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# taz.de -- Zipi Livni über Israels Annexionspläne: „Ein schwerer Schlag“
> Israels frühere Außenministerin lehnt die bevorstehende Annexion im
> Westjordanland ab. Sie gehe viel zu weit und gefährde den Frieden in der
> Region.
Bild: Ein palästinensischer Schäfer führt seine Herde entlang einer jüdisch…
taz: Frau Livni, Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hat für den 1.
Juli den Beginn der [1][Annexion im besetzten Westjordanland] angekündigt.
Bislang passiert nichts. Haben Sie eine Idee, worauf er wartet?
Zipi Livni: Hoffen wir, dass es gar nicht erst dazu kommen wird. Ich
vermute, dass die Regierung auf eine Positionierung der USA wartet. Meiner
Meinung nach sollte die Entscheidung für oder wider eine Annexion eine
israelische sein. Eine Annexion steht im Widerspruch zu den israelischen
Interessen, sie beeinträchtigt die Möglichkeiten, zu einer Einigung mit den
Palästinensern und überhaupt mit der arabischen Welt in der Region zu
kommen. Und sie könnte zu einer Situation führen, in der wir anstelle von
zwei Nationalstaaten, in dem jeder Staat für sein Volk zuständig ist, mit
nur einem Staat zwischen Mittelmeer und Jordan zurechtkommen müssen, in dem
der Konflikt andauert.
Würde eine Annexion die Zweistaatenlösung endgültig vom Tisch räumen?
Es wäre nahezu unmöglich, diese Lösung dann noch umzusetzen. [2][Die
Annexion, wie sie in Trumps Plan] umrissen wird, umfasst rund 30 Prozent
von dem Gebiet des Westjordanlands. Ich habe zwei Mal, erst als Außen-,
später als Justizministerin Israels, Verhandlungen mit der
Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) geführt. Es war immer klar,
dass es Grenzanpassungen geben muss, denen auch die Palästinenser
zustimmen würden. Aber 30 Prozent – da geht es nicht nur um israelische
Siedlungen, sondern wir würden palästinensische Städte wie in Blasen mitten
in israelischem Gebiet zurücklassen. Damit wäre es praktisch unmöglich,
einen wie auch immer gearteten lebensfähigen palästinensischen Staat zu
schaffen. Die Annexion von diesem Umfang stand nie zur Diskussion. Sie
würde auch mit Blick auf die innerisraelische Situation eine Lösung
erschweren, denn bevor ein Gebiet dieser Größenordnung wieder aufgegeben
werden könnte, müsste es einen Volksentscheid geben. Letztendlich ist der
Plan, in den annektierten Gebieten weitere Siedlungen zu bauen. Ohne
Zweifel wäre eine Annexion ein schwerer Schlag für die Perspektiven, jemals
eine Friedenslösung zu erreichen.
Welche weiteren negativen Konsequenzen könnte die Annexion haben?
Es könnte unmittelbar neue Gewalt geben, sie könnte Auswirkungen auf den
Friedensvertrag mit Jordanien haben, die Chancen, mit weiteren arabischen
Staaten in der Region eine Normalisierung der Beziehungen zu erreichen,
beeinflussen wie auch die Beziehungen zwischen Israel und der freien Welt.
Selbst wenn die Welt zu allem Ja sagen würde, dann bedeutete eine Annexion,
dass eine Trennung von den Palästinensern im Grunde nicht mehr möglich ist.
Wir bewegen uns auf nur einen Staat zu. Der Schaden, den das auf die
Identität Israels als jüdischer und demokratischer Staat hat, ist
unerträglich. Um die Vision eines jüdischen Staates, in dem vollständige
Gleichberechtigung für alle Bürger herrscht, wäre es damit geschehen. Die
einzige Lösung kann nur ein Staat für jedes Volk sein. Eine gerechte Lösung
für die Palästinenser und für die Juden. Ich will meine Kinder und Enkel
nicht vor die Wahl stellen, jüdisch oder demokratisch zu sein.
Wenn man einmal umgekehrt auf die Annexion blickt – wie kam es überhaupt zu
dieser Idee? Welcher Vorteil ergibt sich für den Staat Israel daraus, Teile
des Westjordanlands zu annektieren?
Wer meine politische Meinung teilt, dass Israel sowohl jüdisch als auch
demokratisch sein sollte, kann einer Annexion nur ablehnend
gegenüberstehen. Aber es gibt eine andere Gruppe, deren GPS anders
funktioniert. Was sie antreibt, ist Großisrael, das ungeteilte biblische
Erez Israel. Sie sagen: Weil das jüdische Volk ein Recht auf das gesamte
Land zwischen Mittelmeer und Jordan hat, setzen wir das mittels Annexion
um. Der Streit geht nicht darum, wer das Recht auf das Land hat, sondern
darum, wie die beiden Völker friedlich voneinander getrennt werden können.
Ich bin für den Staat Israel in Erez Israel, aber nur auf einem Teil davon.
Hier arbeiten zwei grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen. Man könnte
sagen: unterschiedliche Wertesysteme.
Immer mehr Israelis und auch Palästinenser, die durchaus an einer
Friedenslösung interessiert sind, glauben heute schon nicht mehr an
Frieden, ob mit oder ohne Annexion. Ist die Zweistaatenlösung noch zu
retten?
Mir ist klar, dass auf beiden Seiten kaum noch das Vertrauen besteht, dass
ein Frieden überhaupt noch möglich sei. Ich sage auch nicht, dass der
Frieden hinter der nächsten Straßenecke auf uns wartet, aber ich bin
überzeugt davon, dass wir es uns nicht erlauben können aufzugeben. Auch
wenn die Chancen nicht gut stehen, müssen wir die Tür offenhalten, und was
die Annexion macht, ist, die Tür zuzuknallen. Israel steht in der Pflicht,
die Tür offenzuhalten – keine Annexion, kein Bau von Siedlungen. Wir
sollten an der Hoffnung festhalten, dass es einen Frieden geben wird.
