# taz.de -- Konflikt zwischen Israel und Hamas: Humanismus und Alltagsterror | |
> In Nahost eskaliert die Gewalt. Die Hamas schickt Brandballons, Israel | |
> verschärft die ohnehin katastrophale Lage in Gaza mit Kollektivstrafen. | |
Bild: Die Fischereizone vor der Küste hat Israel als Reaktion auf Ballon- und … | |
TEL AVIV taz | Es sind nur 400 Meter Luftlinie, die zwischen der kleinen | |
Gemeinde Netiv HaAsara im Süden Israels und der palästinensischen Stadt | |
Beit Lahia im Gazastreifen liegen. Dazwischen verläuft eine kilometerlange | |
Sperranlage aus Zäunen, Wachposten, Sensoren und Pufferzonen. Auf | |
israelischer Seite ist aus der Ferne der Muezzin zu hören, der zum Gebet | |
auffordert. Roni Keidar, Mitte 70, kennt die Melodie gut. Seit beinahe 40 | |
Jahren lebt sie mit ihrer Familie in Netiv HaAsara. | |
Unerträglich seien die letzten Tage gewesen, erzählt sie am Telefon. | |
Raketen seien eingeschlagen, das Dorf habe gebrannt, die Menschen stünden | |
unter Druck. Die zweite Woche in Folge fliegen Ballons mit Brandflaschen | |
oder Sprengsätzen über die Grenze nach Israel und lösen Feuer aus, die | |
Ackerland beschädigen. Israel beschoss in der Nacht zu Donnerstag Ziele der | |
Hamas, der militanten Regierungskraft in Gaza. Am Dienstag hatte die Hamas | |
zum zweiten Mal in dieser Woche eine Rakete abgefeuert. Zwei Mädchen in | |
Aschkelon wurden leicht verletzt, als sie zum Luftschutzbunker rannten. | |
„Ich sehe die Ballons und die verbrannte Erde hier und schreibe meinen | |
Freunden in Gaza auf Whatsapp: ‚Ich weiß, was euch morgen erwartet.‘“ Da… | |
meint Keidar die Vergeltungsanschläge der israelischen Armee, die nach den | |
anhaltenden Angriffen Ziele in Gaza beschießt. Israels Präsident Reuven | |
Rivlin warnte die Hamas am Dienstag vor einem Krieg, sollte sich die Lage | |
nicht beruhigen. | |
Der erneute Gewaltausbruch kommt zu einer symbolträchtigen Zeit: 15 Jahre | |
ist es her, dass im August 2005 auf Initiative von Israels damaligem | |
Regierungschef Ariel Scharon die Häuser von knapp 9.000 jüdischen | |
Siedler*innen in Gaza geräumt wurden. Zwar regiert seit 2007 intern die | |
Hamas das Gebiet, doch kontrolliert Israel alle äußeren Angelegenheiten: | |
den Grenzübergang für Warenlieferungen, den Luftraum, die Fischereizone | |
sowie die Ein- und Ausreise nach [1][Israel] und in das palästinensische | |
Westjordanland. | |
Auch der Grenzübergang zwischen Gaza und Ägypten ist für Warenlieferungen | |
geschlossen und nur sporadisch für Personen geöffnet, weshalb Kairo | |
beschuldigt wird, für die Blockade mitverantwortlich zu sein. Hinter der | |
israelisch-ägyptischen Allianz stehen gemeinsame Sicherheitsinteressen. | |
## Israelischer Rückzug aus Gaza | |
Bis 2005 hatte Israel durch Militärstützpunkte und 21 jüdische Siedlungen | |
rund ein Viertel des dicht besiedelten Gazastreifens kontrolliert. Die | |
palästinensische Frauenrechtlerin Andlib Adwan erinnert sich an den Sommer | |
2005. „Die Menschen tanzten auf den Straßen und Tausende stürzten an den | |
Strand, denn so viele hatten noch nie das Meer gesehen.“ Teile der Küste | |
des Gazastreifens waren damals unter israelischer Kontrolle. „Auch ich | |
konnte plötzlich meine Familie im Flüchtlingslager Rafah besuchen, ohne | |
stundenlang am Checkpoint zu warten“, erzählt sie. | |
Die 55-Jährige wurde als eines von 13 Kindern in dem palästinensischen | |
Flüchtlingslager im Süden Gazas geboren. Heute leitet sie das Community | |
Media Center in Gaza-Stadt. Wie Adwan stammt ein Großteil von Gazas | |
Bevölkerung aus Familien, die 1948 im Krieg mit Israel zu Flüchtlingen | |
wurden und im Gazastreifen Zuflucht fanden. | |
Schon 2005 stand für Adwan fest, dass der unilaterale Abzug ein Manöver der | |
israelischen Regierung war, der mit strategischen Überlegungen | |
zusammenhing. Die Kontrolle über Gaza und die dortigen Siedlungen war eine | |
wirtschaftliche, militärische und diplomatische Belastung für Israel | |
gewesen. Wenige Monate später, im Winter 2006, ging die Hamas als stärkste | |
Kraft in Gaza und im Westjordanland aus einer Wahl hervor und übernahm 2007 | |
gewaltsam die Kontrolle in Gaza. | |
„Sie behaupteten, sie hätten den Israelis Angst eingejagt, und dass sie | |
deshalb abgezogen seien“, erinnert sich Adwan. Im selben Jahr, als die | |
Siedlungen geräumt wurden, schuf die israelische Regierung aber auch Raum | |
für Tausende [2][neue Siedler*innen im Westjordanland] – ein Gebiet, die | |
man langfristig einfacher an Israel anschließen konnte als den | |
überbevölkerten Gazastreifen. | |
## Taktik der Kollektivstrafe | |
„Bereits seit der Besatzung von Gaza 1967 war der Streifen wirtschaftlich | |
