Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Jüdisch-arabisches Zusammenleben: Haifa ist ein Versprechen
> In der Küstenstadt leben jüdische und arabische Israelis friedlicher
> zusammen als anderswo. Doch seit dem 7. Oktober wachsen auch hier die
> Spannungen.
Bild: Blick auf die Bucht von Haifa. Der Hafen und die Berghänge des Karmel pr…
Der jüdische Philosoph Omri Boehm hat vor ein paar Jahren einen kühnen Plan
skizziert. Aus Israel und Palästina solle ein binationaler Staat werden, in
dem Juden und Palästinenser die gleichen Rechte haben. Das ist nicht
realistisch – Mehrheiten dafür sind kaum vorstellbar –, gedacht war die
Idee indes als Antwort auf das Scheitern der Zweistaatenlösung. Nach deren
Ende gibt es, glaubt Boehm, nur noch die Logik des Nullsummenspiels: Wir
oder sie. Die Idee eines gemeinsamen Staates für Juden und Araber [1][hat
Boehm „Republik Haifa“ getauft].
Warum Haifa? Die Stadt im Norden hat den Ruf, dass dort jüdische und
arabische Bürger Israels ziviler, weniger gewalttätig, halbwegs
gleichberechtigt zusammenleben. Vieles ist in Haifa anders. 40 Prozent der
Jobs in der Stadtverwaltung haben arabische Israelis inne, obwohl sie nur
11 Prozent der knapp 300.000 Menschen umfassenden Stadtbevölkerung
ausmachen. In Haifa existiert eine arabische Mittelschicht. Manche sagen,
die Stadt sei „das Tel Aviv für Araber“.
Chadash, eine linkssozialistische jüdisch-arabische Partei, ist in der
Hafenstadt traditionell stark. Die letzten Bürgermeisterwahlen gewann,
gegen den massiven Rechtstrend in Israel, der gemäßigte Politiker Yona
Yahav. Der sagte: „Gott sei Dank ist Haifa keine heilige Stadt.“
Taugt Haifa als Metapher für eine andere Sicht auf den Konflikt, der, wie
der extrem blutige, brutal geführte Krieg Israels in Gaza zeigt, immer mehr
Gewalt, Tod, Zerstörung, Hass gebiert? Ist Haifa als Metapher eine von
verzweifelter Hoffnung angetriebene Projektion? Oder beides? Auf der Suche
nach Antworten haben wir drei Menschen getroffen, eine jüdische und zwei
arabische Israelis.
## Armut ist meist arabisch, Wohlstand meist jüdisch
Für Fathi Marshood war Haifa ein Versprechen. Als er 1992 in die Stadt kam,
stand er als junger palästinensischer Aktivist bei israelischen Unternehmen
auf der schwarzen Liste. In Haifa fand Marshood einen Job bei Shatil, einer
angesehenen linken NGO, die zivilgesellschaftliche Projekte fördert, er
leitete deren Büro in der Stadt. Haifa sei „sowieso der beste Ort für
Palästinenser in Israel“, sagt er. Weil es liberaler und säkularer ist als
Jerusalem.
Marshood sitzt im Büro seiner Organisation „Social Development Committee“,
deren Direktor er heute ist. Sie unterstützt Palästinenser in Haifa. Man
kümmert sich um Kinderbetreuung und rettet zerfallende Gebäude in alten
arabischen Vierteln. Im Bücherregal steht ein Band „Act4Change“, ein
Programm, das Jugendlichen sozialen Aufstieg ermöglichen soll.
Die Schulen für arabische Israelis sind schlechter ausgestattet. Auch im
liberalen Haifa gilt: Armut ist meist arabisch, Wohlstand meist jüdisch.
Das „Social Development Committee“ versucht die drastische, strukturelle
Benachteiligung der arabischen Israelis ein wenig auszugleichen.
## „Los, bewaffnet euch!“
Marshood, kariertes Hemd, Jeans, formuliert bedächtig, zurückhaltend. Er
ist selbst ein Beispiel für den sozialen Aufstieg, der in der Stadt auch
für arabische Bürger Israels möglich ist. Armut und Reichtum sind in Haifa
topograpisch sichtbar. Unten am Hafen leben Ärmere, oben, auf dem
Bergrücken des Karmel, Wohlhabendere. Marshood wohnt in einem für Haifa
typischen Hochhaus, 18 Stockwerke hoch, auf dem Karmel. Gut situiert.
