# taz.de -- Widerstand in Israel: „Das könnten unsere Kinder sein“ | |
> Autorin Neora Shem hielt eine Mahnwache für getötete palästinensische | |
> Kinder ab. Sie warnt vor der Verquickung von religiöser Identität und | |
> Rechtsextremismus. | |
Bild: Protestierende der „Aktion für Kinder“ am 17. Mai in Tel Aviv | |
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sieht sich auch im Ausland | |
wachsenden Protesten gegen seinen Krieg in Gaza ausgesetzt. Nachdem er am | |
18. März den Waffenstillstand gebrochen und einen neuen Angriff auf den | |
Gazastreifen gestartet hatte, gründeten einige Frauen die „Aktion für | |
Kinder“. | |
Gemeinsam mit Amit Shiloh, Alma Beck und Danielle Cantor ergriff Neora | |
Shem, 71, die Initiative zu einem stillen Protest gegen die Tötung | |
palästinensischer Kinder. [1][Inzwischen nehmen jede Woche Hunderte an den | |
stillen Mahnwachen in Tel Aviv teil.] Die Bewegung hat ähnliche Mahnwachen | |
im Ausland inspiriert, unter anderem in New York, London und Wien. | |
taz: Frau Shem, der Gedanke, dass Kinder „gewaltsam involviert“ werden, | |
steht im Mittelpunkt Ihrer Botschaft. Warum? | |
Neora Shem: Das israelische Militär und die Medien bezeichnen die Opfer oft | |
als „unbeteiligt“, das bedeutet, dass die Kinder und andere Zivilisten, die | |
sterben, sich nicht aussuchen können, ob sie beteiligt sind oder nicht. | |
Aber ihr Tod betrifft sie! Dies stellt die in den israelischen Medien so | |
oft verwendete Rhetorik der Unterteilung in Kämpfer und Unbeteiligte | |
infrage. Wenn ein Kind stirbt, wird es involviert, weil wir es involviert | |
haben. Ein Kind ist ein Kind ist ein Kind. | |
taz: Wann hat Ihr Protest begonnen? | |
Shem: Wir wachten Mitte März mit der schrecklichen Nachricht auf, dass in | |
der Nacht zuvor über 100 Kinder in Gaza getötet worden waren. Wir vier – | |
Amit, Alma, Danielle und ich – waren am Boden zerstört. Wir konnten nicht | |
aufhören zu weinen. Wir hatten das Gefühl, dass wir etwas tun müssen. Auch | |
wir, die israelischen Juden, sind gegen diesen Terror und diese | |
Unterdrückung. Das ist wichtig. Die Erinnerung an die Shoah ist für uns | |
lebendig, und „Nie wieder“ bedeutet auch „Nie wieder“ für die | |
Palästinenser. | |
taz: Was haben Sie dann gemacht? | |
Shem: Wir druckten die Fotos der toten Kinder aus, die von The Daily Page | |
stammten, einer von Adi Argov betriebenen Website, die seit über vier | |
Jahren den Tod von Kindern im israelisch-palästinensischen Konflikt | |
dokumentiert. Wir benutzten unsere eigenen Drucker und standen am nächsten | |
Tag schweigend da, mit den Bildern und Kerzen in der Hand. | |
Keine Megaphone, keine Sprechchöre, keine Schilder, keine Slogans, keine | |
Fahnen, keine politischen Parteien. Nur unsere schweigenden Körper. Wir | |
kamen in Trauer zusammen. Die Demonstranten tragen schlichte Kleidung, | |
halten Bilder von getöteten Kindern in der Hand und zünden Gedenkkerzen an. | |
Die Einfachheit ist der Schlüssel. | |
taz: Wie reagieren die Menschen auf das, was Sie tun? | |
Shem: Am Anfang hatten wir natürlich Angst. Als Israeli, als Jude und als | |
Gegner des Krieges in der Öffentlichkeit fühlt es sich gefährlich an. Aber | |
anfangs hat uns niemand deswegen angegriffen. Als wir mehr wurden, kam es | |
allerdings immer wieder zu Konfrontationen mit Passanten. Inzwischen haben | |
wir einige junge Frauen dafür eigens abgestellt, die ein Training hinter | |
sich haben. | |
Sie nehmen die Leute beiseite und versuchen, die Situation zu deeskalieren. | |
Im Großen und Ganzen aber verstehen uns die Menschen instinktiv. Manche | |
stehen mit uns und weinen. Andere stellen Kerzen ab. Viele stehen einfach | |
nur da und legen ihre Hände aufs Herz. Die Stille verweigert die Gewalt der | |
Sprache, sie gibt der Trauer Raum. Ohne Slogans sehen die Menschen, worauf | |
es ankommt: Die Gesichter der Kinder, die unsere sein könnten. Schweigen | |
entwaffnet die Wut. | |
taz: Was wollen Sie erreichen? | |
Shem: Die Stille lädt die Menschen dazu ein, die Gesichter dieser Kinder zu | |
sehen, die leicht unsere Kinder sein könnten. Sie könnten Juden sein, sie | |
könnten Israelis sein. Wir glauben, dass kein Kind geopfert werden sollte. | |
Die Menschen verstehen unsere Kernbotschaft intuitiv: Dieser Krieg muss | |
aufhören. Wir haben gesehen, wohin er führt. Jede Woche kommen Hunderte von | |
neuen Leuten zu uns. Sie haben es verstanden. | |
Wir haben das Gefühl, dass diese Aktion die öffentliche Wahrnehmung | |
