| # taz.de -- Philosoph Omri Boehm über Israel: „Gegen ethnischen Nationalismu… | |
| > Die Idee einer jüdischen Demokratie sei ein Widerspruch in sich, sagt | |
| > Omri Boehm. Und plädiert für eine binationale Republik. | |
| Bild: Omri Boehm über die Nakba: „Erinnerung dient in diesem Fall der Zukunf… | |
| taz: Herr Boehm, Sie schreiben in Ihrem Buch [1][„Israel – eine Utopie“] | |
| wiederholt von Elefanten im Raum, über die niemand spricht. Was sind für | |
| Sie die wichtigsten Tabus, die unbedingt gebrochen werden müssten? | |
| Omri Boehm: Das erste ist die Idee einer jüdischen Demokratie. Der Wunsch, | |
| einen jüdischen Staat ins Leben zu rufen, war in den späten 1940er Jahren | |
| absolut verständlich. Das ändert aber nichts daran, dass eine „jüdische | |
| Demokratie“ ein Widerspruch in sich ist. Ein demokratischer Staat muss in | |
| Fragen der Ethnizität neutral bleiben und alle seine Bürger als Souverän | |
| begreifen. Ein jüdischer Staat garantiert aber die Souveränität des | |
| jüdischen Volkes, nicht der Staatsbürger als solcher. Wer würde es in | |
| Deutschland unterstützen, den jüdischen Bürgern zu sagen, dass sie nicht | |
| zum deutschen Staatsvolk gehören? Nur die schlimmsten AfD-Unterstützer. In | |
| Israel nimmt man das hin. | |
| Warum geben Sie dem oberste Priorität? | |
| In dem Maße, wie Israel sich von der sogenannten [2][Zweistaatenlösung] | |
| entfernt, sind Juden nicht einmal mehr die Mehrheit im Land. Die | |
| Alternative ist also, entweder den Staat immer jüdischer und immer weniger | |
| demokratisch zu machen oder darüber nachzudenken, wie wir Israel | |
| demokratischer machen können, ohne den gerechtfertigten Wunsch des | |
| jüdischen Volkes nach einem eigenen Staat aufzugeben. Darum geht es in | |
| meinem Buch. Es scheint unmöglich, aber das ist es nicht. Das war im | |
| Gegenteil der Wunsch der ursprünglichen Zionisten, und es gibt reale | |
| Möglichkeiten, sich das jetzt vorzustellen. | |
| Tatsächlich? Was lässt Sie glauben, Ihre Vorstellung einer binationalen | |
| Republik könnte irgendwie realistisch sein? | |
| Wir müssen doch eine demokratische Politik entwickeln, die sowohl zur | |
| Zweistaatenlösung als auch zum Status quo eine Alternative bietet. Derzeit | |
| gibt es da nichts anderes als ein binationales Programm, wie ich es | |
| vorschlage. Wir müssen daran arbeiten, das zu einem ernstzunehmenden | |
| politischen Vorschlag auszubauen – diese Utopie ist die nächste | |
| Realpolitik. Ihr Kollege Klaus Hillenbrand hat in der taz eine | |
| [3][interessante Kritik] geschrieben, in der er argumentiert, mein Plan | |
| ginge auf die unpolitischen Fantasien der Brit-Schalom-Bewegung zurück. | |
| Aber das ist ein Missverständnis: Mein Programm geht auf Menachem Begin | |
| 1977 zurück, nicht auf Brit Schalom. Begins Plan wurde in der Knesset | |
| vorgeschlagen und angenommen! Die Aufgabe ist es, ein ähnliches Programm zu | |
| rehabilitieren. Auch das ist, ohne Zweifel, sehr schwierig. | |
| Und das zweite Tabu? | |
| Die Unmöglichkeit der Zweistaatenlösung. Es scheint undenkbar, die | |
| Zweistaatenpolitik aufzugeben, denn man braucht einen palästinensischen | |
