| # taz.de -- Reformstau in der Psychotherapie: Approbiert und unterfinanziert | |
| > Die Lage der psychotherapeutischen Weiterbildung ist prekär. Wer das | |
| > Gehalt angehender Psychotherapeut:innen zahlt, ist politisch | |
| > ungeklärt. | |
| Bild: Voll Psycho: PIA-Demonstration | |
| BERLIN taz | Es war der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der | |
| in einem anderen Zusammenhang sagte: „Wir werden einander viel verzeihen | |
| müssen.“ Aber angehende Psychotherapeut:innen sind derzeit nicht auf | |
| Kuschelkurs mit der Gesundheitspolitik. Sie baden die lückenhafte | |
| [1][Reform des Psychotherapeutengesetzes von 2020] aus. Vor allem das | |
| Gehalt während der Ausbildung für Psychotherapie sollte sich bessern, so | |
| versprach es Spahn damals. Das Ziel waren sozialversicherungspflichtige | |
| Anstellungen statt Praktikantenverträge. | |
| Eine ähnliche Regelung gilt bei approbierten Ärtzt:innen während der | |
| Facharztausbildung. „Warum sollten wir, die seelische Erkrankungen | |
| behandeln, weniger bekommen als ein Arzt in Ausbildung?“ fragt sich Sönke | |
| Brendel, der gerade sein Psychologiestudium in Hamburg beendet hat, im | |
| Gespräch mit der taz. | |
| Vier Jahre nach der Reform herrscht weiter Unklarheit über die | |
| Finanzierung. Christina Jochim, stellvertretende Bundesvorsitzende der | |
| Psychotherapeutenvereinigung, sagt auf Nachfrage der taz: „Die | |
| Bundesregierung muss die verabschiedete Reform nun auch finanzieren.“ | |
| ## Studierende stecken in einer Warteschleife | |
| Aktuell verlaufen die Jahre bis zur eigenen Praxis so: Das reformierte | |
| Studium ermöglicht Studierenden eine frühe Spezialisierung auf die | |
| Psychotherapie. Brendel gehörte zu den ersten Jahrgängen dieses neuen | |
| Masters: „Die Hoffnung auf bessere Bezahlung während der Weiterbildung war | |
| für mich und meine Kommiliton:innen der Hauptgrund, ins neue System zu | |
| wechseln.“ Nach fünf Jahren Studium Bachelor und Master ist er nun | |
| approbierter klinischer Psychologe. Idealerweise folgen nun fünf Jahre | |
| Weiterbildung zum Fachpsychotherapeuten. | |
| Aber genau hier hat die Reform versagt. De facto bieten die Institute kaum | |
| Plätze für die neue Weiterbildung, weil die Kliniken und Praxen keine | |
| finanzielle Sicherheit haben. Das Gesetz von 2020 sieht ein undefiniertes | |
| „angemessenes Gehalt“ für die Weiterbildung vor. Ohne Zuschüsse können d… | |
| Institute die Gehälter nicht refinanzieren. Aktuell bekommt der | |
| psychotherapeutische Nachwuchs höchstens 1.000 Euro brutto von den | |
| Krankenkassen gezahlt. [2][Von dem mageren Gehalt bezahlt niemand die hohen | |
| Fixkosten für die Ausbildung, die bei 20.000 bis 70.000 Euro liegen.] „Die | |
| Übergangsphase ist für alle gerade richtig beschissen. Auch für die, die | |
| noch im alten Ausbildungssystem stecken“, so Brendel. | |
| „Wir sind im Arbeitskampf“, sagt Felix Kiunke der taz. Der Psychologe | |
| startete letztes Jahr eine Petition, die eine Gesetzesgrundlage für die | |
| Finanzierung fordert: „Der Druck war lange nicht so groß, weil es die | |
| Absolvent:innen des neuen Studiums noch nicht gab. Doch nun reihen sich | |
| auch die ersten neuen Unijahrgänge in den Widerstand ein. Bis zum nächsten | |
| Jahr werden circa 3.000 Anwärter:innen erwartet, die auf eine | |
| Weiterbildung zum Fachpsychotherapeut warten. | |
| ## Proteste mehren sich vor dem Bundestag | |
| Schon drei Mal haben Kiunke und seine Mitstreiter:innen [3][vor dem | |
| Bundestag demonstriert]. Dass aktuell das | |
| Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) im laufenden parlamentarischen | |
| Verfahren das Problem nennt, ist ein Verdienst von Kiunke. Er reichte eine | |