Überwiegend jüdische Nachbarschaft.
Marshood lebte gerne dort. Bis zum 7. Oktober, 2023. Dem Tag, der alles
änderte.
Kurz nach dem Massaker, das die Hamas im Süden Israels anrichtete, war er,
der perfekt Hebräisch spricht, mit seiner Enkelin im Supermarkt neben
seinem Hochhaus einkaufen. Er sprach mit ihr Arabisch. „Die Leute haben uns
angestarrt wie Feinde“, sagt er. Als er sein Auto wie immer auf seinem
gemieteten Parkplatz vor dem Haus abstellen wollte, beschied ihm eine
schwer bewaffnete Bürgerwehr, das sei nicht mehr sein Parkplatz. „Wir
entscheiden, wo du parkst“, sagten sie. Die Bewaffneten waren seine
jüdische Nachbarn. Marshood überlegte kurz, ob er die Polizei holt. Und
verwarf die Idee: „Die Polizei hätte mich verhaftet, nicht die Bürgerwehr.�…
Nach dem 7. Oktober gab der rechtsextreme Innenminister Itamar Ben-Gvir die
Losung aus: „Los, bewaffnet euch!“ Er ließ Waffen an Zivilisten verteilen.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte, man werde nicht nur die
Hamas bekämpfen, sondern auch die inneren Feinde in Israel.
## Eine Initiative stoppte rechte Provokationen
In Haifa gründeten am 7. Oktober mehrere Aktivisten, darunter auch
Marshood, die Initiative „Keeping Haifa Shared“. Ihr Ziel: Haifa vor den
rechten Bürgerwehren schützen. Die Gefahr, dass auch die Stadt vom Hass
angesteckt wird – sie war real. Die Gruppe beobachtete nach dem 7. Oktober,
was sich in rechten Chats tat. Rechtsradikale streuten Fake News, um das
Zusammenleben von Juden und Palästinensern in Haifa zu zerstören. Mal wurde
behauptet, eine arabische Israelin sei Hamas-Sympathisantin, mal hieß es,
eine jüdische Soldatin sei in einem arabischen Geschäft nicht bedient
worden. Flächenbrände entstehen aus kleinen Feuern.
Es gelang, die meisten rechten Provokationen zu stoppen. Auch mithilfe der
Stadtverwaltung, in der es eigens eine Abteilung gibt, die das
Zusammenleben managen soll. „Wir wollten“, sagt eine linke Aktivistin, „d…
Koexistenz in Haifa retten.“ Das habe funktioniert, weil „sogar manche
Rechte hier begriffen haben, dass Gewalt nur mehr Gewalt erzeugt“. Weil
viele etwas zu verlieren haben.
Haifa bewegt sich jetzt in ruhigerem Fahrwasser. Marshood hat seinen
Parkplatz wieder. Die hysterische Angst ist verflogen. Aber es ist nicht
mehr wie zuvor. Marshood wird vielleicht in ein palästinensisch geprägtes
Mittelschichtsviertel umziehen. Die Normalität, die er für einen halbwegs
stabilen Grund hielt, hat Risse bekommen. Die Risse gab es schon vorher,
spätestens seit Netanjahu mit rechtsradikalen Siedlern regiert und der
Rechtsextreme Ben-Gvir Innenminister wurde. Aber dass nach dem 7. Oktober
auch in Haifa Hass und Rache überhand nehmen würden, damit hatte Marshood
nicht gerechnet. „Es war ein Schock“, sagt er.
Die Ruhe in Haifa hat auch einen Preis. Wer den Krieg in Gaza anprangert,
muss mit Repression rechnen. Palästinenser, so Marshood, haben wegen
kritischer Facebook-Posts ihre Jobs verloren. „Es reichte“, so Marshood,
„schon ein Wort, das als Unterstützung für Gaza wahrgenommen wurde, um
inhaftiert zu werden“.