| Staat, um nicht „zu viele“ Nicht-Juden in Israel zu haben. Aber es wird | |
| keine Zweistaatenlösung geben, und wir können es uns nicht leisten, diese | |
| Realität einfach wegzuschieben. | |
| Sie beschreiben den Holocaust als Kern des israelischen Gründungsmythos und | |
| fordern, wir müssten lernen, den Holocaust zu vergessen. | |
| Mit vergessen meine ich, besser zu erinnern. Wir erinnern uns derzeit auf | |
| eine sehr spezielle Weise an den Holocaust, die letztlich einer falschen | |
| Politik dient. Aber dazu ist die Erinnerung an den Holocaust zu wichtig. | |
| Diese Art und Weise muss sich ändern und in diesem Sinne vergessen werden. | |
| Anders wird die Erinnerung keine Zukunft haben. | |
| Was heißt das? | |
| Die Erinnerung an den Holocaust sollte in Israel eine bürgerliche, | |
| patriotische Pflicht aller Bürger sein – und eine feste Bindung an den | |
| Universalismus. Im Gegensatz dazu befördert die Holocaust-Erinnerung | |
| derzeit eine Identitätspolitik nur für die Juden, nicht für alle Bürger, | |
| und ein mythisches Verständnis des jüdischen Staates als heiliges Gebilde. | |
| Das steht der Eigenschaft der Staatsbürgerschaft als demokratischem, | |
| vereinigendem Prinzip von Juden und Arabern im Weg. Wir müssen uns auch | |
| erinnern, dass unser Konflikt mit den Palästinensern kein Konflikt mit den | |
| Nazis ist. In diesem Land, wo Juden und Araber das Zusammenleben werden | |
| lernen müssen, werden sie auch lernen müssen, gemeinsam zu erinnern. Woran | |
| Menschen sich erinnern, das können sie auch hinter sich lassen. | |
| Also ist die Erinnerung doch das Wichtigste? | |
| In diesem Sinne ja, und das gilt auch für die Nakba, also die Vertreibung | |
| von rund 700.000 Palästinensern 1948. In Israel wird darüber nicht | |
| gesprochen, so als sei es nie passiert. Und weil es die öffentliche | |
| Erinnerung nicht gibt, können wir es nicht hinter uns lassen. Wir werden | |
| ständig davon verfolgt. Wir sehen das jetzt, da die Politik der Nakba | |
| wiederkommt, sowohl auf der Rechten als auch in der Mitte. Erinnerung dient | |
| in diesem Fall der Zukunft, nicht der Vergangenheit: Wenn es keine | |
| demokratische Alternative gibt, ist eine zweite Nakba möglich, nicht „nur“ | |
| [4][Apartheid]. | |
| Warum ist das Sprechen über die Nakba ein Tabu, wenn doch bis heute die | |
| Meinung vorherrscht, dass sie notwendig war, um eine jüdische | |
| Bevölkerungsmehrheit in einem jüdischen Staat aufzubauen? | |
| Wenn die Nakba notwendig war, zeigt das die Problematik des Zionismus, denn | |
| dieses Konzept eines jüdischen Staates bedeutet ethnischen Nationalismus. | |
| Wir können den historischen Kontext dessen debattieren, was 1948 gemacht | |
| wurde, so kurz nach dem Ende des Holocausts. Aber dass es nie hätte | |
| passieren dürfen, sollte nicht infrage gestellt werden. | |
| Aber sowohl Leugnung der Vertreibung als auch die Betonung ihrer | |
| Notwendigkeit gehen doch genau in die andere Richtung? | |
| Die Frage ist, wie wir heute damit umgehen. Wie konstruieren wir einen | |
| jüdischen Staat im 21. Jahrhundert, der keine zweite Nakba braucht, um eine | |
| jüdische Mehrheit zu haben und eine jüdische liberale Demokratie zu sein? | |
