# taz.de -- Journalistin Lee Yaron über Israel: „Der 7. Oktober war das Sc… | |
> Die israelische Journalistin Lee Yaron schrieb in „Israel 7. Oktober“ | |
> Geschichten von Überlebenden auf. Sie hofft weiter auf Gerechtigkeit und | |
> Frieden. | |
Bild: Von Kugeln durchlöchert. Ein Kühlschrank im Kibbuz Kissufim nach dem t�… | |
Lee Yaron hat das berührende Buch „Israel 7. Oktober“ (Fischer-Verlag) | |
geschrieben. Es steht in der langen Tradition jüdischer Gedenkbücher und | |
folgt einem ähnlichen Ansatz wie die journalistischen Texte, die Yaron seit | |
Langem für die renommierte israelische Zeitung Haaretz über Menschen am | |
Rande der Gesellschaft schreibt. Ein Gespräch inmitten ihrer deutschen | |
Lesereise. | |
taz: Frau Yaron, in Ihrem Buch zum 7. Oktober machen Sie etwas, das | |
außerhalb Israels nur noch selten vorkommt: Sie erzählen die Geschichten | |
der Überlebenden des Hamas-Angriffs. Gibt es eine Person oder eine | |
Geschichte, die Sie besonders berührt hat? | |
Lee Yaron: Es fällt mir schwer, mich auf eine Geschichte oder eine Person | |
festzulegen. Besonders berührt hat mich die Gruppe jüdischer Ukrainer, die | |
nach dem Beginn der russischen Vollinvasion nach Israel floh und ein Jahr | |
später vom Hamas-Angriff überrascht wurde. Oder auch die Geschichten der | |
palästinensischen Minderheit, die immerhin 22 Prozent der israelischen | |
Gesellschaft ausmacht. Das Wichtigste war für mich, die Geschichten aus | |
Israel aus der Alltagsperspektive der Menschen zu erzählen – und nicht aus | |
der Sicht der Politiker, die versuchen, von oben herab ein Narrativ zu | |
formen und uns alle, Israelis wie Palästinenser, im Stich gelassen haben. | |
taz: Als „Überlebende“ werden meist die Israelis bezeichnet, die von den | |
Hamas-Terroristen unmittelbar angegriffen wurden. Sollte man den Begriff | |
angesichts der mörderischen Ideologie der Hamas und ihres Drehbuchs für den | |
7. Oktober auf alle Israelis ausweiten? | |
Yaron: In gewisser Weise: ja. Die Erfahrung von Terroranschlägen und Krieg | |
gehört leider zu unserem Leben. Eine konstante Todesgefahr prägt seit | |
Langem auch den Alltag vieler Palästinenser in Gaza und in der Westbank. | |
Sie ist Teil der Tragödie dieses blutigen Landes, in dem wir alle | |
Überlebende der gegenseitigen Gewalt sind. Ich selbst habe als Baby einen | |
früheren Hamas-Anschlag überlebt – zusammen mit meiner Mutter in der Nähe | |
eines in die Luft gesprengten Linienbusses. | |
taz: Welche – auch generationsübergreifenden – Erinnerungen hat der | |
Hamas-Angriff bei den jüdischen Israelis hervorgerufen? | |
Yaron: [1][Am 7. Oktober wurden wir wieder zu Juden]. Wenn Israel für das | |
Ende der jüdischen Opferrolle in der Diaspora und für einen sicheren Hafen | |
steht, dann war der 7. Oktober das völlige Scheitern dieses Traums. Das hat | |
diese uralte Wunde wieder aufgerissen. In fast jeder Familie, die am 7. | |
Oktober Angehörige verloren hat und die ich für dieses Buch interviewt | |
habe, geschah es nicht das erste Mal, dass jemand getötet wurde, nur weil | |
er oder sie Jude war. Das ist Teil einer alten, sehr lange Geschichte. Auch | |
in meiner Familie. | |
taz: In der Einleitung Ihres Buches schreiben Sie darüber. | |
Yaron: Meine Familienangehörigen väterlicherseits kamen als | |
Holocaustüberlebende aus Rumänien, wohin sie vor den russischen Pogromen | |
geflohen waren, nach Israel. Ähnlich bei meiner Familie mütterlicherseits. | |
Das zeigt sich auch an ihrem Nachnamen Adato. In der hebräischen Gematrie | |
steht diese Buchstabenfolge für das Jahr 1496 – und damit für das Jahr, in | |
dem meine Familie zusammen mit dem Rest der portugiesischen Juden aus ihrer | |
Heimat vertrieben wurde. Als meine Großeltern spät in ihrem Leben nach | |
Israel einwanderten, brachten sie viele Opfer für den Traum, dass ihre | |
Kinder und Enkelkinder an einem sicheren Ort als Juden leben können. Von | |