## Rolly Rosen hat die Konflikte in Haifa erforscht
Die Universität Haifa, hoch über der Stadt thronend, ist ein Symbol
arabisch-jüdischer Koexistenz. Rund 20.000 studieren hier, fast die Hälfte
sind israelische Palästinenser. Rolly Rosen schlendert durch die Gänge der
Universität. Sie gibt heute ein Seminar über Mixed Cities, Städte wie
Haifa, in denen Juden und Araber zusammenleben. Sie hat ihre Doktorarbeit
über das Thema geschrieben und sich mit Städten wie Belfast beschäftigt, in
denen bürgerkriegsähnliche Konflikte neben einer gemeinsam gelebten Moderne
existieren. Wie Fathi Marshood hat auch Rosen früher bei der NGO Shatil
gearbeitet und dort das Program „Haifa Shared City“ geleitet. „Dass Fathi
auf der schwarzen Liste stand, war bei Shatil eher ein Grund, ihn
einzustellen“, sagt sie und lacht. Marshood war Leiter von Shatil. Ein
palästinensischer Chef – das ist in Israel möglich, aber selten.
Rolly Rosen hat die Konflikte in Haifa erforscht – zum Beispiel im Mai
2021. Damals hatten jüdische Rechtsradikale den Tempelberg in Jerusalem zu
stürmen versucht. Als Reaktion feuerte die Hamas Raketen auf Israel, die
israelische Regierung ließ den Gazastreifen heftig bombardieren. Aus
Protest gegen die Angriffe auf Gaza hissten vermummte junge arabische
Israelis im Mai 2021 mitten in Haifa die palästinensische Fahne, fackelten
Autos ab und randalierten. Die jüdische Rechte mobilisierte – und griff
arabische Wohnungen mit Steinen an. Angst herrschte. Arabische Familien
schraubten ihre Klingelschilder ab. Die Stadt wurde vom Sog der Eskalation
erfasst.
Für ihre Studie über den Mai 2021 in Haifa hat Rosen 45 Interviews geführt.
Dass der Konflikt damals nicht explodierte, habe sich der Zivilgesellschaft
verdankt, meint sie. Es gab Gesten der Solidarität über die
ethnisch-nationalen Grenzen hinweg. Jüdische und arabische Geschäftsleute
und Krankenhäuser hängten Transparente auf: „Wir bleiben zusammen.“ Viele,
erzählt Rosen, wehrten sich gegen die damals kursierende Idee, Haifa in
jüdische und arabische Stadtteile aufzuteilen und ethnische Grenzen zu
ziehen. Auch die Stadtverwaltung zog aus dem Mai 2021 Konsequenzen und
installierte eine Moderationsstelle für jüdische-palästinensische
Konflikte. Das Krisenmanagement der Zivilgesellschaft nach dem 7. Oktober
war nur so effektiv, „weil man aus dem Mai 2021 gelernt hatte“, sagt Rosen.
## Die Nakba war in Haifa besonders extrem
Doch was macht Haifa besonders? [2][Bis 1948 waren viele Städte in
Palästina entweder arabisch oder jüdisch dominiert.] Haifa nicht. Die
Anteile der jüdischen und arabischen Bevölkerung waren hier gleich groß. Es
gab mal einen jüdischen, mal einen arabischen Bürgermeister. Die Tatsache,
dass die Stadt keine religiöse Konfliktgeschichte hatte, machte manches
leichter.
Dieses Zusammenleben endete am 22. April 1948. An diesem Tag flohen fast
70.000 arabische Bürger aus Angst vor der Gewalt jüdischer Militärs, die
vom Karmelgebirge aus die arabischen Stadtteile beschossen. Nur ein paar
Tausend blieben. Die Nakba, [3][die katastrophale Vertreibung und Flucht
der Araber aus Israel], war in Haifa besonders extrem. Jeder zehnte
vertriebene Palästinenser kam 1948 aus Haifa. Die meisten flohen in den
angrenzenden Libanon – und nahmen ihre Schlüssel mit, in der Hoffnung, bald
zurückzukehren. Um das zu verhindern, ordnete David Ben-Gurion im Juli 1948
an, die Wohnviertel der geflohenen Araber abzureißen. Die arabische
Altstadt wurde damals zerstört, 227 Häuser. Nur Kirchen und Moscheen aus
osmanischer Zeit blieben verschont.
