# taz.de -- Vier Bilanzen des Popjahres 2024: Ungesundes Wachstum, diffuse Gef�… | |
> Viele Frauen in den Top Ten. Die Debatte um Vergütung von Streaming | |
> bleibt kontrovers. Für Indies und randständige Künstler:Innen zum | |
> Nachteil. | |
Bild: Belgische Künstlerin in London: Nala Sinephro | |
Im Wrapped-Gefängnis | |
Unlängst setzte Will Page, ehemals Chefökonom von Spotify, eine | |
bemerkenswerte Zahl in die Welt. Aktuell werden auf Streaming-Portalen pro | |
Tag 120.000 Songs hochgeladen, so viel Musik, wie im Jahr 1989 insgesamt | |
erschienen ist – der von KI produzierte Anteil (vermutlich) stark steigend. | |
[1][Tausende Musiker:innen und Autor:innen haben sich zuletzt mit | |
einer Petition gegen die Nutzung ihrer Werke als Trainingstool gewehr]t. | |
Doch zurück zu der Zahl. Wer bitte soll das hören? Und warum? Letzteres | |
wissen wohl nur Programmierer der Algorithmen, die der Kundschaft Titel | |
vorschlagen. Pop als gesellschaftlicher Resonanzraum, als Ort für den | |
Austausch von Ideen und Sehnsüchten, verschwindet zusehends. Da können | |
Swifties noch so eifrig Freundschaftsbänder für die Community basteln – der | |
Rest fragmentiert vor sich hin. | |
Mehr Problembewusstsein das Geschäftsmodell betreffend wäre ja schön. Doch | |
erst unlängst illustrierte [2][der bizarre Hype um die | |
Spotify-Wrapped-Kampagne] – ein individualisierter Jahresrückblick, bei dem | |
Nutzer:innen ihren Konsum putzig aufbereitet bekommen –, dass der | |
schnäppchenbewusste Endverbraucher Streamingdienste immer noch schätzt – | |
auch wenn deren schlechter Umgang mit Musiker:innen längst kein | |
Geheimnis mehr ist. Geneigte Konsument:innen basteln derweil weiter an | |
ihrer Echokammer, eher eine „mit Spiegeln tapezierte Gefängniszelle“, wie | |
es das Nachrichtenportal Netzpolitik treffend formulierte. | |
Dass man da zuverlässig mit unerhört Neuem konfrontiert, das die Synapsen | |
britzeln lässt – unwahrscheinlich. Schließlich arbeiten die Anbieter auf | |
eine maximale Verweildauer bei ihren Plattformen hin. [3][Doch noch gibt es | |
sie, analoge Orte mit echten Menschen: Plattenläden], mit Herzblut | |
betriebene Clubs. | |
Allerdings denkt etwa die Hälfte der in Berlin Ansässigen darüber nach, im | |
kommenden Jahr zu schließen. [4][Währenddessen beschließt der Senat ein | |
brutales Sparprogramm im Kultursektor.] Laut einer Prognose des britischen | |
Branchenverbands NTIA könnten auf der Insel Clubs bis Ende des Jahrzehnts | |
komplett verschwunden sein. Wer sich durch die Wintertrübnis netflixt und | |
sich jetzt denkt: „Wann war ich eigentlich zuletzt beim Tanzen?“, der tanze | |
doch mal durch die Wohnung! Und packe sich dazu „Falling Together“ von | |
Jamie xx feat. Oona Doherty auf die Ohren. | |
So viel Pathos darf sein – zum Ausklang eines Jahres, das auch abseits | |
solcher Miseren wenig Anlass zum Feiern bot. Stephanie Grimm | |
Hoffnung auf Heilung | |
Die Moderne hat die Verbindung zwischen Musik und Heilung zwar nicht | |
erfunden, aber in Form von Heileurythmie, Gospel und | |
wissenschaftlich-gestützter Musiktherapie auf ein stattliches Ausmaß | |
expandiert. Der Weg zur populären Musik war von da aus kurz. [5][So hat | |
US-Freejazzer Albert Ayler] schon 1970 mit seinem Albumtitel „Music Is The | |
Healing Force of The Universe“ das Zeitgeschehen um Hippies, Spiritualität | |
und New-Age-Gurus auf den Punkt gebracht. | |
