| # taz.de -- Wege zur psychischen Gesundheit: „Diagnosen können auch einengen… | |
| > Zum Welttag für psychische Gesundheit fordert Grünen-Polikerin | |
| > Kappert-Gonther flexiblere Hilfssysteme. Dabei könne auch ein Blick nach | |
| > Bremen helfen. | |
| Bild: Gefangen im Patriarchat: Frauen schätzen ihre psychische Gesundheit schl… | |
| taz: Frau Kappert-Gonther, am Donnerstag ist der Welttag für psychische | |
| Gesundheit. Um die der Deutschen steht es derzeit [1][schlechter als vor | |
| fünf Jahren.] Was braucht es außer Psychotherapieplätzen? | |
| Kirsten Kappert-Gonther: Die braucht es dringend, gerade für Kinder und | |
| Jugendliche. Darüber hinaus gilt es, dafür zu sorgen, dass Menschen, die in | |
| seelischer Not sind, die für sie passende Unterstützung finden. | |
| taz: Was wäre das? | |
| Kappert-Gonther: Wir brauchen ein [2][flexibleres System in den Übergängen | |
| zwischen stationären und ambulanten Hilfen]. Manchmal ist in einer akuten | |
| Krise die Behandlung in einer psychiatrischen Klinik sinnvoll. Aber viele | |
| Menschen benötigen dann nicht unbedingt ein Bett auf Station oder nur für | |
| kurze Zeit. [3][Vielleicht hilft ein tagesklinisches Angebot besser.] Oder | |
| Therapeut*innen und Pflegekräfte, die ein- oder mehrmals in der Woche | |
| nach Hause kommen. Und wenn es eine krisenhafte Zuspitzung gibt, könnte die | |
| betroffene Person wieder für ein oder zwei Nächte in der Klinik aufgenommen | |
| werden, ohne erneute Einweisung. Diese flexiblen Möglichkeiten haben | |
| Kliniken bisher nur im Rahmen von Modellvorhaben, begrenzt auf eine gewisse | |
| Zeit. | |
| taz: Müsste man nicht verhindern, dass Menschen so krank werden? | |
| Kappert-Gonther: Ja, Prävention ist entscheidend. Wir brauchen | |
| gesundheitsfördernde Lebenswelten und ein Bewusstsein dafür, was uns | |
| seelisch gesund hält. Und es braucht Anlaufstellen, an die ich mich in | |
| einer Krise wenden kann. Dazu gehört die bundeseinheitliche | |
| [4][Telefonnummer, die Teil des Suizidpräventionsgesetzes] sein soll. | |
| taz: Reichen die Krisendienste nicht? | |
| Kappert-Gonther: Es gibt gute Krisendienste, für tags und nachts, die aber | |
| unterschiedlich verteilt und selten 24/7 verfügbar sind. Wo Angebote | |
| fehlen, wenden sich Menschen oft an die Notfallambulanzen der somatischen | |
| Kliniken: Etwa ein Drittel der Hilfesuchenden sind Menschen in psychischer | |
| Not. | |
| taz: Besser dort als nirgendwo, oder? | |
| Kappert-Gonther: Die Hilfen passen aber häufig nicht. Es kommt zu | |
| Fehlbehandlungen oder Unterversorgung, wenn ihnen gesagt wird: ‚Sie haben | |
| nichts, gehen Sie mal wieder.‘ Ohne Verweis auf ein adäquates Hilfsangebot, | |
| weil das fehlt oder nicht bekannt ist. Darum setze ich mich dafür ein, dass | |
| bei der anstehenden Notfallreform diese Personengruppe mitberücksichtigt | |
| wird. Wir brauchen bei den Anlaufstellen die entsprechenden Kompetenzen | |
| oder die Möglichkeit, diese beispielsweise über Telemedizin einzuholen | |
| sowie einen Ausbau von Krisenhilfen. | |
| taz: Sollten die Kassen die Krisendienste mitfinanzieren? | |
| Kappert-Gonther: Ja. Es würde nicht nur individuelles Leid reduzieren, | |
| sondern auch Geld sparen, wenn Krisen früh begegnet und so die Gefahr der | |
| Chronifizierung reduziert wird. Psychische Erkrankungen mit all ihren | |
| Folgen wie Arbeitsausfällen und Frühverrentung verursachen laut Schätzung | |
| der OECD jährlich Kosten von 147 Milliarden Euro allein in Deutschland! Das | |
| ist fast ein Drittel des Bundeshaushaltes. | |
| taz: Das Gesundheitssystem orientiert sich an Pathologie, nicht an | |
| Prävention. | |
| Kappert-Gonther: Da haben wir in Deutschland leider keine gute Tradition. | |
| Zum Vergleich: In Finnland haben Schwangere und Eltern mit ihren Kindern | |
| bis zum siebten Lebensjahr in allen Lebenslagen eine direkte | |
| Ansprechpartnerin. Zudem adressieren finnische Firmen systematisch die | |
| Gesundheitsförderung, auch bezogen auf die Psyche. Aber es gibt auch in | |
| Deutschland Beispiele wie die [5][Gesundheitsfachkräfte in Bremen], die in | |
| den Quartieren unterwegs sind. Einige sind auch ausgebildet, um in | |
| psychosozialen Belangen unterstützen zu können. | |
| taz: Was wirkt noch präventiv? | |
| Kappert-Gonther: [6][Eine psychische Krankheit kommt nicht schicksalhaft], | |
| sondern entwickelt sich im Alltag aus der Kombination individueller und | |
| sozialer Faktoren. Oft entstehen Krisen in Übergangssituationen, bei | |
| Kindern zum Beispiel zwischen Kita und Schule. Wenn es da eine Vernetzung | |