Eine dieser Moscheen, nah am Hafen gelegen, existiert noch heute. Vor der
Moschee steht ein markanter Turm mit einer Uhr, damals ein Zeichen, dass
die Osmanen in der Moderne ankommen wollten. Trotzdem muss man dieses
Ensemble suchen. Es liegt eingeklemmt zwischen zwei dröhnend lauten
Hauptverkehrsadern, davor ein gigantischer Parkplatz, dahinter ein
Bürohochhaus, das die Moschee um Längen überragt. Der bauchige
Wolkenkratzer mit Zacken in der Spitze sieht aus wie eine Rakete, er prägt
die Skyline der Stadt. Das Regierungsgebäude scheint mit seiner Höhe und
Massigkeit den arabischen Uhrturm zu erdrücken. Haifa ist eine ansehnliche
Stadt, dies jedoch ein selten unwirtlicher Ort. Er wirkt wie eine
nachträgliche Überschreibung der arabischen Geschichte, wie eine
architektonische Auslöschung.
## Die Frage der Geiselrettung spaltet die Gesellschaft
Die Katastrophe 1948, die Koexistenz 2025 – passt das zusammen? Rosen
glaubt, dass dies beides Seiten derselben Medaille sind. Die Vertreibung
1948 erscheint als eine Art paradoxer Voraussetzung für das heutige
Miteinander. Denn das habe für die jüdische Seite eine unausgesprochene
Bedingung. Es funktioniere nur, „weil die jüdische Mehrheit keine Angst vor
der Minderheit hat“. Anders gesagt: Weil das Machtgefälle aus jüdischer
Sicht beruhigend hoch und massiv befestigt ist.
Es gibt aber auch Beziehungen, die nicht durch Macht definiert sind. Rolly
Rosen und Fathi Marshood teilen nicht nur eine lange gemeinsame politische
Erfahrung. Sie kennen auch die Fluchtgeschichten ihrer Familien. Marshoods
Verwandtschaft wurde 1948 in den Libanon vertrieben, Rosens Eltern flohen
vor den Nazis.
Um einen Ausweg aus der Drohung der Vernichtung des je Anderen zu finden,
schreibt Omri Boehm in seinem Buch „Modell Haifa“, müsse man den
„binationalen Zionismus“ wieder beleben, der einst auch von jüdischen
Intellektuellen als Möglichkeit gedacht wurde. Dazu bräuchte es eine
„Erinnerungspolitik des Vergessens“. Vergessen könne man nur, wenn man sich
vorher erinnert und die Geschichte ins Recht setzt. Dazu gehöre auch die
Anerkennung der Nakba und des Rechts der Palästinenser, zurückzukehren.
So radikale Entwürfe sind fern von dem, was möglich ist. Die israelische
Mehrheit steht im Bann des 7. Oktobers. Benjamin Netanjahu setzt auf die
Bombardierung Gazas, die Opposition will mit der Hamas verhandeln, um die
Geiseln zu retten, und fordert ein Ende des Krieges. Die Frage der
Geiselrettung und die politische Zukunft Nethanjahus spaltet die
Gesellschaft – nicht der Krieg in Gaza, nicht die Vertreibung von
Zehntausenden Palästinensern im Westjordanland, die manche Gazaisierung
nennen. Gibt es noch realpolitische Möglichkeiten, die sowohl die jüdische
als auch palästinensische Bevölkerung in den Blick nehmen?
## Wie eingefroren saß sie vor dem Fernseher
Aida Touma-Sliman schaut aus dem Fenster ihres Wintergartens auf die
gesamte Bucht. Die Sonne geht gerade unter. Im Norden leuchtet die
Kleinstadt Akko, die sich an eine von Kreuzrittern gegründete Festung an
der Spitze des Kaps anschmiegt. Im Süden glitzern die Lichter von Haifa mit
seinen Wohnvierteln an den Berghängen. Unten die Hafendocks. Die Briten
nutzten den Hafen vor 1948 als Umschlagplatz für Erdöl aus dem Irak. Damals
wurde Haifa, was es heute ist: die Metropole im Norden.
