# taz.de -- Jüdisch-arabisches Zusammenleben: Haifa ist ein Versprechen | |
> In der Küstenstadt leben jüdische und arabische Israelis friedlicher | |
> zusammen als anderswo. Doch seit dem 7. Oktober wachsen auch hier die | |
> Spannungen. | |
Bild: Blick auf die Bucht von Haifa. Der Hafen und die Berghänge des Karmel pr… | |
Der jüdische Philosoph Omri Boehm hat vor ein paar Jahren einen kühnen Plan | |
skizziert. Aus Israel und Palästina solle ein binationaler Staat werden, in | |
dem Juden und Palästinenser die gleichen Rechte haben. Das ist nicht | |
realistisch – Mehrheiten dafür sind kaum vorstellbar –, gedacht war die | |
Idee indes als Antwort auf das Scheitern der Zweistaatenlösung. Nach deren | |
Ende gibt es, glaubt Boehm, nur noch die Logik des Nullsummenspiels: Wir | |
oder sie. Die Idee eines gemeinsamen Staates für Juden und Araber [1][hat | |
Boehm „Republik Haifa“ getauft]. | |
Warum Haifa? Die Stadt im Norden hat den Ruf, dass dort jüdische und | |
arabische Bürger Israels ziviler, weniger gewalttätig, halbwegs | |
gleichberechtigt zusammenleben. Vieles ist in Haifa anders. 40 Prozent der | |
Jobs in der Stadtverwaltung haben arabische Israelis inne, obwohl sie nur | |
11 Prozent der knapp 300.000 Menschen umfassenden Stadtbevölkerung | |
ausmachen. In Haifa existiert eine arabische Mittelschicht. Manche sagen, | |
die Stadt sei „das Tel Aviv für Araber“. | |
Chadash, eine linkssozialistische jüdisch-arabische Partei, ist in der | |
Hafenstadt traditionell stark. Die letzten Bürgermeisterwahlen gewann, | |
gegen den massiven Rechtstrend in Israel, der gemäßigte Politiker Yona | |
Yahav. Der sagte: „Gott sei Dank ist Haifa keine heilige Stadt.“ | |
Taugt Haifa als Metapher für eine andere Sicht auf den Konflikt, der, wie | |
der extrem blutige, brutal geführte Krieg Israels in Gaza zeigt, immer mehr | |
Gewalt, Tod, Zerstörung, Hass gebiert? Ist Haifa als Metapher eine von | |
verzweifelter Hoffnung angetriebene Projektion? Oder beides? Auf der Suche | |
nach Antworten haben wir drei Menschen getroffen, eine jüdische und zwei | |
arabische Israelis. | |
## Armut ist meist arabisch, Wohlstand meist jüdisch | |
Für Fathi Marshood war Haifa ein Versprechen. Als er 1992 in die Stadt kam, | |
stand er als junger palästinensischer Aktivist bei israelischen Unternehmen | |
auf der schwarzen Liste. In Haifa fand Marshood einen Job bei Shatil, einer | |
angesehenen linken NGO, die zivilgesellschaftliche Projekte fördert, er | |
leitete deren Büro in der Stadt. Haifa sei „sowieso der beste Ort für | |
Palästinenser in Israel“, sagt er. Weil es liberaler und säkularer ist als | |
Jerusalem. | |
Marshood sitzt im Büro seiner Organisation „Social Development Committee“, | |
deren Direktor er heute ist. Sie unterstützt Palästinenser in Haifa. Man | |
kümmert sich um Kinderbetreuung und rettet zerfallende Gebäude in alten | |
arabischen Vierteln. Im Bücherregal steht ein Band „Act4Change“, ein | |
Programm, das Jugendlichen sozialen Aufstieg ermöglichen soll. | |
Die Schulen für arabische Israelis sind schlechter ausgestattet. Auch im | |
liberalen Haifa gilt: Armut ist meist arabisch, Wohlstand meist jüdisch. | |
Das „Social Development Committee“ versucht die drastische, strukturelle | |