| Derzeit scheint die Debatte dahin zu laufen, das Problem entweder zu | |
| ignorieren oder im Namen des Zionismus in Richtung einer zweiten Nakba zu | |
| schlittern. Die andere Alternative wäre, sich vom Zionismus zu | |
| verabschieden. Ich halte beides für falsch und schreibe im Buch: Wir können | |
| es uns leisten, härter nachzudenken. Wir können den Idealen des Zionismus, | |
| dass Juden nationale Selbstbestimmung brauchen, ohne ethnischen | |
| Nationalismus, treu bleiben. | |
| Sie hadern mit dem, was in siebzig Jahren der Existenz des Staates Israel | |
| im Namen des Zionismus gemacht worden ist, versuchen aber dennoch um jeden | |
| Preis, den Zionismus als Vorstellung zu erhalten. Warum? | |
| Es gibt für mich keinen akzeptablen Weg vorwärts, ohne auf dem Recht der | |
| Juden auf nationaler Selbstbestimmung zu bestehen. Auch realpolitisch geht | |
| sonst nichts voran. Mein Projekt ist es, zu lernen, wie man dieses Recht | |
| demokratisch leben kann. | |
| Mir ist aufgefallen, dass die Araber, die Palästinenser, in Ihrem Buch als | |
| handelnde Akteure fast gar nicht vorkommen, nur als Opfer. | |
| Ich sehe das genau umgekehrt. Derjenige, dessen Gedanken im Buch am besten | |
| wegkommen, ist der arabische Knesset-Abgeordnete Ahmad Tibi, auf dessen | |
| Holocaust-Gedenkrede ich eingehe. Um sicher zu sein: Araber sind nicht nur | |
| Opfer und nicht nur tolle Politiker. Natürlich gibt es Rassismus, | |
| Antisemitismus und anti-israelischen Terrorismus in der arabischen | |
| Community. Aber man macht es den Nationalisten zu einfach, indem man immer | |
| mit dem Finger auf die Hamas zeigt und sagt: Mit denen kann man nicht | |
| leben. Wenn man das macht, verliert man, bevor man gekämpft hat. Die | |
| [5][Vereinte Liste] der arabischen Parlamentarier, geführt von Ayman Odeh, | |
| Ahmad Tibi und anderen, das sind die besten Leute, mit denen man zurzeit | |
| arbeiten kann, um binationale Visionen voranzubringen. | |
| Die Vereinte Liste hat aber nur 15 von insgesamt 120 Sitzen in der Knesset. | |
| Ein bisschen wenig zum Aufbau Ihrer binationalen Republik, finden Sie | |
| nicht? | |
| Die Vereinte Liste hat ihren Anteil unter jüdischen Wählern in den letzten | |
| fünf Monaten mehr als verdoppelt. Mein Vater, Reserveoffizier, Sohn von | |
| Holocaust-Überlebenden und lebenslanger liberaler Zionist, hat die Vereinte | |
| Liste gewählt. Die Arbeitspartei ist verschwunden, Meretz ist am | |
| Zusammenbrechen, weil inzwischen jeder in Israel weiß, dass die | |
| Zweistaatenlösung, die sie beharrlich gepusht haben, nicht kommen wird. | |
| Wenn die Vereinte Liste jetzt mehr und mehr jüdische Repräsentanten | |
| aufnimmt und einen guten Wahlkampf auf Hebräisch führt, dann kann sie eine | |
| neue Basis aufbauen und vielleicht auf 23 bis 25 Abgeordnete kommen. | |
| Das sind immer noch nicht einmal ein Viertel der Abgeordneten. | |
| Ja, aber dann wäre sie die stärkste Oppositionspartei, und das gibt ihr | |
| andere Möglichkeiten, Alternativen aufzuzeigen. Das ist ein Anfang. Und | |
| dazu kommt die liberale Rechte. Sie war historisch gesehen immer sehr offen | |
| gegenüber der Idee einer multinationalen Entität – siehe den Plan Begins. | |