Touma-Sliman, palästinensische Abgeordnete der Knesset, lebt noch nicht
lange hier im neunten Stock eines neuen Hochhauses. Ihre Wohnung im Herzen
von Akko hat sie nach dem Tod ihres Mannes aufgegeben. Zu viele
Erinnerungen, sagt sie.
Sie ist eine der bekanntesten, lautstärksten arabischen Politikerinnen in
Israel. Seit zehn Jahren ist die Feministin für das linke Bündnis
Chadasch-Ta’al im Parlament. Sie war die erste arabische Politikerin, die
den Gleichstellungsausschuss der Knesset leitete.
Dann kam der 7. Oktober. Aida Touma-Sliman saß am Tag des Hamas-Angriffs
auf den Süden Israels stundenlang wie eingefroren vor dem Fernseher. „Wie
alle Israelis fragte ich mich: Wo ist die Armee?“ Jede Nachricht über
Gräueltaten an Zivilisten in den Kibbuzen machte klar, dass nichts mehr
sein würde wie zuvor. Sie versuchte einen Freund, einen Genossen, zu
erreichen, der dort im Süden wohnte. Er nahm nicht ab. Nach Stunden kam
eine SMS: „Wir sind im Safe-Room, aber wir können sie hören.“ Sie, die
Hamas. „Es war eine schizophrene Situation“, sagt Touma-Sliman. Sie
fürchtete um das Leben ihrer Freunde. Und hatte wie viele Palästinenser
finstere Ahnungen, was kommen, welchen Gewaltorkan Israel entfesseln würde.
Egal, wie scharf sich Chadasch vom Terrorangriff der Hamas distanzierte,
„es hat nie gereicht“. Sie, die laute Oppositionelle, geriet ins Fadenkreuz
der israelischen Mehrheit. Politiker, die Touma-Sliman seit Jahren kannte,
gingen ihr in der Knesset aus dem Weg. Die verbalen Attacken der
Rechtsextremen waren so heftig, dass ihr der Knesset-Sicherheitsdienst
riet, sich im Parlament nicht mehr ohne Begleitschutz zu bewegen.
## Die Logik des Ausnahmezustands
Als sie eine BBC-Meldung retweetete, in der von einem möglichen Einsatz von
Phosphor in Gaza die Rede war, brach ein Shitstorm über sie los. Sie wurde
– wegen eines BBC-Beitrags – für Monate aus der Knesset verbannt. „Meine
parlamentarische Immunität war wertlos. Linke Juden und arabische Israelis
sollten zum Schweigen gebracht werden. Wir sollten einfach verschwinden.“
Es regierte die Logik des Ausnahmezustands. Freund oder Feind. Wenn sie von
den vergangenen Monaten spricht, ist es, als ergäben Normalität und
Ausnahmezustand ein irritierendes Gewebe voller Risse.
Die Sonne ist untergegangen. Aida Touma-Sliman erzählt stolz, nach zwei
Jahren Arbeit eben ein Gesetz durchgeboxt zu haben: Im Sozialministerium
wird eine Behörde zur Armutsbekämpfung eingerichtet. Das ist auch ihr
Erfolg. Dafür hat die säkulare Linksfeministin mit Schas, der Partei der
Ultraorthodoxen, zusammengearbeitet. Von der Behörde soll die Unterschicht
profitieren. Und dazu gehören Ultraorthodoxe, die Schas wählen, und
arabische Israelis, deren Interessen Chadasch vertritt. Touma-Sliman ist
Realpolitikerin – in irrealen Zeiten.
In der Knesset läuft alles wieder halbwegs normal. Die Abgeordneten, die
sie nach dem 7. Oktober schnitten, „lächeln mir wieder zu“, sagt
Touma-Sliman. Für die jüdischen Israelis ist wieder vieles wie früher
geworden. Für arabische Israelis wie sie und Fathi Marshood ist die
Rückkehr der Normalität eine Fortsetzung ihrer schizophrenen Lage. Die
Netanjahu-Regierung scheint diesen Krieg immer weiter fortsetzen zu wollen.
In Gaza, sagt Touma-Sliman, „sterben unsere Leute“. Immer weiter, immer
mehr.