vielen Familien, mit denen ich für mein Buch gesprochen habe, habe ich | |
Ähnliches gehört. Das sind Menschen, die selbst oder deren Vorfahren vor | |
Pogromen in arabischen Ländern geflohen sind, aus der ehemaligen | |
Sowjetunion oder vor dem Holocaust. Mit dem 7. Oktober wurden wir alle an | |
die Vergangenheit der Diaspora erinnert. | |
taz: In der Einleitung schreiben Sie auch, dass Ihr Buch auch ein Weg ist, | |
Schiwa zu sitzen, also gemäß der jüdischen Tradition zu trauern und zu | |
erinnern. | |
Yaron: Mit der Recherche begann ich zwei Wochen nach dem 7. Oktober. Mein | |
Buch greift eine sehr lange Tradition jüdischer Gedenkbücher auf, die 1296 | |
in Nürnberg entstand. In den Yizkor-Büchern geht es darum, die Namen und | |
Geschichten der durch Pogrome und Verfolgung Ermordeten aufzuzeichnen und | |
zur Erinnerung jährlich in der Synagoge vorzulesen. Sie waren auch Teil | |
meiner Recherche. So etwa bei der Rekonstruktion der [2][Geschichte des | |
Holocaust-Überlebenden Moshe Ridler]. Moshe wurde an Simchat Tora 1941 aus | |
der Grenzregion zwischen Rumänien und der Ukraine deportiert und genau 82 | |
Jahre später, am selben jüdischen Feiertag, von der Hamas ermordet. | |
taz: In den eineinhalb Jahren seit dem 7. Oktober 2023 ist viel geschehen: | |
der andauernde, nun intensivierte, schreckliche Gaza-Krieg, aber auch große | |
Veränderungen in der gesamten Region, etwa in Syrien oder im Libanon. Zudem | |
gab es Enthüllungen, die eine israelische Mitverantwortung für das | |
Geschehen am 7. Oktober aufzeigen. Würden Sie Ihr Buch heute genauso | |
schreiben? | |
Yaron: Definitiv. Da [3][die Erinnerung an den 7. Oktober] zunehmend | |
politisiert wird und polarisiert, halte ich das Erzählen der einzelnen | |
Geschichten „von unten“ für die würdigste Art, den Anschlag zu verstehen | |
und die Opfer zu ehren. Als Journalistin habe ich stets über die | |
Geschichten von Menschen am Rande der Gesellschaft berichtet. Es war | |
abzusehen, dass es bald nach dem 7. Oktober Bücher und Artikel über das | |
Versagen der Geheimdienste und über die Fehler der israelischen Politik | |
geben wird. Das ist sehr wichtig. Aber ich glaube, gerade das | |
internationale Publikum sollte viel stärker auch die Menschen vor Ort | |
kennenlernen. | |
taz: Warum? | |
Yaron: Ich bin frustriert darüber, dass so viele Menschen denken, wir alle | |
hätten extrem rechte Ansichten so wie Itamar Ben-Gvir oder Benjamin | |
Netanjahu. Deswegen war es für mich wichtig, auch über die israelischen | |
Friedensaktivisten zu erzählen, die im Glauben an Koexistenz und eine | |
Zwei-Staaten-Lösung in den Kibbuzim an der Grenze zu Gaza gelebt haben. Der | |
Kibbuz Be’eri etwa spendete jahrzehntelang jeden Monat Geld an Familien in | |
Gaza, und viele aus den Kibbuzim arbeiteten ehrenamtlich für eine | |
Organisation, die dafür sorgte, dass kranke Palästinenser in israelische | |
Krankenhäuser behandelt werden. Am 7. Oktober hat die Hamas auch einen | |
wichtigen Teil der israelischen Friedensbewegung ermordet. | |
taz: Vor dem 7. Oktober hielt die Auseinandersetzung um die geplante | |
illiberale Justizreform die israelische Gesellschaft in Atem. Sie sind | |
jüdische Israelin, säkular, leben zwischen Tel Aviv und New York und | |
arbeiten für die renommierte, linksliberale Zeitung Haaretz, die der | |
aktuellen, extrem rechten Regierung ein Dorn im Auge ist. Würden Sie in | |
Israel bleiben, sollten die Illiberalen gewinnen? | |
Yaron: Meine Familiengeschichte und die Geschichte meines Volkes machen | |
deutlich: Israel muss existieren. Wir haben keinen anderen Ort. Aber ich | |
habe große Angst vor der Richtung, in die sich unser Land entwickeln | |
könnte. Ohne Demokratie wäre es mir nicht möglich, weiterhin vor Ort zu | |
leben. Insgesamt fragen sich alarmierend viele junge, hochqualifizierte | |
Israelis, ob sie vor Ort noch sicher sind und ob sie sich mit den Plänen | |
