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# taz.de -- Interview mit Yishai Sarid über Israel: „Ohne Hemmungen freidreh…
> Der Schriftsteller Yishai Sarid beobachtet den Erfolg des
> Rechtspopulismus in Israel. Davon erzählt er in seinem aktuellen Roman
> „Chamäleon“.
Bild: Yishai Sarid hat verstanden, wie stark und gefährlich tiefe religiöse S…
taz: Herr Sarid, das letzte Mal sprachen wir uns vor zwei Jahren,
anlässlich Ihres Romans „Schwachstellen“. Da sich wenige Tage danach der
Terroranschlag der Hamas ereignete, entschieden wir uns gegen eine
Veröffentlichung unseres Interviews. Inwieweit hat Sie der 7. Oktober und
alles, was darauf folgte, verändert?
Yishai Sarid: Der 7. Oktober war für alle Israelis ein riesiger Schock. Wir
hatten nicht damit gerechnet, dass unsere Verteidigungssysteme komplett
versagen würden. Dass eine solche Katastrophe früher oder später eintreten
würde, hat mich aber nicht überrascht. Denn Gaza wartete viele Jahre wie
eine Bombe nur darauf zu explodieren und Netanjahu hatte nach einem
Teile-und-herrsche-Prinzip die fanatischsten Fraktionen der
palästinensischen Gesellschaft gefördert. Der Angriff der Hamas und alles,
was folgte, haben die israelische Gesellschaft sehr negativ verändert. Als
jemand, der hier lebt und nirgendwo anders hin kann, weil dies einfach mein
Land ist, ist es sehr schwer, damit klarzukommen.
taz: Prägt Sie das auch als Schriftsteller?
Sarid: Ich glaube nicht. Meine Romane haben sich immer schon mit der
Psychologie der israelischen Gesellschaft befasst. In „Monster“ etwa habe
ich den tiefen Einfluss der Schoah auf unser Denken und Fühlen untersucht.
Die Idee von Israel als jüdischem Staat dreht sich darum, dass dieser Staat
garantiert, dass wir Juden nicht wieder hilflos sind, dass unsere Kinder
nicht abgeschlachtet, entführt und gefoltert werden. Doch weil genau so
etwas am 7. Oktober passiert ist, waren die Reaktionen so heftig.
taz: Ihr neuester Roman „Chamäleon“ ist gerade in Deutschland erschienen.
Er spielt in der Gegenwart und handelt von einem israelischen Journalisten,
der seine Seele für Ruhm verkauft. Wie erlebt dieser Journalist, Shai
Tamus, den 7. Oktober?
Sarid: In den 90ern war Tamus ein kleiner Star. Nun ist er aber sehr
frustriert, weil er Theaterkritiken schreibt, die niemand mehr liest, sein
Gehalt ständig gekürzt wird – und ihn auch seine Frau nicht mehr wirklich
liebt. Die Chance, für einen rechtspopulistischen TV-Kanal zu arbeiten,
ergreift er mit beiden Händen. Dass die Regierung, der Premierminister und
seine gesamte Politik in ihrer grundlegenden Pflicht, uns zu schützen, am
7. Oktober völlig versagt haben, sieht Tamus nicht. Alles ist an diesem Tag
explodiert. Doch in seinen Augen sind ganz andere Schuld: die Armee, die
Linken, die Demonstranten gegen die Pläne zur Justizreform.
taz: Was für ein Mensch ist Shai Tamus? Ist er einfach Opportunist oder
gibt es auch ideologische Gründe, die ihn zu einem giftenden TV-Kommentator
machen?
Sarid: Am 7. Oktober hat Tamus seine Ansichten und seine Fernsehauftritte
schon völlig angepasst an die Erwartungen des Senders, seines Publikums und
auch des Premierministers und seiner Berater, die ihn fördern und
manipulieren. Was Tamus antreibt, ist vor allem das Gefühl, seit Langem
nicht mehr gehört und nicht genug gewürdigt zu werden und dass sich die
Welt ohne ihn weiterentwickelt hat. All das beleidigt ihn zutiefst.
taz: Nachdem Tamus in Jaffa von einer Gruppe junger Menschen angegriffen
wurde, behauptet er in den sozialen Medien, aber ohne es wirklich zu
wissen, die Täter seien Araber gewesen. Das verschafft ihm Aufmerksamkeit
und Anerkennung.
Sarid: Vor dem Vorfall in Jaffa versuchte Tamus in seinen Texten, gemäßigt,
elegant und ausgewogen zu sein. Lange entschärfte er seine Artikel am Tag
nachdem er sie verfasst hatte. Doch heute scheint sich kaum noch jemand für
solche Kommentatoren zu interessieren. Um zu überleben, muss Tamus wie die
meisten anderen werden: ohne Hemmungen freidrehen und Teil eines Theaters
aus Clowns, Gladiatoren und Extremisten werden, das wir heute auch in
Israel erleben.
taz: Ihr Sittengemälde eines großen Teils von Israel stimmt wirklich
pessimistisch. Wo finden Leser*innen, wo finden Sie in Ihrer Geschichte
Hoffnung?
Sarid: Das Geheimnis von Netanjahus Erfolg besteht darin, die spaltenden
Punkte der israelischen Gesellschaft anzusprechen, die Gräben zu vertiefen
und mit den Wunden zu spielen. So konnte er sich eine sehr treue Basis
aufbauen, die etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmacht. Mit der Fortführung
des Gaza-Krieges will er die Wunde des 7. Oktober offen und blutend halten.
