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# taz.de -- Israel, Palästina und das Westjordanland: Wofür steht Europa?
> Israel hat das Westjordanland de facto annektiert. Die EU hat das zwar
> kritisiert. Aber den Worten folgen keine Taten, der „Friedensprozess“
> bleibt Fassade.
Bild: Losgelöst von der eigenen Lebensrealität: die Debatte um die Annexion d…
Während die Welt darüber diskutierte, ob Israel am 1. Juli [1][Teile des
besetzten Westjordanlands annektieren] wird oder nicht, beobachteten wir
als drei junge palästinensische Menschen, die sich für Freiheit und
Menschenrechte einsetzen, mit Befremden, wie losgelöst diese Debatte von
unserer Realität ist. Wir sehen Annexion nicht als drohende Gefahr in der
Zukunft, sondern als einen bereits seit Generationen andauernden Prozess,
der das System definiert, in dem wir leben: völlige israelische Kontrolle
vom Jordan bis zum Mittelmeer, wo Freiheit und Rechte an die Ethnizität
eines Menschen gebunden sind.
Die [2][Weltgemeinschaft entrüstet sich]. Doch diese Entrüstung bezieht
sich nicht auf das Herrschaftssystem, das zu unserer Unterdrückung,
Diskriminierung, Vertreibung und Auslöschung führt. Die Weltgemeinschaft
sorgt sich, dass die israelische De-jure-Annexion sie zwingen wird, endlich
zu akzeptieren, dass der Osloer „Friedensprozess“ und die Zweistaatenlösung
eine Fassade sind und die Realität vor Ort Apartheid ist.
Als die Generation, die in der Oslo-Ära aufgewachsen ist, kennen wir diese
Fassade nur zu gut. Der „Nahost-Friedensprozess“ und das
Zweistaatenparadigma haben jeden Aspekt unseres Lebens bestimmt. Unserer
Generation wurde ein unabhängiger Staat versprochen. Doch nun sind wir auf
kleine Inseln inmitten eines Ozeans israelischer Kontrolle im
Westjordanland und in Jerusalem sowie auf ein Getto in Gaza eingeschränkt.
Gleichzeitig sind die palästinensischen Bürgerinnen und Bürger Israels
marginalisiert, und die palästinensischen Flüchtlinge leben weiterhin im
Exil.
Wir sind eine geografisch diverse Gruppe – was die dem palästinensischen
Volk auferlegte systematische Fragmentierung widerspiegelt –, doch wir
sehen uns alle gemeinsam dieser beängstigenden Realität gegenüber. Uns
werden zunehmend das Recht und der Raum verweigert, diese Realität zu
definieren, auszusprechen und anzufechten. Wenn wir Mittel des Protests
und der Lobbyarbeit anwenden, die demokratischen Grundwerten entsprechen,
werden wir verleumdet und angegriffen.
Inès benötigt zum Beispiel jedes Mal eine israelische Erlaubnis, um in
Palästina einzureisen. Sich öffentlich zu äußern und ihre Meinung zu sagen
birgt immer das Risiko der Ausweisung; Selbstzensur ist daher für sie
immer ein Thema. Als Palästinenserin hat sie nur aufgrund des Privilegs
eines ausländischen Passes die prekäre Möglichkeit, ihr Heimatland zu
besuchen. Dieses Privileg genießen ihre Cousins und Cousinen in Beirut
wenige Hundert Kilometer entfernt nicht, die wie Millionen
palästinensischer Flüchtlinge im Exil leben und denen das Grundrecht
verwehrt wird, in ihrer Heimat zu leben und ihren Beitrag zur
palästinensischen Selbstbestimmung zu leisten.
## Illegale israelische Siedlungen
Obwohl er in Jerusalem geboren ist, brauchte Salem eine israelische
Genehmigung, um dort zur Schule zu gehen, weil sein Personalausweis ihn dem
Westjordanland zuordnet. Israel teilt den Palästinenserinnen und
Palästinensern je nach Herkunft einen unterschiedlichen Rechtsstatus zu und
verwehrt ihnen so Freiheit und gleiche Rechte. Auf dem Weg zur Schule sah
Salem jeden Tag illegale israelische Siedlungen wachsen und sich über die
Hügel um Jerusalem ausdehnen. Jetzt sieht er auf dem Weg zur Arbeit aus
der Ferne, wie die Stadt, die er nicht ohne israelische Erlaubnis besuchen
kann, vom Westjordanland abgeschnitten und von Israel annektiert wurde.
Dies ist nur ein Teil der israelischen Politik, die seit 1967 darauf
abzielt, Palästinenser durch die Zerstörung von Häusern,
Grenzverschiebungen und den Widerruf der Aufenthaltsgenehmigung von 14.000
Menschen systematisch von der Landkarte Jerusalems zu tilgen.