Benachteiligung der arabischen Israelis ein wenig auszugleichen. | |
## „Los, bewaffnet euch!“ | |
Marshood, kariertes Hemd, Jeans, formuliert bedächtig, zurückhaltend. Er | |
ist selbst ein Beispiel für den sozialen Aufstieg, der in der Stadt auch | |
für arabische Bürger Israels möglich ist. Armut und Reichtum sind in Haifa | |
topograpisch sichtbar. Unten am Hafen leben Ärmere, oben, auf dem | |
Bergrücken des Karmel, Wohlhabendere. Marshood wohnt in einem für Haifa | |
typischen Hochhaus, 18 Stockwerke hoch, auf dem Karmel. Gut situiert. | |
Überwiegend jüdische Nachbarschaft. | |
Marshood lebte gerne dort. Bis zum 7. Oktober, 2023. Dem Tag, der alles | |
änderte. | |
Kurz nach dem Massaker, das die Hamas im Süden Israels anrichtete, war er, | |
der perfekt Hebräisch spricht, mit seiner Enkelin im Supermarkt neben | |
seinem Hochhaus einkaufen. Er sprach mit ihr Arabisch. „Die Leute haben uns | |
angestarrt wie Feinde“, sagt er. Als er sein Auto wie immer auf seinem | |
gemieteten Parkplatz vor dem Haus abstellen wollte, beschied ihm eine | |
schwer bewaffnete Bürgerwehr, das sei nicht mehr sein Parkplatz. „Wir | |
entscheiden, wo du parkst“, sagten sie. Die Bewaffneten waren seine | |
jüdische Nachbarn. Marshood überlegte kurz, ob er die Polizei holt. Und | |
verwarf die Idee: „Die Polizei hätte mich verhaftet, nicht die Bürgerwehr.�… | |
Nach dem 7. Oktober gab der rechtsextreme Innenminister Itamar Ben-Gvir die | |
Losung aus: „Los, bewaffnet euch!“ Er ließ Waffen an Zivilisten verteilen. | |
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte, man werde nicht nur die | |
Hamas bekämpfen, sondern auch die inneren Feinde in Israel. | |
## Eine Initiative stoppte rechte Provokationen | |
In Haifa gründeten am 7. Oktober mehrere Aktivisten, darunter auch | |
Marshood, die Initiative „Keeping Haifa Shared“. Ihr Ziel: Haifa vor den | |
rechten Bürgerwehren schützen. Die Gefahr, dass auch die Stadt vom Hass | |
angesteckt wird – sie war real. Die Gruppe beobachtete nach dem 7. Oktober, | |
was sich in rechten Chats tat. Rechtsradikale streuten Fake News, um das | |
Zusammenleben von Juden und Palästinensern in Haifa zu zerstören. Mal wurde | |
behauptet, eine arabische Israelin sei Hamas-Sympathisantin, mal hieß es, | |
eine jüdische Soldatin sei in einem arabischen Geschäft nicht bedient | |
worden. Flächenbrände entstehen aus kleinen Feuern. | |
Es gelang, die meisten rechten Provokationen zu stoppen. Auch mithilfe der | |
Stadtverwaltung, in der es eigens eine Abteilung gibt, die das | |
Zusammenleben managen soll. „Wir wollten“, sagt eine linke Aktivistin, „d… | |
Koexistenz in Haifa retten.“ Das habe funktioniert, weil „sogar manche | |
Rechte hier begriffen haben, dass Gewalt nur mehr Gewalt erzeugt“. Weil | |
viele etwas zu verlieren haben. | |
Haifa bewegt sich jetzt in ruhigerem Fahrwasser. Marshood hat seinen | |
Parkplatz wieder. Die hysterische Angst ist verflogen. Aber es ist nicht | |
mehr wie zuvor. Marshood wird vielleicht in ein palästinensisch geprägtes | |
Mittelschichtsviertel umziehen. Die Normalität, die er für einen halbwegs | |
stabilen Grund hielt, hat Risse bekommen. Die Risse gab es schon vorher, | |
spätestens seit Netanjahu mit rechtsradikalen Siedlern regiert und der | |