Aber es gibt auch großartige Menschen in Israel. Kurz nach dem
Terroranschlag der Hamas – als es noch um legitime Selbstverteidigung und
Abschreckung derjenigen ging, die uns vernichten wollen – haben sich viele
Menschen als Freiwillige engagiert. So etwa für die aus der Nähe des
Gaza-Streifens Evakuierten, die von dieser absolut unfähigen Regierung
keinerlei Unterstützung erhalten hatten. Die Atmosphäre im Land ist nun
aber von sehr viel Hass und Gewalt geprägt.
taz: Gehören Shais Ehefrau Alona und ihre beiden erwachsenen Kinder zu den
positiven Beispielen?
Sarid: Alona ist eine gemäßigte, normale Person. Früher war sie
erfolgreiche Museumskuratorin, wurde ebenfalls an den Rand gedrängt und
ergreift die Möglichkeit, mit einem Investor aus den USA zusammenarbeiten,
als Chance. Als der Krieg beginnt und ihr Sohn rekrutiert wird, kämpft
Alona darum, einen klaren Kopf zu behalten. Doch das Problem ist: Wie viele
Menschen kann sie andere, die von extremen Ideologien getrieben werden,
nicht wirklich aufhalten. Sie sind keine Ideologen, aber wollen einfach nur
ihr Leben leben, ihre Kinder großziehen und ihren Lebensunterhalt
verdienen.
taz: Immerhin nahmen Alona Tamus und ihre Tochter vor dem Krieg an einigen
Demonstrationen gegen die [1][illiberale Justizreform der
Netanjahu-Regierung] teil, die sich heute gegen die Fortführung des Krieges
und für die Freilassung der Geiseln aus Gaza richten.
Sarid: Ich selbst gehe regelmäßig auf die Demonstrationen und halte auch
Reden. Aber das ist eine Bewegung, die weitgehend aus säkularen und
liberalen, jüdischen Israelis besteht. Shai Tamus mag die
Demonstrant*innen von Anfang an nicht, weil er sie als diejenigen
wahrnimmt, die ihn früher an den Rand gedrängt haben. Als rechter
Fernsehkommentator merkt Tamus, dass die Leute ihn in seinem liberalen
Viertel in Tel Aviv nun überhaupt nicht mehr mögen. Daher geht er an andere
Orte, wo die Leute ihn bewundern – und so richtet er immer noch mehr
Schaden an.
taz: Diese anderen Orte sind im Roman teilweise von [2][rechtsextremen
Kahanisten] beeinflusst. Da ist zum Beispiel der Polizeichef Jerusalems,
der gegenüber Tamus vom Aufbau des dritten Tempels fabuliert. Mit genau
diesem Thema haben Sie sich auch in einem Roman aus dem Jahr 2015 befasst,
der in Deutschland noch unveröffentlicht ist.
Sarid: Als der Roman erschien, warfen mir die Leute vor, Science-Fiction zu
schreiben. Doch aufgrund seiner aktuellen Bezüge ist „Der Dritte“ heute
fast ein dokumentarisches Buch. Es erzählt die Geschichte der letzten
Monate des Dritten Tempels in Jerusalem. Dieser Tempel existiert in
Wirklichkeit noch nicht. Um ihn zu bauen, müsste die [3][Al-Aqsa-Moschee,
das drittwichtigste muslimische Heiligtum, zerstört werden]. In den
vergangenen Jahren hat die Bewegung, die den Dritten Tempel bauen will,
jedoch hier in Israel stark an Einfluss und Macht gewonnen. Sie wird in der
aktuellen Regierung durch Itamar Ben-Gvir, den Minister für nationale
Sicherheit, vertreten.
taz: Und wovon handelt Ihre Geschichte?
Sarid: Von einem jüdischen Königreich, das nach einem Atomangriff den Platz
des heutigen Israel einnahm. Religiöse Gerichte haben säkulare ersetzt,
religiöser Fanatismus herrscht vor. Alle Palästinenser und Ausländer wurden
vertrieben. Es gibt einen mächtigen König und jenen Dritten Tempel. Für
diese religiös-nationalistischen Fanatiker erfüllt dieses Königreich ihre
Fantasien. Aber natürlich bringt all dies viel Leid und Zerstörung mit sich
– und bedeutet schließlich das Ende der jüdischen Souveränität, wie es in
unserer Geschichte bereits zweimal geschehen ist. Dies ist der verheerende
Weg, auf den Israel derzeit geführt wird.
taz: Wird Ihr nächstes Buch in Kontrast dazu positiver, vielleicht sogar
eine Utopie?
Sarid: Darin wird es auch um sehr positive, bewundernswerte Charaktere
gehen. Ich bin überzeugt, dass es manchmal eine klare Unterscheidung
zwischen richtig und falsch geben muss. Aber ich versuche, meine
Protagonisten in ihrer Komplexität zu verstehen. Shai Tamus zeichne ich
nicht als Monster und mit ihm empfinde ich irgendwie auch Mitleid. Selbst
in „Der Dritte“ mache ich mich nicht über die religiösen Fanatiker lustig.
Denn ich habe verstanden, wie stark und gefährlich diese tiefen religiösen
Sehnsüchte sind – und dass sie ihre Fantasie vom Aufbau eines dritten
jüdischen Tempels um keinen Preis aufgeben werden. In Israel gibt es Leute,
die völlig faschistische Ansichten vertreten, aber ich habe auch enge
Freunde, gute Menschen, die einfach die Hoffnung verloren haben. Aktuell
ist es für Leute wie mich, die Veränderungen wollen, sehr schwer, ihre
Ansichten gegen die große Mehrheit zu vertreten.
14 Sep 2025
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## AUTOREN
Till Schmidt
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