und infrastrukturell von Israel und dem Westjordanland abhängig und durfte | |
kaum wirtschaftliche Strukturen entwickeln“, erklärt Sari Bashi. Die | |
Anwältin für Menschenrechte gründete 2005 die israelische Organisation | |
Gisha, die sich für Bewegungsfreiheit von Palästinenser*innen einsetzt. | |
Während vor der zweiten Intifada im Jahr 2000 Hunderttausende aus Gaza | |
täglich im Niedriglohnsektor in Israel arbeiteten, darf heute nur ein | |
Bruchteil der fast zwei Millionen Einwohner*innen mit Gewerbegenehmigung | |
oder auf humanitärer Grundlage nach Israel und ins Westjordanland | |
einreisen. | |
Die andauernde Blockade wird von der israelischen Regierung mit Sicherheit | |
vor terroristischen Anschlägen begründet. Wenn die Hamas wie in der | |
jüngsten Eskalationsrunde Raketen abfeuert oder Brandballons schickt, | |
wendet Israel die Taktik der Kollektivstrafe an: Vergangene Woche wurde als | |
Reaktion auf Angriffe der einzige Grenzübergang für Warenlieferungen nach | |
Gaza geschlossen, die Fischereizone vor der Küste wurde komplett gesperrt, | |
Treibstofflieferungen wurden untersagt. Letzteres bedeutet für die Menschen | |
in Gaza, statt mit acht bis zwölf Stunden Elektrizität am Tag mit nur vier | |
zurechtkommen zu müssen. | |
Bashi kann in dieser Strategie der Abschreckung keine Logik erkennen: „Die | |
Hamas verletzt mit ihren Handlungen [3][gegen israelische Zivilisten] | |
eindeutig internationales Recht“, sagt sie, „aber wie ist den israelischen | |
Bürgern, die beschossen werden, geholfen, wenn die Menschen in Gaza nicht | |
mehr fischen und nichts mehr exportieren dürfen? Wenn sie keine | |
Elektrizität haben?“ | |
Terror finde nicht in einem sozialen Vakuum statt, sondern sei das Resultat | |
eines politischen Würgegriffs. Solange die Blockade nicht gelockert würde, | |
könne sich die katastrophale Situation nicht ändern, sagt Bashi. „Warum | |
erlaubt Israel Gaza, Tomaten und Auberginen zu exportieren, Erdbeeren und | |
Blumen aber nicht? Was hat das mit Sicherheit zu tun?“ | |
## Politik der Trennung | |
Stattdessen verfolgt Israel eine Politik der Trennung zwischen Gaza und dem | |
Westjordanland. Menschen aus Gaza dürfen im Westjordanland weder studieren | |
noch ansässig werden. Bashi ist überzeugt, Israel wolle im Westjordanland | |
so viel Territorium wie möglich mit so wenig Palästinenser*innen wie | |
möglich kontrollieren. Dabei gehe es nicht um Sicherheit, sondern um eine | |
schleichende Annexion. | |
Die Politik der Trennung musste Andlib Adwan am eigenen Leibe erfahren. Um | |
sich für die Rechte palästinensischer Frauen in einer patriarchalischen | |
Gesellschaft einzusetzen, hatte sie 1999 begonnen, im Westjordanland Gender | |
Studies zu studieren. Ein Jahr später schloss Israel mit Beginn der zweiten | |
Intifada die Grenzen. Student*innen aus Gaza durften nicht mehr an | |
Universitäten in Ramallah oder Bethlehem studieren. | |
Seit 2007 konzentriert sich Adwan stattdessen darauf, Frauen und | |
Jugendlichen beizubringen, ihre Geschichten mithilfe visueller Medien zu | |
dokumentieren. „Frauen sind die doppelten Leidtragenden der Situation hier. | |
Sie müssen mit einem Minimum an Geld, Privatsphäre und persönlicher | |
Sicherheit auskommen“, sagt sie. Im Krieg gegen Israel 2014 hätten Tausende | |
Familien ihre Häuser verloren, viele Frauen auch ihre Männer. | |
„Die Würde oder Intimsphäre hat keinen gekümmert, oft wurden sie wie Tiere | |
behandelt. Einige mussten Angehörige aus der Familie ihrer Männer heiraten, | |
nur damit sie schnell wieder verheiratet waren.“ Finanzielle Unterstützung | |
der Hamas gab es kaum. Dennoch machen die Menschen in Gaza in erster Linie | |
nicht die Hamas, sondern die israelischen Blockade für ihre Situation | |
verantwortlich. | |
Für Roni Keidar auf der israelischen Seite der Sperranlage ist die Dualität | |
der Situation Alltag. „Einerseits will ich den Terrorismus nicht | |
rechtfertigen. Andererseits: Was bewegt Menschen dazu, so etwas zu tun?“ In | |
Israel werden humanistische Einstellungen wie Keidars oft als naiv abgetan. | |
Auch ihre eigene Familie stehe den Palästinenser*innen in Gaza kritisch | |
gegenüber, sagt Keidar. | |
Doch als es vor einigen Monaten wieder einmal Raketenalarm gab und sich | |
Keidars elfjähriger Enkel in der Ecke versteckte, bis seine Mutter ihn | |
beruhigte, habe der Junge gesagt: „Vielleicht sollten sie alle endlich auf | |
Oma hören“, erzählt Keidar stolz. | |
20 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Marina Klimchuk | |
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