Nach einer längeren Phase, in der sich Pop eher wenig mit diesem Topos | |
auseinandersetzte, hat sich dies spätestens seit dem Suizid des | |
schwedischen DJs Avicii gewandelt: Geistiges Wohlbefinden wurde hot topic, | |
Healing zum Buzzword. Nochmal befeuert durch die Coronapandemie und die | |
Kriege der letzten Jahre, schossen Konzeptalben und Workshops zum Thema wie | |
Pilze aus dem Boden: Jazz- und Elektronik-Musiker*innen tragen Hoffnung auf | |
Heilung durch die eigene Musik immer selbstbewusster vor. [6][Auch Stars | |
wie Lady Gaga sangen] 2024 ausgiebig von instabiler mentaler Gesundheit. | |
So feiert ein therapeutisch-psychologisches, gleichsam vages Vokabular | |
Hochkonjunktur, was in seiner diffusen Gefühligkeit falschen Propheten Tür | |
und Tor öffnet: Lincoln Jesser, mittelprächtiger US-EDM-Produzent, ist | |
mittlerweile zum Medium einer Community geworden, die in Frequenzen wie | |
777Hz den Schlüssel zu den Chakras wähnen – und dies mit Hunderttausenden | |
Insta-Followern auch zahlenmytisch verkauft. Noch ist die Szene | |
überschaubar, 2024 scheint dennoch ein Schritt in die gegenaufklärerische | |
Richtung der esoterischen Bauernfängerei gewesen zu sein. | |
Dass es anders geht, zeigten indes die New Yorker Musikerin Ganavya und die | |
Kölner Gruppe SALOMEA: Während die eine in der Tradition ihrer Jazz-Ahnen | |
ein gemeinschaftlich gedachtes Zeremoniell ersingt, das spirituelle | |
Gesundheit gut mit der Politik der Straße verschränkt, propagieren die | |
anderen Leidenschaft füreinander und das „Good Life“, während sie die Üb… | |
der Welt deutlich benennen: Patriarchat und „erkrankte Gesellschaft“. Lars | |
Fleischmann | |
It’s a Femininomenon | |
Man muss sich nur die internationale Top Ten der meistgestreamten Alben auf | |
Spotify 2024 ansehen: Die Ränge 1 bis 8 belegen dreimal Taylor Swift, | |
[7][Billie Eilish], Sabrina Carpenter, Karol G., Ariana Grande und SZA. | |
Erst auf Platz 9 folgt mit Benson Boones „Fireworks & Rollerblades“ das | |
Album eines Künstlers. | |
It’s a Femininomenon. So könnte man das zurückliegende Popjahr in den | |
Worten Chappell Roans beschreiben. [8][Auch wenn die US-Künstlerin, die mit | |
ihren euphorischen Hymnen 2024 kometenhaft in den Popolymp aufstieg], ihre | |
Wortschöpfung eigentlich auf enttäuschende männliche Performance beim Sex | |
bezog. Wer nicht unbedingt wollte, konnte in den vergangenen Monaten | |
problemlos darauf verzichten, Musik von Männern zu lauschen. | |
Früh im Jahr brachte Tyla mit einer Mischung aus R&B, Pop, Afrobeat und | |
Amapiano, der südafrikanischen Version von House, „Water“ zum Kochen. Den | |
Sommer dominierte Charli xcx. Auf ihr Album „Brat“ konnten sich alle | |
einigen, Kids wie Kritik. | |
Was ging, wurde in die Farbe von dessen Cover getaucht, das ungesunde | |
Hellgrün eines glänzenden Granny-Smith-Apfels, der unter der Schale schon | |
zu faulen begonnen hat. Alle wollten brat sein, wie ein schludriges, etwas | |
zu vorlautes Partygirl, das seine Unsicherheiten hat, aber dennoch meist | |
eine gute Zeit. Charli xcx propagiert eine neue Art von Weiblichkeit im | |
Pop, Prinzessinnen braucht eh kein Mensch. | |
Jenseits des Mainstreams widmete sich die Dänin Astrid Sonne all den | |
Zweifeln, die einen als Künstlerin vielleicht noch intensiver verfolgen, | |
und verpackte diesen „Great Doubt“ in elektronische Soundschachteln, sogar | |