Fadi ist in einer Stadt im Westjordanland aufgewachsen, in der israelische
Siedler und Soldaten mit Maschinengewehren auf ihn und seine Freunde
schossen, wenn sie Fußball spielten. Eine der vielen Siedlungen, die seine
Stadt umzingeln, ist Bet El – eine Siedlung, die Spenden des amtierenden
israelischen Botschafters der USA, David Friedman, erhalten hat. In seiner
Arbeit mit palästinensischen Kindern, die vom israelischen Militär
festgenommen und misshandelt wurden, sieht er, wie die israelische
Inhaftierung Hunderter Kinder strategisch eingesetzt wird, um die
palästinensische Gesellschaft zu brechen. Es gibt zwei Rechtssysteme im
Westjordanland – eines für die palästinensische und eines für die
Siedlerbevölkerung. Israels Militärrecht behandelt palästinensische Kinder
als Erwachsene, in einem System von Militärgerichten mit einer
Verurteilungsquote von 99 Prozent. Siedler, die entsetzliche Verbrechen
begehen, kommen leicht ohne Strafe davon. Kurz gesagt: Israel hat das
besetzte palästinensische Gebiet in das Apartheidsystem des 21.
Jahrhunderts verwandelt, und Kinder sind die größten Opfer.
## Gaza nicht vergessen
In der [3][Debatte über Annexion] wird Gaza leicht vergessen. Dabei hat
Israel im Zuge seiner De-facto-Annexion den Gazastreifen fortschreitend
isoliert und in der Belagerung der letzten 13 Jahre alle, die dort ein und
aus gehen, starken Beschränkungen unterworfen. Die meisten jungen
Palästinenser und Palästinenserinnen außerhalb Gazas, auch wir, sind noch
nie dort gewesen, obwohl man in wenigen Stunden dorthin fahren könnte. Gaza
durchlebt eine dramatische, menschengemachte humanitäre Krise: 90 Prozent
der Menschen sind auf Lebensmittelhilfe angewiesen, 38 Prozent leben in
Armut, und die Jugendarbeitslosenquote ist eine der höchsten der Welt.
Die EU ist mitschuldig daran, dass diese Realität in allen ihren Aspekten
fortdauert. Sie hat seit Jahrzehnten ihre Beziehungen zu Israel ausgebaut,
obwohl es wiederholt gegen Völkerrecht und Menschenrechte verstoßen hat. In
unserer Jugend und nun als Erwachsene haben wir immer wieder scharf
formulierte Stellungnahmen aus den europäischen Hauptstädten gehört, aber
diesen Worten sind bislang keine Taten gefolgt. Bloße Verurteilungen und
leere Worte haben uns dahin geführt, wo wir heute stehen. Nun, da die
De-jure-Annexion bevorsteht, fordern viele Europäerinnen und Europäer, dass
ihre Regierungen handeln, um palästinensische Rechte zu schützen, doch es
scheint, als würden die europäischen Regierungen wieder nicht den Mut
haben, selbst die grundlegendsten Prinzipien des Völkerrechts zu
verteidigen.
Es sollte keinen Unterschied machen, was am 1. Juli passieren sollte. Es
besteht unmittelbarer Handlungsbedarf. Wir müssen die Fassade hinter uns
lassen, die uns die vergangenen Jahrzehnte gefesselt und unsere Fähigkeit
untergraben hat, die grundlegendsten unserer menschlichen Ansprüche zu
verfolgen. Europa muss seinen politischen Diskurs der Realität vor Ort
anpassen, das System der Dominanz als solches erkennen und politischen und
wirtschaftlichen Druck auf Israel ausüben, um es abzuschaffen.
Unsere Zukunftsvision ruht auf den Säulen der Freiheit, Gerechtigkeit,
Gleichberechtigung und Würde. Wir wollen das heute bestehende
Apartheidsystem in einen neuen Gesellschaftsvertrag überführen, der
sicherstellt, dass alle, die zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben,
frei und gleich sind, dass Gerechtigkeit herrscht und alle ein Leben in
Würde leben, ohne Ansehen von Religion, Ethnizität, Rasse oder Geschlecht.
Dabei geht es nicht darum, wer man ist oder wo man herkommt oder ob man
palästinensisch oder jüdisch ist – es geht um die Werte, die man vertritt.
Wir müssen die gegenwärtige Struktur und die antiquierte Führung, die sie
verfolgt, hinterfragen. Wir sollten uns fragen: Wollen wir eine Welt nach
dem Geschmack von Trump, Orbán, Bolsonaro und Netanjahu? Oder wollen wir
uns für eine Welt ohne Vorherrschaft, Unterdrückung und Ungerechtigkeit
einsetzen?
Als junge palästinensische Menschen sind wir inspiriert vom Streben nach
Freiheit und Gerechtigkeit auf der ganzen Welt, von der Bewegung „Black
Lives Matter“ und den Forderungen nach Demokratie in Hongkong. Wir werden
unseren Kampf nie aufgeben, und wir werden uns daran erinnern, ob
Deutschland und Europa auf der Seite der Freiheit, der Menschenrechte und
des Völkerrechts standen.
13 Jul 2020
## LINKS
[1] /Annexionsplaene-in-Nahost/!5697789
[2] /Widerstand-gegen-Israels-Annexionsplaene/!5696811
[3] /Heiko-Maas-in-Israel/!5691941
## AUTOREN
Fadi Quran
Salem Barahmeh
Inès Abdel Razek
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