Rechtsextreme Ben-Gvir Innenminister wurde. Aber dass nach dem 7. Oktober | |
auch in Haifa Hass und Rache überhand nehmen würden, damit hatte Marshood | |
nicht gerechnet. „Es war ein Schock“, sagt er. | |
Die Ruhe in Haifa hat auch einen Preis. Wer den Krieg in Gaza anprangert, | |
muss mit Repression rechnen. Palästinenser, so Marshood, haben wegen | |
kritischer Facebook-Posts ihre Jobs verloren. „Es reichte“, so Marshood, | |
„schon ein Wort, das als Unterstützung für Gaza wahrgenommen wurde, um | |
inhaftiert zu werden“. | |
## Rolly Rosen hat die Konflikte in Haifa erforscht | |
Die Universität Haifa, hoch über der Stadt thronend, ist ein Symbol | |
arabisch-jüdischer Koexistenz. Rund 20.000 studieren hier, fast die Hälfte | |
sind israelische Palästinenser. Rolly Rosen schlendert durch die Gänge der | |
Universität. Sie gibt heute ein Seminar über Mixed Cities, Städte wie | |
Haifa, in denen Juden und Araber zusammenleben. Sie hat ihre Doktorarbeit | |
über das Thema geschrieben und sich mit Städten wie Belfast beschäftigt, in | |
denen bürgerkriegsähnliche Konflikte neben einer gemeinsam gelebten Moderne | |
existieren. Wie Fathi Marshood hat auch Rosen früher bei der NGO Shatil | |
gearbeitet und dort das Program „Haifa Shared City“ geleitet. „Dass Fathi | |
auf der schwarzen Liste stand, war bei Shatil eher ein Grund, ihn | |
einzustellen“, sagt sie und lacht. Marshood war Leiter von Shatil. Ein | |
palästinensischer Chef – das ist in Israel möglich, aber selten. | |
Rolly Rosen hat die Konflikte in Haifa erforscht – zum Beispiel im Mai | |
2021. Damals hatten jüdische Rechtsradikale den Tempelberg in Jerusalem zu | |
stürmen versucht. Als Reaktion feuerte die Hamas Raketen auf Israel, die | |
israelische Regierung ließ den Gazastreifen heftig bombardieren. Aus | |
Protest gegen die Angriffe auf Gaza hissten vermummte junge arabische | |
Israelis im Mai 2021 mitten in Haifa die palästinensische Fahne, fackelten | |
Autos ab und randalierten. Die jüdische Rechte mobilisierte – und griff | |
arabische Wohnungen mit Steinen an. Angst herrschte. Arabische Familien | |
schraubten ihre Klingelschilder ab. Die Stadt wurde vom Sog der Eskalation | |
erfasst. | |
Für ihre Studie über den Mai 2021 in Haifa hat Rosen 45 Interviews geführt. | |
Dass der Konflikt damals nicht explodierte, habe sich der Zivilgesellschaft | |
verdankt, meint sie. Es gab Gesten der Solidarität über die | |
ethnisch-nationalen Grenzen hinweg. Jüdische und arabische Geschäftsleute | |
und Krankenhäuser hängten Transparente auf: „Wir bleiben zusammen.“ Viele, | |
erzählt Rosen, wehrten sich gegen die damals kursierende Idee, Haifa in | |
jüdische und arabische Stadtteile aufzuteilen und ethnische Grenzen zu | |
ziehen. Auch die Stadtverwaltung zog aus dem Mai 2021 Konsequenzen und | |
installierte eine Moderationsstelle für jüdische-palästinensische | |
Konflikte. Das Krisenmanagement der Zivilgesellschaft nach dem 7. Oktober | |
war nur so effektiv, „weil man aus dem Mai 2021 gelernt hatte“, sagt Rosen. | |
## Die Nakba war in Haifa besonders extrem | |
Doch was macht Haifa besonders? [2][Bis 1948 waren viele Städte in | |
Palästina entweder arabisch oder jüdisch dominiert.] Haifa nicht. Die | |