verändert, wenn auch nur geringfügig. Das sieht man an Onlinediskussionen, | |
an Facebook-Posts und daran, wie die Menschen auf der Straße auf uns | |
reagieren. Kürzlich sagte Yair Golan, ein linker Politiker, | |
Parteivorsitzender der Demokraten, öffentlich: „Diese Regierung ist | |
illegitim – sie tötet Kinder.“ | |
Der Staat töte Kinder als Hobby. Nun, diese Formulierung „als Hobby“ war | |
für einige offensichtlich zu viel. Später stellte Golan klar, dass er die | |
Regierung und nicht die Armee meinte. Aber der Punkt war gemacht. Die | |
Menschen fangen an, Dinge laut auszusprechen, die früher undenkbar gewesen | |
wären. | |
taz: Glauben Sie, dass sich die Stimmung in Israel gerade zum Besseren | |
ändert? | |
Shem: Es wird schlimmer. Die derzeitige Atmosphäre wird von Netanjahu und | |
seinen Propagandisten aktiv aufrechterhalten und kultiviert. Es wird | |
bewusst versucht, die Anderen zu entmenschlichen, also Palästinenser, | |
Kriegsgegner und sogar befreite Geiseln, um die Menschen in diesem Land zu | |
radikalisieren. Sie sollen in mörderische Nationalisten verwandelt werden. | |
Leider funktioniert das. | |
Nehmen wir den Vorfall in Ra’anana: Eine Gruppe von Nationalisten störte | |
mit Gewalt eine Veranstaltung in einer Synagoge und griff sogar ältere | |
Frauen an. Man stelle sich einen solchen Angriff auf eine Synagoge in | |
Europa vor! Die gewalttätigen Angreifer wurden nach fünf Minuten wieder | |
freigelassen. Währenddessen wurden Demonstranten von Standing Together, die | |
an einem Freitag nach Gaza marschieren wollten, vier Tage lang inhaftiert. | |
Ein weiteres Beispiel: Meine Schwägerin veröffentlichte eine Kritik am | |
israelischen Eurovisionssong, indem sie den Text umschrieb und sagte „Die | |
Sonne wird nicht aufgehen, weil sie vom Rauch verdeckt ist.“ Sie wurde so | |
heftig bedroht, dass sie ihr Instagram abschalten musste. Sie versteckte | |
sich in ihrer Wohnung. Die Leute haben ihr buchstäblich gedroht, sie | |
umzubringen. | |
taz: Erwarten Sie, dass Ihre Proteste in Europa oder den USA Auswirkungen | |
haben? | |
Shem: Wir hoffen, dass die Menschen in Europa, wenn sie propalästinensische | |
Proteste sehen, auch erkennen, dass es israelische Juden gibt, die gegen | |
den Krieg sind. Nicht nur die Palästinenser, auch wir Israelis sind gegen | |
diesen Terror und diese Unterdrückung. Die Europäer müssen verstehen, dass | |
es eine andere Seite Israels gibt, nicht nur die der Armee oder der Siedler | |
oder der Regierung Netanjahu. | |
taz: Was sollen die Menschen in Europa oder den USA Ihrer Meinung nach tun? | |
Shem: Verweigerung kann viele Formen annehmen. Zum Beispiel müssen | |
europäische Unternehmen keine Ausrüstung an das israelische Militär | |
verkaufen. Künstler können ihre Stimme erheben. Die Wähler können Maßnahmen | |
fordern. Die Leute können auf so vielfältige Art und Weise Druck ausüben. | |
Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Während einer Microsoft-Konferenz stand | |
jemand auf und sagte: „Sie unterstützen einen Völkermord.“ Diese Person | |
wurde gefeuert. Alles ging einfach weiter. Wir müssen also aufhören, | |
Microsoft zu kaufen. Ein Beispiel dafür ist, wie Ben & Jerry’s angefangen | |
haben, israelische Siedlungen im Westjordanland zu boykottieren, und das | |
mit der Forderung verbunden haben, die Ungerechtigkeit gegenüber den | |
Palästinensern müsse aufhören. | |
Es geht darum, die Komplizenschaft zu bekämpfen. Ich erinnere mich an den | |
weltweiten Druck auf das Südafrika der Apartheid – diese Art des | |
internationalen Widerstands hat funktioniert. Ich erwarte hier etwas | |
Ähnliches. | |
taz: Ähnelt Ihr Protest dem Anti-Apartheid-Kampf? | |
Shem: Ich würde das gern glauben. Ich wünschte, sie wäre so stark. Aber es | |
gibt einen großen Unterschied: Die globale Reichweite der politischen, | |
militärischen und finanziellen Macht Israels ist heute viel stärker | |
ausgeprägt als die der südafrikanischen Regierung zu Zeiten der Apartheid. | |
Und der Begriff „Jude“ ist auf schreckliche Weise entstellt worden. Wenn | |
man heute von Juden spricht, meint man oft diejenigen, die Netanjahu | |
unterstützen. Das ist nicht das Judentum. Das ist nicht das jüdische Volk. | |
Das ist eine gefährliche Verquickung von religiöser Identität und | |
Rechtsextremismus. | |
8 Jun 2025 | |
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## AUTOREN | |
Ibrahim Quraishi | |
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