsanwältin | |
Gali Baharav-Miara] zu entlassen. Geben Ihnen diese Demonstrationen wieder | |
Hoffnung? | |
Scheindlin: Es gibt jetzt einen viel größeren Backlash als in vergangenen | |
Jahren, in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. Doch die Situation | |
bleibt unvorhersehbar. Die Regierung setzt alles daran, diesen öffentlichen | |
Widerstand zu brechen, aber ich weiß nicht, wo das enden wird. Ich bin also | |
genauso beunruhigt wie schon die ganze Zeit über. | |
taz: Stellt der Versuch, die beiden zu feuern, einen Kipppunkt dar in | |
Netanjahus Angriff auf Israels Demokratie? | |
Scheindlin: Das alles ist beispiellos. Es ist ein weiterer, erheblicher | |
Schritt in Richtung des Zusammenbruchs demokratischer Institutionen und | |
Praxis in Israel, doch die Situation war schon vorher kritisch. Es ist für | |
Netanjahu nur konsequent und spiegelt die Kontinuität des Programms seiner | |
Regierung wider. Von Anfang an hat man sich von Trump inspirieren lassen, | |
von seiner Art des politischen Massakers. | |
taz: Angriffe auf Justiz und Medien, ein Premier vor Gericht, kein Ende des | |
Krieges in Sicht – all das führt zu einer politischen Verzweiflung unter | |
vielen Israelis. Das Israel Democracy Institute untersucht, wie | |
optimistisch Bürger hinsichtlich der Zukunft der israelischen Demokratie | |
sind. Es zeigt sich ein Abwärtstrend: Nur noch 36 Prozent sind | |
optimistisch. Sind Sie es? | |
Scheindlin: Nein. Es gibt das Potenzial und die Werkzeuge, um sich als Land | |
in eine demokratischere Richtung zu entwickeln, um vielleicht sogar die | |
Demokratie in Israel grundlegend wieder aufzubauen. Das größte Werkzeug | |
dabei ist die Zivilgesellschaft, die seit dem 7. Oktober sehr aktiv gewesen | |
ist. Aber ich sehe momentan nicht, wie dieser Prozess auf politischer Ebene | |
in Gang gesetzt werden würde. Und die nächste Wahl soll erst Ende 2026 | |
stattfinden. Fast zwei Jahre sind für mich zu weit im Voraus, um zu wissen, | |
wie die Ergebnisse aussehen werden. Gleichzeitig heißt das Problem nicht | |
nur Benjamin Netanjahu. | |
30 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Nicholas Potter | |
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