| Petition ein, die es in den Bundestag schaffte. | |
| Bundesrat und Bundespsychotherapeutenkammer kritisieren jedoch, dass große | |
| Lücken im Gesetz bleiben. Wie sich die Praxen und Kliniken aufstellen | |
| sollen, um eine Finanzierung für die Ausbildungsplätze zu erhalten, werde | |
| im GVSG in „keiner Weise berücksichtigt“. | |
| Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) verweist auf Anfrage der taz auf die | |
| Verhandlungen von Instituten mit Krankenkassen. Wegen der Kosten der | |
| Berufsausbildung, die auch im neuen System weiterhin immens sind, antwortet | |
| das BMG, dass „keine weiteren finanziellen Spielräume zur Verfügung | |
| stehen“, um diese zu übernehmen. | |
| ## Aussichtslose Lage der Institute | |
| Wie aussichtslos die Lage bei den Instituten ist, zeigen zwei Beispiele. So | |
| muss die Psychologische Hochschule Berlin (PHB) vor das Landessozialgericht | |
| ziehen, weil die Verhandlungen mit der gesetzlichen Krankenkasse | |
| gescheitert sind. Wenn man sich nicht einigen kann, können keine bezahlten | |
| Weiterbildungen angeboten werden. „Das würde die ganze Gesetzesreform ad | |
| absurdum führen, die ja darauf abgezielt hat, die Situation der | |
| Auszubildenden zu verbessern“, so Koch, der Geschäftsführer der PHB. Er | |
| sieht keine Perspektive für ein baldiges Angebot von seiner Hochschule. | |
| Andere Institute, die versuchen die neue Weiterbildung anzubieten, machen | |
| Abstriche bei der Lehre und erhöhen das Arbeitspensum deutlich. Das | |
| Institut für Verhaltenstherapie-Ausbildung (IVAH) in Hamburg zahlt ein | |
| anständiges Gehalt im Tausch für ein deutlich höheres Arbeitspensum. | |
| Weniger Lehre und mehr Patient:innen sind der Deal, damit das Institut | |
| wirtschaften kann. | |
| Für den Nachwuchs sind die improvisierten Angebote unattraktiv. Brendel hat | |
| sich deswegen entschieden, erst mal ohne Weiterbildung im | |
| sozialpsychiatrischen Bereich zu arbeiten. „Es sind nicht nur wir, die | |
| wegen der Finanzierung unwissend sind, sondern auch alle Institutionen in | |
| diesem Bereich. Das ist ein Armutszeugnis für das | |
| Bundesgesundheitsministerium.“ | |
| Anmerkung der Redaktion: Gerhard Zarbock, Geschäftsführer der IVAH, hält | |
| die These, die IVAH würde weniger Lehre anbieten, für falsch. Er lässt uns | |
| wissen: | |
| „Richtig ist, dass bei der Behandlung von ca. 20 Patient*innen aus den | |
| Krankenkasseneinnahmen nur ein Gehalt von etwa 3500,00 € brutto monatlich | |
| finanzierbar wäre. Ob das bereits nach 5 Jahren Studium ein „ anständiges | |
| Gehalt“ ist, darüber kann man sehr streiten. Richtig ist aber auch, dass | |
| wir uns zur Zeit bei den Verhandlungen mit den Krankenkassen um eine | |
| Förderung der neuen Weiterbildung, z.B. durch höhere Honorarsätze für | |
| Weiterbildungstherapien, bemühen. Nur mit entsprechender Förderung könnte | |
| auch ein Tarifgehalt (TVÖD-14) gezahlt werden. Schlichtweg falsch, ist, | |
| dass wir weniger Lehre anbieten. Das Gegenteil ist richtig! Durch | |
| fallbezogene Unterrichtung im Rahmen eines innovativen Lehrkonzeptes, u.a. | |
| durch in die Arbeitszeit integrierte Mittagskonferenzen (im Jahr 50 | |
| Stunden), durch die von Weiterbildungsberechtigten geleiteten | |
| Theoriekonferenzen (2 Std./Woche, 100 Std. im Jahr) und durch zusätzlich 50 | |
| Stunden Expert*innen-Seminare im Jahr bieten wir statt der rechnerisch | |
| nötigen 100 Stunden pro Jahr (5 x 100 = 500 Stunden in 5 Jahren | |
| Gesamtweiterbildungszeit gemäß Weiterbildungsordnung) 200 Stunden Lehre pro | |
| Weiterbildungsjahr an.“ | |
| 23 Oct 2024 | |
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| Stella Lueneberg | |
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