# taz.de -- Übertourismus in Spanien: Urlaub oder Leben? | |
> Spanien lebt vom Tourismus, aber er erschwert das Leben der Einheimischen | |
> in Städten und Küstengebieten. Ihre Interessen sollten im Fokus stehen. | |
Bild: Nur noch Kulisse: Tourist*innen rollen mit ihren Koffer durch Madrid im A… | |
Ein Rekordjahr für die einen, der Ausdruck einer völlig aus dem Ruder | |
gelaufenen Entwicklung für die anderen: Spanien wird 2024 über 90 Millionen | |
Touristen empfangen. Das sind doppelt so viele Besucher, wie das Land auf | |
der iberischen Halbinsel Einwohner hat. Spanien ist damit nach Frankreich – | |
und noch vor den USA – die Nummer 2 weltweit im Geschäft, das Erholung und | |
neue Erfahrungen verspricht. | |
Der Tourismus stellt über 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, das | |
entspricht 225 Milliarden Euro. 2,75 Millionen Menschen finden dank des | |
Tourismus eine Arbeit – allerdings oft in sehr prekären Verhältnissen. | |
2024 ist nicht nur ein Rekordjahr, es ist auch das Jahr der Proteste. Ob | |
auf den Kanarischen Inseln, auf Mallorca, Ibiza oder [1][in Städten] wie | |
Málaga, Valencia, San Sebastián oder [2][Barcelona] und [3][Madrid], | |
überall gingen Tausende gegen den Ausverkauf ihrer Inseln und Städte auf | |
die Straße. Sie fordern ein Ende des Massentourismus, ein Umdenken. | |
„Tourismusfeindlich“ seien sie, wird den Protestierenden von Politik und | |
Presse – allen voran aus den Ländern, aus denen die meisten Besucher kommen | |
– vorgeworfen. Es ist kein Zufall, dass dies so klingt, als sei die | |
Ablehnung des Massentourismus vergleichbar mit Ausländerfeindlichkeit. | |
Was dieser Vorwurf aber verdecken soll: Was für die einen ein gutes | |
Geschäft ist, ist für die anderen das Ende eines würdigen Lebens in ihrem | |
gewohnten Umfeld. Mallorca, Teneriffa, Málaga, Barcelona, Madrid … Spanien | |
ist nur ein Beispiel für diesen Übertourismus. [4][Santorin], Sardinien, | |
Dubrovnik, Venedig, Prag, Athen, Amsterdam … die Liste ließe sich im | |
restlichen Europa lange fortsetzten. Ja, selbst Berlin ist betroffen. | |
## Verdrängung und Wohnungslosigkeit | |
Der Tourismus verschlingt alles. Wo er sich breit macht, steigen die | |
Wohnungspreise in astronomische Höhen. Airbnb ist einfach rentabler als die | |
Vermietung an Arbeiter und Arbeiterinnen und deren Familien. In den | |
Innenstädten von Madrid und Barcelona stiegen die Mietpreise in den letzten | |
zehn Jahren um über 60 Prozent, auf Mallorca im Schnitt um über 40 Prozent, | |
ähnlich wie in den meisten Mittelmeerstädten. | |
Den alteingesessenen Bewohnern bleibt oft keine andere Wahl, als aus den | |
Innenstädten abzuwandern. Dies führt wiederum im Umland zu teureren Mieten. | |
Und jungen Menschen – oft in prekären Arbeitsverhältnissen – fällt es im… | |
schwerer, sich vom Elternhaus abzunabeln. | |
Auf Inseln wie Mallorca oder Ibiza wohnen diejenigen, die die Hotels | |
reinigen, oft in völlig überteuerten Zimmern in Wohngemeinschaften, in | |
Wohnmobilen oder gar auf Brachflächen im Zelt – ständig davon bedroht, dass | |
die Kommunalpolitik sie vertreibt. | |
Diese Wohnungsproblematik wiederum führt vielerorts zu Personalmangel. Und | |
das nicht nur im Hotel- und Gaststättengewerbe, auch in der Verwaltung | |