Es ist eine Katastrophe, die sie nicht ausblenden kann, eine Katastrophe,
die sie bewohnen muss. 80 Prozent der jüdischen Israelis unterstützen den
Krieg in Gaza. Und sehen nur jüdisches Leid, nicht jenes, das das
israelische Militär verursacht. Auch in den Anti-Netanjahu-Demonstrationen
spielt der fortwährende Krieg in Gaza nur eine Nebenrolle.
Seit das israelische Militär Gaza bombardiert, seit über 500 Tagen, geht
Touma-Sliman nicht mehr auf Hochzeiten, nicht mehr auf Feste. Steht kein
Weihnachtsbaum in ihrer Familie an Heiligabend. Weil nichts mehr normal
ist, und weil es sich für sie falsch anfühlt, so zu tun. „Nichts gilt mehr
im Angesicht von Gaza. Wir müssen über alles neu nachdenken“, sagt sie
ernst. Vielleicht müsse der Widerstand gegen diesen Krieg auf alte
Erfahrung zurückgreifen. Auf den Kampf gegen die Apartheid in Südafrika.
Oder den antifaschistischen Widerstand gegen Mussolini. Jetzt müsse man die
rechte Revolution in Israel überstehen.
„Faschisten wie Ben-Gvir wollen nicht mehr nur einen palästinensischen
Staat verhindern. Sie wollen ethnische Säuberungen in Gaza und im
Westjordanland“, sagt sie. Aida Touma-Sliman praktiziert täglich einen
komplizierten Spagat – zwischen Realpolitik und der Erkenntnis, dass in
Anbetracht des Todes 150 Kilometer im Süden alles anders ist.
Und die Republik Haifa? Ein gemeinsamer Staat? Ein Land, in dem alle die
gleichen Rechte hätten, sei „ein schöner Traum“, sagt sie. Aber „derzeit
illusionär“. Jetzt gehe es nicht um Theorien oder Visionen. „Was wir jetzt
brauchen“, sagt sie, „ist das Ende des Leids.“
20 Apr 2025
## LINKS
[1] /Philosoph-Omri-Boehm-ueber-Israel/!5702385
[2] /Arabischer-Aufstand-1936/!6075032
[3] /Morris-ueber-israelische-Staatsgruendung/!5997388
## AUTOREN
Katja Maurer
Stefan Reinecke
## TAGS
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Juden
Israel
Araber
Lesestück Recherche und Reportage
GNS
Social-Auswahl
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Gaza-Krieg
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Politisches Buch
## ARTIKEL ZUM THEMA
Zivilgesellschaft in Israel: Zwischen allen Fronten zerrieben
Noch ist die israelische Zivilgesellschaft lebendig und vielfältig. Doch
Aktivisten geraten zunehmend in die Schusslinie der rechtsreligiösen
Regierung.
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++: Hamas laut Bericht zur Machtübergabe in G…
Israels Inlandsgeheimdienstchef Ronen Bar belastet Ministerpräsident
Netanjahu. Der israelische Sicherheitsrat warnt vor „Tag des Zorns“ der
Palästinenser.
Offener Brief gegen Netanjahu: Streit in der britischen Pessachwoche
Einige Delegierte des „Board of Deputies of British Jews“ verurteilen die
israelische Kriegsführung in Gaza. Der Präsident des Dachvereins stellt
sich dagegen.
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++: Hamas lehnt vorläufigen Waffenstillstand …
Die radikal-islamische Hamas ist bereit, über die Freilassung der
verbliebenen Geiseln zu verhandeln. Ein Waffenstillstandsabkommen lehnt sie
weiter ab.
Morris über israelische Staatsgründung: „Der Terrorismus verhärtet“
Der israelische Historiker Benny Morris hat ein unparteiisches Buch über
den ersten arabisch-israelischen Krieg geschrieben. Ein Standardwerk.
Philosoph Omri Boehm über Israel: „Gegen ethnischen Nationalismus“
Die Idee einer jüdischen Demokratie sei ein Widerspruch in sich, sagt Omri
Boehm. Und plädiert für eine binationale Republik.
Neues Buch „Israel – eine Utopie“: Traum von der „Republik Haifa“
Der Philosoph Omri Boehm schlägt in seinem Buch „Israel – eine Utopie“ e…
binationale Lösung für den Nahostkonflikt vor. Wie realistisch ist sie?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.