Anteile der jüdischen und arabischen Bevölkerung waren hier gleich groß. Es | |
gab mal einen jüdischen, mal einen arabischen Bürgermeister. Die Tatsache, | |
dass die Stadt keine religiöse Konfliktgeschichte hatte, machte manches | |
leichter. | |
Dieses Zusammenleben endete am 22. April 1948. An diesem Tag flohen fast | |
70.000 arabische Bürger aus Angst vor der Gewalt jüdischer Militärs, die | |
vom Karmelgebirge aus die arabischen Stadtteile beschossen. Nur ein paar | |
Tausend blieben. Die Nakba, [3][die katastrophale Vertreibung und Flucht | |
der Araber aus Israel], war in Haifa besonders extrem. Jeder zehnte | |
vertriebene Palästinenser kam 1948 aus Haifa. Die meisten flohen in den | |
angrenzenden Libanon – und nahmen ihre Schlüssel mit, in der Hoffnung, bald | |
zurückzukehren. Um das zu verhindern, ordnete David Ben-Gurion im Juli 1948 | |
an, die Wohnviertel der geflohenen Araber abzureißen. Die arabische | |
Altstadt wurde damals zerstört, 227 Häuser. Nur Kirchen und Moscheen aus | |
osmanischer Zeit blieben verschont. | |
Eine dieser Moscheen, nah am Hafen gelegen, existiert noch heute. Vor der | |
Moschee steht ein markanter Turm mit einer Uhr, damals ein Zeichen, dass | |
die Osmanen in der Moderne ankommen wollten. Trotzdem muss man dieses | |
Ensemble suchen. Es liegt eingeklemmt zwischen zwei dröhnend lauten | |
Hauptverkehrsadern, davor ein gigantischer Parkplatz, dahinter ein | |
Bürohochhaus, das die Moschee um Längen überragt. Der bauchige | |
Wolkenkratzer mit Zacken in der Spitze sieht aus wie eine Rakete, er prägt | |
die Skyline der Stadt. Das Regierungsgebäude scheint mit seiner Höhe und | |
Massigkeit den arabischen Uhrturm zu erdrücken. Haifa ist eine ansehnliche | |
Stadt, dies jedoch ein selten unwirtlicher Ort. Er wirkt wie eine | |
nachträgliche Überschreibung der arabischen Geschichte, wie eine | |
architektonische Auslöschung. | |
## Die Frage der Geiselrettung spaltet die Gesellschaft | |
Die Katastrophe 1948, die Koexistenz 2025 – passt das zusammen? Rosen | |
glaubt, dass dies beides Seiten derselben Medaille sind. Die Vertreibung | |
1948 erscheint als eine Art paradoxer Voraussetzung für das heutige | |
Miteinander. Denn das habe für die jüdische Seite eine unausgesprochene | |
Bedingung. Es funktioniere nur, „weil die jüdische Mehrheit keine Angst vor | |
der Minderheit hat“. Anders gesagt: Weil das Machtgefälle aus jüdischer | |
Sicht beruhigend hoch und massiv befestigt ist. | |
Es gibt aber auch Beziehungen, die nicht durch Macht definiert sind. Rolly | |
Rosen und Fathi Marshood teilen nicht nur eine lange gemeinsame politische | |
Erfahrung. Sie kennen auch die Fluchtgeschichten ihrer Familien. Marshoods | |
Verwandtschaft wurde 1948 in den Libanon vertrieben, Rosens Eltern flohen | |
vor den Nazis. | |
Um einen Ausweg aus der Drohung der Vernichtung des je Anderen zu finden, | |
schreibt Omri Boehm in seinem Buch „Modell Haifa“, müsse man den | |
„binationalen Zionismus“ wieder beleben, der einst auch von jüdischen | |
Intellektuellen als Möglichkeit gedacht wurde. Dazu bräuchte es eine | |
„Erinnerungspolitik des Vergessens“. Vergessen könne man nur, wenn man sich | |
vorher erinnert und die Geschichte ins Recht setzt. Dazu gehöre auch die | |