| Israels Staatspräsident [6][Reuven Rivlin] unterstützt bis heute eine | |
| [7][Ein-Staat-Lösung] und sagt von sich, dass er Demokrat ist – also wie | |
| weit weg ist er von meinem Vorschlag einer binationalen Republik. Und auch | |
| manche [8][Siedler] könnten sich so einem Programm viel eher anschließen | |
| als der Zweistaatenlösung, weil die ihre Evakuierung bedeuten würde. | |
| Was würden Sie sich von deutschen Intellektuellen und deutscher Politik | |
| erhoffen? | |
| Verantwortungsvoll über Israel zu sprechen. Und das heißt, sich nicht daran | |
| zu ergötzen – und diese Tendenz gibt es auch –, Israel als einen | |
| kriminellen Staat anzuprangern. Aber auch nicht – und das ist die andere | |
| Tendenz – einfach gar nichts zu sagen. Die deutsche Tendenz zur | |
| Zurückhaltung kommt aus einer verständlichen Angst, mit einer Kritik | |
| antisemitisch zu handeln, also die eigentlichen Opfer anzugreifen und sie | |
| als Täter darzustellen. Aber nicht über Israel zu sprechen bedeutet, Israel | |
| zu einem heiligen, mystischen „Anderen“ zu erklären. Etwas, über das wir | |
| nicht rational nachdenken dürfen, das schon eine Tür zum Antisemitismus | |
| öffnet. Die einzige Antwort auf den Antisemitismus wäre die Fähigkeit – | |
| keine einfache in Deutschland –, die Juden als ganz normale Leute und den | |
| Staat Israel als eine ganz normale politische Einheit zu betrachten. | |
| Sie sagen, der derzeitigen israelischen Regierung wäre eine AfD-geführte | |
| Bundesregierung viel lieber als eine CDU- oder SPD- oder Grünen-geführte. | |
| Warum das denn? | |
| Das ist einfach eine Tatsache. Unter israelischen Juden gibt es derzeit | |
| fast einen vollständigen Konsens der Zustimmung zu [9][Trumps Deal des | |
| Jahrhunderts], Annexionen usw. Dazu braucht Israel internationale | |
| Unterstützung. Die bekommt es von denen, die mit Israels Regierung die Idee | |
| des ethnischen Nationalismus teilen: von Donald Trump, von Brasiliens | |
| Bolsonaro, Viktor Orbán. Deutschland ist der wichtigste Unterstützer | |
| Israels in Europa und der zweitwichtigste weltweit, aber [10][anders als | |
| Trump lehnt es die Annexionen ab]. Eine AfD-Regierung würde das nicht tun. | |
| Obwohl da Nazis und offene Antisemiten dabei sind? | |
| Erinnern Sie sich an Charlottesville, wo US-Nazis mit Hakenkreuzen | |
| aufmarschierten und riefen „Jews will not replace us!“ (Juden werden uns | |
| nicht ersetzen)? Donald Trump nannte sie „gute Leute“. Ist das besser als | |
| die AfD? Israels Regierung sagte gegen diese Äußerung Trumps so gut wie gar | |
| nichts – er gilt als unser bester Freund. Stimmt, [11][die AfD ist deutsch, | |
| und wenn so was mit deutschem Akzent kommt, ist das unerfreulich]. Das ist | |
| aber der Punkt: Wie Trump wird sich die AfD als diejenige darstellen, die | |
| als einzige aus der Geschichte wirklich gelernt hat, weil sie Israel ohne | |
| Wenn und Aber unterstützen kann. Wir müssen darauf bestehen: Die Erinnerung | |
| an den Holocaust muss den Universalismus befördern, nicht den | |
| Nationalismus. Nicht in Israel und auch nirgendwo sonst. | |
| 16 Aug 2020 | |
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