mit Gesang. [9][Jlin veröffentlichte mit „Akoma“ ein hypnotisches, | |
hochkomplexes Meisterwerk.] Auch einige Ikonen der 1980er und 90er Jahre | |
meldeten sich zurück: Portishead-Sängerin Beth Gibbons mit „Lives | |
Outgrown“, Kim Deal erst kürzlich mit ihrem Solodebüt „Nobody Loves You | |
More“. | |
It’s a Femininomenon, gerade weil es in einer Zeit geschieht, in der | |
weltweit eine Rückkehr von Antifeminismus und traditionell-patriarchalen | |
Rollenvorstellungen zu beobachten ist. Pop als Hoffnungsschimmer. Beate | |
Scheder | |
Artists oder Avatare | |
Kalte Progression essen Lohnsteigerung auf. [10][Universal-Europa-CEO Frank | |
Briegmann isst Dubai-Schokolade auf]. Den Eindruck vermittelte der | |
Betriebswirt des börsennotierten Musikkonzerns zumindest in einem Interview | |
mit dem Wirtschaftsteil der FAZ anlässlich von 15 Jahren Musikstreaming. | |
Briegmanns Unternehmen, sei „Artists und Mitarbeitenden verpflichtet, aber | |
auch den Shareholdern“, hieß es da, nicht so, wem von den dreien die meiste | |
Aufmerksamkeit gilt. | |
Muss man sich Briegmann also wie Dagobert Duck beim Golddukatenbad in | |
Entenhausen vorstellen, als er davon sprach, es sollte mehr „incentiviert“ | |
werden, um „Superfans“ mit ABBA-KI bei der Stange zu halten, damit die | |
daraus eigene Avatare kreiieren? ABBA-Avatare! Ob die 120.000 täglich | |
gestreamten Songs von Artists oder Avataren stammen, blieb ungeklärt. Eine | |
Absage gab es auf die Frage nach der 1.000-Stream-[11][Bezahlschranke von | |
Spotify]. | |
Die konterte Briegmann mit der Bemerkung, er frage sich, „woher in der | |
Diskussion der Anspruch kommt, dass ich als Hobbymusiker Geld erhalte“. Wer | |
kassiert eigentlich die Tantiemen von Artists, die bei Spotify 999 Streams | |
erzielen? Verstummen sie und ihre Indielabels bald, weil Plattenmultis nur | |
„diejenigen unterstützen wollen, die professionell Musik machen“ | |
(Briegmann)? und was genau bedeutet professionell hinsichtlich guter Musik? | |
Das Masse-statt-Klasse-Prinzip unterläuft innovative Popmusik seit rund 80 | |
Jahren, etwa als Garant von demokratischen Aushandlungsprozessen, Dynamo | |
für gesellschaftlichen Wandel und hyperschnellem DiY-Labor. Ein | |
Betätigungsfeld, in dem Bildungsunterschiede, rassistische und | |
Genderbenachteiligungen wettgemacht werden. | |
Weil Musikmachen unterhalb der Schwelle von Majorlabels allerdings mit | |
Voluntarismus verbunden ist, lässt es sich im Netz leicht ausbeuten und | |
noch leichter wegsparen, wenn es die politische Kaste stört. [12][Siehe das | |
neoliberale Wording vom Ex-Musikmanager und amtierenden CDU-Kultursenator | |
Joe Chialo in Berlin]. Julian Weber | |
19 Dec 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.aitrainingstatement.org/ | |
[2] /Wrapped-Marketingkampagne-von-Spotify/!6054921 | |
[3] /Unabhaengiger-Plattenladen-Optimal/!5898442 | |
[4] /Berliner-Kultur-von-Kuerzungen-bedroht/!6054078 | |
[5] /Free-Jazz-Ikone-Albert-Ayler/!5865200 | |
[6] /Neues-Album-Harlequin-von-Lady-Gaga/!6040296 | |
[7] /Neues-Album-von-Billie-Eilish/!6011380 | |
[8] /Chappell-Roan-live-in-Berlin/!6038762 | |
[9] /Dancefloor-begegnet-Mode-und-Ballett/!6004317 | |
[10] /Trendanalyse-der-Dubai-Schokolade/!6054092 | |
[11] /Spotifygruender-investiert-in-Militaertechnik/!5820447 | |
[12] /Berlin-spart-an-der-Kultur/!6048501 | |
## AUTOREN | |
Beate Scheder | |
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