Anerkennung der Nakba und des Rechts der Palästinenser, zurückzukehren. | |
So radikale Entwürfe sind fern von dem, was möglich ist. Die israelische | |
Mehrheit steht im Bann des 7. Oktobers. Benjamin Netanjahu setzt auf die | |
Bombardierung Gazas, die Opposition will mit der Hamas verhandeln, um die | |
Geiseln zu retten, und fordert ein Ende des Krieges. Die Frage der | |
Geiselrettung und die politische Zukunft Nethanjahus spaltet die | |
Gesellschaft – nicht der Krieg in Gaza, nicht die Vertreibung von | |
Zehntausenden Palästinensern im Westjordanland, die manche Gazaisierung | |
nennen. Gibt es noch realpolitische Möglichkeiten, die sowohl die jüdische | |
als auch palästinensische Bevölkerung in den Blick nehmen? | |
## Wie eingefroren saß sie vor dem Fernseher | |
Aida Touma-Sliman schaut aus dem Fenster ihres Wintergartens auf die | |
gesamte Bucht. Die Sonne geht gerade unter. Im Norden leuchtet die | |
Kleinstadt Akko, die sich an eine von Kreuzrittern gegründete Festung an | |
der Spitze des Kaps anschmiegt. Im Süden glitzern die Lichter von Haifa mit | |
seinen Wohnvierteln an den Berghängen. Unten die Hafendocks. Die Briten | |
nutzten den Hafen vor 1948 als Umschlagplatz für Erdöl aus dem Irak. Damals | |
wurde Haifa, was es heute ist: die Metropole im Norden. | |
Touma-Sliman, palästinensische Abgeordnete der Knesset, lebt noch nicht | |
lange hier im neunten Stock eines neuen Hochhauses. Ihre Wohnung im Herzen | |
von Akko hat sie nach dem Tod ihres Mannes aufgegeben. Zu viele | |
Erinnerungen, sagt sie. | |
Sie ist eine der bekanntesten, lautstärksten arabischen Politikerinnen in | |
Israel. Seit zehn Jahren ist die Feministin für das linke Bündnis | |
Chadasch-Ta’al im Parlament. Sie war die erste arabische Politikerin, die | |
den Gleichstellungsausschuss der Knesset leitete. | |
Dann kam der 7. Oktober. Aida Touma-Sliman saß am Tag des Hamas-Angriffs | |
auf den Süden Israels stundenlang wie eingefroren vor dem Fernseher. „Wie | |
alle Israelis fragte ich mich: Wo ist die Armee?“ Jede Nachricht über | |
Gräueltaten an Zivilisten in den Kibbuzen machte klar, dass nichts mehr | |
sein würde wie zuvor. Sie versuchte einen Freund, einen Genossen, zu | |
erreichen, der dort im Süden wohnte. Er nahm nicht ab. Nach Stunden kam | |
eine SMS: „Wir sind im Safe-Room, aber wir können sie hören.“ Sie, die | |
Hamas. „Es war eine schizophrene Situation“, sagt Touma-Sliman. Sie | |
fürchtete um das Leben ihrer Freunde. Und hatte wie viele Palästinenser | |
finstere Ahnungen, was kommen, welchen Gewaltorkan Israel entfesseln würde. | |
Egal, wie scharf sich Chadasch vom Terrorangriff der Hamas distanzierte, | |
„es hat nie gereicht“. Sie, die laute Oppositionelle, geriet ins Fadenkreuz | |
der israelischen Mehrheit. Politiker, die Touma-Sliman seit Jahren kannte, | |
gingen ihr in der Knesset aus dem Weg. Die verbalen Attacken der | |
Rechtsextremen waren so heftig, dass ihr der Knesset-Sicherheitsdienst | |
riet, sich im Parlament nicht mehr ohne Begleitschutz zu bewegen. | |
## Die Logik des Ausnahmezustands | |
Als sie eine BBC-Meldung retweetete, in der von einem möglichen Einsatz von | |
Phosphor in Gaza die Rede war, brach ein Shitstorm über sie los. Sie wurde | |