[3][Bei den letzten Verhandlungen 2013] hatte man den Eindruck, dass Sie
und der palästinensische Unterhändler Saeb Erekat unbedingt eine Einigung
erreichen wollten. Wie dicht waren Sie damals schon dran?
Es gibt einige Probleme, wo wir ein ganzes Stück vorangekommen sind, andere
nicht.
Wo war es besonders schwierig?
Es gibt Themen, bei denen beide Seiten empfindlich sind, wie die heiligen
Stätten in Jerusalem, das, was die Palästinenser als das Rückkehrrecht
bezeichnen und das natürlich nicht mit dem Prinzip der zwei Staaten zu
vereinbaren ist. Ich glaube, dass wir trotz alledem seit Unterzeichnung der
Osloer Prinzipienerklärung 1993 große Fortschritte gemacht haben. Wenn Sie
heute die beiden Konfliktparteien fragen, wie ein Friedensvertrag aussehen
solle, dann kämen wir auf ein sehr ähnliches Ergebnis, angefangen mit den
Clinton-Parametern, über die Kerry-Obama-Vorschläge. Deshalb ist es so
tragisch, dass wir, nach all diesen Jahren der Fortschritte, heute
feststecken. Der Friedensplan von Trump wirft uns zurück. Die Palästinenser
wollen gar nicht mehr verhandeln, und auch in Israel wächst die Auffassung,
dass es eine für uns angenehmere Lösung gibt als die der zwei Staaten.
Was sagen Sie Leuten, die meinen, dass Verhandlungen ohnehin zu nichts
führen, solange die Palästinenser untereinander zerstritten sind – die
Hamas in Gaza, die Fatah im Westjordanland?
Die Teilung betrifft nicht nur die Palästinenser, sondern sie zieht sich
durch die gesamte arabische Welt. Die eine Gruppe von Staaten und
Organisationen sagt: Okay, wir haben einen Konflikt mit dem Staat Israel,
aber wir versuchen zu einer Lösung zu kommen, zwei Staaten – Israel und
Palästina – und anschließend zur Normalisierung der Beziehungen. Und es
gibt die Gruppe derer, die sich in einem religiösen Kampf gegen Israel
befinden. Religiöse Konflikte sind nicht lösbar. Die Hamas ist eine
Terrororganisation, so definiert sie auch die EU. Deshalb unterscheide ich
zwischen der palästinensischen Führung im Westjordanland, mit der wir einen
Konflikt haben, die aber wie wir die Zweistaatenlösung anstrebt, und der
Hamas, die nicht bereit ist, einem Ende des Konflikts zuzustimmen. Die PLO
hat das Mandat, Verhandlungen mit Israel zu führen. Wir können nicht auf
die palästinensische Einheit warten, die möglicherweise radikaler ist als
die heutige palästinensische Führung. Die Zeit arbeitet gegen die, die sich
die Zweistaatenlösung wünschen.
Sie kommen aus einem sehr rechten Elternhaus. Können Sie sich an ein
Schlüsselerlebnis zurückerinnern, wo Sie angefangen haben, die Richtung zu
verändern und sich mehr in die Mitte oder nach links zu orientieren?
Meine Eltern haben an das Recht des jüdischen Volkes auf einen Staat
geglaubt. Und an volle Gleichberechtigung für alle Bürger auch der
arabischen Minderheit. Im Grunde verfolge ich dasselbe, wenn ich für ein
demokratisches Israel mit Gleichberechtigung aller seiner Bürger kämpfe. Es
darf nicht sein, dass Israel die Souveränität über das gesamte Land hat und
Palästinenser nicht das Recht, an Wahlen teilzunehmen. Und in dem Moment,
wo die Palästinenser wählen, ist Israel nicht mehr derselbe Staat – kein
jüdischer Staat, sondern ein Staat zweier Nationen.
Warum ist es so schwer, die Israelis von diesen Werten zu überzeugen?
Der Frieden scheint weg zu sein im Augenblick, es gibt Terror, und wie
überall in der Welt ist die politische Debatte populistisch, aber wenn eine
Führung zu einer Einigung mit den Palästinensern gerät, dann wird die
Mehrheit dem zustimmen. Der Frieden war in den letzten drei Wahlkämpfen
kein Thema. Wir brauchen eine Führung, die um diese Werte kämpft. Wir
müssen um Liberalismus und Demokratie kämpfen, eine Identität schaffen, die
sich aus diesen Werten zusammensetzt, ein neues Selbstwertgefühl. Aktuell
haben wir es mit dem Phänomen zu tun, dass ein nationaler Staat
augenscheinlich nicht mit der Globalisierung kompatibel ist. Und das
betrifft keineswegs nur Israel.
Ist die Demokratie in Gefahr?
In den letzten Jahren beobachten wir besorgniserregende Entwicklungen,
darunter Angriffe gegen die Gerichte, gegen die Medien und grundsätzlich
die Rechtsstaatlichkeit. Was mir ernsthafte Sorgen bereitet, ist, dass die
Annexion innerhalb von nur drei Jahren zu einem Beinahe-Konsens geworden
ist und dass die politische Debatte so populistisch ist.
21 Jul 2020
## LINKS
[1] /Israels-Annexionsplaene/!5693323
[2] /Ex-Minister-ueber-Israels-Annexionsplaene/!5693324
[3] /Israel-und-Palaestinenser-verhandeln/!5062759
## AUTOREN
Susanne Knaul
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