fehlt es an Personal. Niemand wird sich freiwillig auf die Balearen | |
versetzen lassen. Das Ergebnis: Die Polizei ist dort ebenso unterbesetzt | |
wie die Behörden der staatlichen Zentralverwaltung. Und in Madrid fehlt es | |
an Familien- und Kinderärzten. Viele Universitätsabsolventen nehmen lieber | |
eine Arbeit im Gesundheitssystem in den Nachbarregionen an. Dort lebt es | |
sich billiger, ruhiger und die Hauptstadt ist – wenn einem der Sinn nach | |
Ausgehen, Shoppen oder Kultur steht – oft nur eine Stunde entfernt. | |
## Madrid als imaginäres Gesamtspanien | |
Der [5][Tourismus] hat in vielen Innenstädten längst das Leben, für das er | |
gekommen ist, beendet. Mit der Vertreibung der angestammten Bevölkerung | |
verschwindet auch das, was die Besucher eigentlich erwarten: das | |
Traditionelle, das Typische. Alteingesessene Geschäfte weichen | |
Souvenirshops. Die meisten Bars mit ihren „Tapas“ und „Raciones“ sind n… | |
noch Fake – kein Einheimischer würde sich dorthin verirren. Die | |
familiengeführten Eckkneipen mit günstigem Tagesessen sind weitgehend | |
Geschichte. | |
Sie wichen modern gestylten Bars und Restaurants, die mehr das Klischee | |
davon bedienen, wie sich ein Mittel- oder Nordeuropäer Spanien vorstellt, | |
als das, was regionale Eigenheiten sind oder waren. Madrid wird zu so etwas | |
wie einem imaginären Gesamtspanien, in dem es alles gibt, nur nicht das, | |
was Madrid eigentlich ausmachte. In Berlin ist übrigens eine ähnliche | |
Entwicklung zu beobachten. Oder seit wann ist Leberkäsbrötchen mit Weißbier | |
ein typisches Berliner Gericht, wie es den Abreisenden im hässlichsten | |
Großflughafen Europas angepriesen wird? | |
Ohne Umschwung in der Wohnungspolitik wird sich nichts ändern. Doch die | |
konservativen Stadt- und Regionalregierungen in Madrid wollen nicht so | |
recht einschreiten. Bürgermeister José Luis Martínez-Almeida duldet über | |
zehntausend Ferienwohnungen, die ohne Lizenz angepriesen werden, nur eine | |
von zehn Ferienunterkünften ist legal. Viele der betroffenen Gebäude | |
gehören Fonds, in denen auch das Umfeld der regierenden Konservativen | |
arbeitet und investiert. | |
Nur Barcelona macht in Spanien derzeit vor, wie eine Lösung für diese | |
Urlaubsziele und Städte aussehen könnte. Bürgermeister Jaume Collboni will | |
bis Ende 2028 die Vermietung von Ferienwohnungen in der zweitgrößten Stadt | |
Spaniens verbieten, um so die Preisexplosion auf dem Wohnungsmarkt zu | |
stoppen. Collboni wird die auf fünf Jahre befristeten Lizenzen für | |
Ferienunterkünfte nicht verlängern. Rund 10.000 Unterkünfte sollen so | |
wieder dem regulären Wohnungsmarkt zugeführt werden. | |
Das ist ein wichtiger Schritt, um wieder sesshafte Bevölkerung in die | |
Städte zu bekommen. Das Leben, wie es einst war, wird nicht zurückkehren, | |
aber es besteht zumindest die Chance, dass sich wieder ein – wie auch immer | |
geartetes – nachbarschaftliches Netzwerk aus Kultur, Geschäften und | |
Gastronomie in den Stadtteilen entwickelt. Die Städte müssen denen dienen, | |
die dort arbeiten und leben wollen und nicht denen, die zehn Tage im Jahr | |
auf den Putz hauen. | |
29 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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