– wegen eines BBC-Beitrags – für Monate aus der Knesset verbannt. „Meine | |
parlamentarische Immunität war wertlos. Linke Juden und arabische Israelis | |
sollten zum Schweigen gebracht werden. Wir sollten einfach verschwinden.“ | |
Es regierte die Logik des Ausnahmezustands. Freund oder Feind. Wenn sie von | |
den vergangenen Monaten spricht, ist es, als ergäben Normalität und | |
Ausnahmezustand ein irritierendes Gewebe voller Risse. | |
Die Sonne ist untergegangen. Aida Touma-Sliman erzählt stolz, nach zwei | |
Jahren Arbeit eben ein Gesetz durchgeboxt zu haben: Im Sozialministerium | |
wird eine Behörde zur Armutsbekämpfung eingerichtet. Das ist auch ihr | |
Erfolg. Dafür hat die säkulare Linksfeministin mit Schas, der Partei der | |
Ultraorthodoxen, zusammengearbeitet. Von der Behörde soll die Unterschicht | |
profitieren. Und dazu gehören Ultraorthodoxe, die Schas wählen, und | |
arabische Israelis, deren Interessen Chadasch vertritt. Touma-Sliman ist | |
Realpolitikerin – in irrealen Zeiten. | |
In der Knesset läuft alles wieder halbwegs normal. Die Abgeordneten, die | |
sie nach dem 7. Oktober schnitten, „lächeln mir wieder zu“, sagt | |
Touma-Sliman. Für die jüdischen Israelis ist wieder vieles wie früher | |
geworden. Für arabische Israelis wie sie und Fathi Marshood ist die | |
Rückkehr der Normalität eine Fortsetzung ihrer schizophrenen Lage. Die | |
Netanjahu-Regierung scheint diesen Krieg immer weiter fortsetzen zu wollen. | |
In Gaza, sagt Touma-Sliman, „sterben unsere Leute“. Immer weiter, immer | |
mehr. | |
Es ist eine Katastrophe, die sie nicht ausblenden kann, eine Katastrophe, | |
die sie bewohnen muss. 80 Prozent der jüdischen Israelis unterstützen den | |
Krieg in Gaza. Und sehen nur jüdisches Leid, nicht jenes, das das | |
israelische Militär verursacht. Auch in den Anti-Netanjahu-Demonstrationen | |
spielt der fortwährende Krieg in Gaza nur eine Nebenrolle. | |
Seit das israelische Militär Gaza bombardiert, seit über 500 Tagen, geht | |
Touma-Sliman nicht mehr auf Hochzeiten, nicht mehr auf Feste. Steht kein | |
Weihnachtsbaum in ihrer Familie an Heiligabend. Weil nichts mehr normal | |
ist, und weil es sich für sie falsch anfühlt, so zu tun. „Nichts gilt mehr | |
im Angesicht von Gaza. Wir müssen über alles neu nachdenken“, sagt sie | |
ernst. Vielleicht müsse der Widerstand gegen diesen Krieg auf alte | |
Erfahrung zurückgreifen. Auf den Kampf gegen die Apartheid in Südafrika. | |
Oder den antifaschistischen Widerstand gegen Mussolini. Jetzt müsse man die | |
rechte Revolution in Israel überstehen. | |
„Faschisten wie Ben-Gvir wollen nicht mehr nur einen palästinensischen | |
Staat verhindern. Sie wollen ethnische Säuberungen in Gaza und im | |
Westjordanland“, sagt sie. Aida Touma-Sliman praktiziert täglich einen | |
komplizierten Spagat – zwischen Realpolitik und der Erkenntnis, dass in | |
Anbetracht des Todes 150 Kilometer im Süden alles anders ist. | |
Und die Republik Haifa? Ein gemeinsamer Staat? Ein Land, in dem alle die | |
gleichen Rechte hätten, sei „ein schöner Traum“, sagt sie. Aber „derzeit | |
illusionär“. Jetzt gehe es nicht um Theorien oder Visionen. „Was wir jetzt | |
brauchen“, sagt sie, „ist das Ende des Leids.“ | |
20 Apr 2025 | |
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