| gibt, sinkt das Risiko, krank zu werden. Auch eine Stadt, die durch kluge | |
| Verkehrspolitik und Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum zur Begegnung | |
| einlädt, reduziert Einsamkeit und stärkt Resilienz. | |
| taz: Es gibt äußere Faktoren, die sich schwer beeinflussen lassen. | |
| Kappert-Gonther: Die Klimakrise ist die größte Gesundheitsgefahr unserer | |
| Zeit. Durch die Erderhitzung ausgelöste Starkwetterereignisse ziehen | |
| Traumafolgestörungen etwa bei Flutopfern nach sich. Wir wissen auch, dass | |
| in Hitzeperioden Depressivität und Angsterkrankungen wahrscheinlicher | |
| werden. Das heißt, dass wir die seelische Gesundheit in allen | |
| Politikbereichen stärker berücksichtigen müssen. | |
| taz: Soziale Ungleichheit kann auch psychisch krank machen. | |
| Kappert-Gonther: Absolut. Armut und Teilhabebarrieren lassen die | |
| Wahrscheinlichkeit zur Entwicklung von psychischen Krankheiten steigen. | |
| Umgekehrt erhöhen seelische Erkrankungen das Armutsrisiko. Auch | |
| Ausgrenzungsrhetorik macht etwas mit Menschen. Je weniger ich mich gewollt | |
| fühle, je weniger Möglichkeiten echter Partizipation ich habe, desto größer | |
| ist das Erkrankungsrisiko. | |
| taz: Nach den Daten des Robert Koch Instituts [7][schätzen Frauen ihre | |
| psychische Gesundheit schlechter] ein als Männer. | |
| Kappert-Gonther: Das wundert mich nicht. Frauen sehen sich | |
| widersprüchlichen Rollenzuschreibungen ausgesetzt. Sie sollen Karriere | |
| machen, sich um die Kinder kümmern, wenn die Kita oder die Schule ausfällt, | |
| immer toll aussehen. Jedes Leben ist krisenbehaftet, aber das sind | |
| Überforderungsszenarien, die zu einem Perfektionismus führen können, der | |
| suggeriert, ich muss auch noch in einer Krise performen. Gleichzeitig | |
| nehmen Männer seltener Hilfe in Anspruch, haben eher gesundheitsschädigende | |
| Bewältigungsstrategien und begehen eher Suizid. Auch das sind Folgen | |
| schädlicher Rollenbilder. | |
| taz: Gegen das Patriarchat hilft keine Therapie? | |
| Kappert-Gonther: Solche tradierten, negativ wirksamen Zuschreibungen sind | |
| niemals nur innerpsychisch lösbar. Das ist unsere gesellschaftliche und | |
| politische Aufgabe! In einer Psychotherapie kann man aber eruieren, wie man | |
| mit krisenhaften Situationen besser umgeht, mit dem Ziel, freier agieren zu | |
| können. | |
| taz: Vorausgesetzt, man weiß, dass es so etwas gibt und wie man einen Platz | |
| bekommt … | |
| Kappert-Gonther: Für Menschen mit geringeren Teilhabechancen sind die | |
| Zugangsbarrieren größer. Häufig fallen ausgerechnet diejenigen, die es am | |
| nötigsten haben, durch die Maschen. Ein Problem ist, dass die Kosten für | |
| Sprachmittlung immer noch keine Kassenleistung sind. Es braucht außerdem | |
| weitere niedrigschwellige Angebote im Quartier. | |
| taz: Wie [8][Brynja, das „Fitnessstudio für die Psyche“] in Bremen? | |
| Kappert-Gonther: Dieses Angebot ist einzigartig. Ein Begegnungszentrum, in | |
| dem sich jede Person seelisch stärken kann, ohne Diagnose, alle sind | |
| willkommen. Das wird sehr gut angenommen, läuft aber ehrenamtlich auf | |
| Spendenbasis, weil es in der aktuellen Finanzierungssystematik keinen Topf | |
| gibt, der dafür nutzbar wäre. Die Änderung des Präventionsgesetzes wäre | |
| sinnvoll, damit die Kassen dies finanzieren können. | |
| taz: Ohne Diagnose geht in Deutschland wenig. | |
| Kappert-Gonther: Diagnosen können helfen, aber auch einengen. Es ist | |
| außerdem wichtig, dass Menschen ihren Weg wieder aus dem Hilfesystem | |
| herausfinden, in der Psychiatrieszene wird das als „Recovery“ bezeichnet. | |
| Da sind auch wir als Profis gefordert, die Menschen nicht durch | |
| pathologische Zuschreibung einzuengen. [9][Menschen sind immer mehr als | |
| ihre Diagnose.] | |
| 10 Oct 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/MHS/mhs_inhalt.… | |
| [2] /Zwangsbehandlung-in-der-Psychiatrie/!5787242 | |
| [3] /Psychiatrische-Versorgung-in-Bremen/!5861223 | |
| [4] /Telefonseelsorge-ueberlastet/!6004539 | |
| [5] https://www.gesundheitsfachkraefte-im-quartier.de/ | |
| [6] https://www.deutschlandfunk.de/krise-der-psychiatrie-diagnosendaemmerung-10… | |
| [7] https://public.data.rki.de/t/public/views/hf-MHS_Dashboard/Dashboard?%3Aemb… | |
| [8] /Therapeutin-ueber-seelische-Gesundheit/!5972189 | |
| [9] https://www.sueddeutsche.de/wissen/psyche-krankheit-selbstdiagnose-lux.HJU9… | |
| ## AUTOREN | |
| Eiken Bruhn | |
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