der aktuellen Regierung zum Umbau des politischen Systems und der | |
Gesellschaft noch auf ihr Land verlassen können. Allein 2024 sind 82.000 | |
Menschen aus Israel emigriert. Das sind die höchsten Zahlen seit der | |
Staatsgründung. Ich habe Israel aber noch nicht aufgegeben. | |
taz: Das merkt man auch an Ihren journalistischen Texten, in denen Sie | |
Themen der sozialer Gerechtigkeit behandeln. Gibt es Artikel, auf die Sie | |
besonders stolz sind? | |
Yaron: Vor einigen Jahren habe ich aufgedeckt, dass die Stadtverwaltung von | |
Tel Aviv Kinder von afrikanischen Asylbewerbern und jüdische weiße Kinder | |
in ihren Schulen getrennt unterrichtete. Dieser Artikel löste eine Menge | |
Protest aus. Schließlich wurden die Schulen integriert. In einem weiteren | |
Artikel habe aufgedeckt, dass die damalige israelische Regierung in | |
offiziellen Dokumenten die Anweisung gab, LGBTQ-Personen nur Babys | |
adoptieren zu lassen, die geistig Behinderte biologische Eltern hatten, | |
selbst behindert oder bereits über 2 Jahre alt waren. Mein Artikel führte | |
zu massiven Protesten und zu einem Urteil des Obersten Gerichtshofs, sodass | |
sich die Situation schließlich zum Besseren veränderte. | |
taz: Was sind aus Ihrer Sicht die drängendsten soziale Probleme in Israel? | |
Yaron: Wir brauchen die vollständige Gleichstellung der jüdischen und | |
arabischen Bürgerinnen und Bürger. Außerdem muss die Kluft zwischen Arm und | |
Reich geschlossen werden. Auch in Israel trifft der Klimawandel die ärmsten | |
Menschen am stärksten. In den letzten 10 Jahren sind laut offiziellen | |
Zahlen knapp 400 Menschen infolge der enormen Hitze gestorben. Das waren | |
vor allem ältere Menschen, die sich zu Hause keine Klimaanlage leisten | |
können oder prekarisierte Bauarbeiter, die gezwungen sind, auch an sehr | |
heißen Tagen, ohne Pausen und manchmal nicht einmal mit ausreichend Wasser | |
zu arbeiten. Der Klimawandel führt alle unsere Kämpfe für soziale | |
Gerechtigkeit zusammen. Über diese Themen will und werde ich weiterhin | |
berichten. | |
taz: Der gesamte Nahe Osten erwärmt sich doppelt so schnell wie der Rest | |
der Welt. | |
Yaron: In Zukunft werden wir stark unter dem Anstieg des Meeresspiegels | |
leiden. Erst vor wenigen Wochen gab es den größten Waldbrand in der | |
Geschichte Israels. Die Wasserknappheit ist ebenfalls seit Langem eine sehr | |
wichtige Herausforderung. Bis vor ein paar Jahren war der Klimawandel in | |
Israel aber kaum Thema. Aus diesem Grund habe ich in Kooperation mit der | |
Universität Tel Aviv 2021 eine kostenlose Journalistenschulung namens | |
„Green Idea“ ins Leben gerufen, um Kolleg:innen, die über Themen wie | |
Verkehr, Politik oder Mode berichten, über den Klimawandel aufzuklären und | |
dazu zu motivieren, ihrer Verantwortung als Journalisten gerecht zu werden. | |
In der Folge hat sich die Berichterstattung über den Klimawandel in Israel | |
verdreifacht. | |
taz: Ist das nach dem 7. Oktober und inmitten der Gaza-Krieges so | |
geblieben? | |
Yaron: Aktuell fällt es uns allen sehr schwer, weiter über den Klimawandel | |
nachzudenken. Doch eigentlich bräuchten wir gerade jetzt eine echte | |
Alternative, die den Kampf gegen den Klimawandel mit einer Perspektive | |
auf Frieden zusammenbringt. Der Klimawandel ist der gemeinsame Feind in der | |
Region. Er schert sich nicht um Grenzen und bringt uns alle in Gefahr. Vor | |
dem 7. Oktober konnten wir den Beginn einiger vielversprechender | |
Initiativen der Zusammenarbeit beobachten. So etwa beim Austausch von | |
entsalztem Wasser und sauberer Energie zwischen Israel, den Vereinigten | |
Arabischen Emiraten und Jordanien. Solche Ideen könnten Partnerschaften | |
schaffen – und damit eine Voraussetzung dafür, dass wir die Kriege der | |
Vergangenheit hinter uns lassen und den Klimawandel gemeinsam überleben. | |
24 May 2025 | |
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