# taz.de -- Nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen: Jetzt erst recht | |
> Neun gegen rechts engagierte Menschen berichten über ihre Angst vor einer | |
> Normalisierung der AfD – und über den eigenen Mut zum Widerstand. | |
Für jemanden, der sich seit Jahrzehnten für die Auseinandersetzung mit | |
NS-Verbrechen einsetzt, ist es einfach nur erschütternd und deprimierend, | |
wenn erstmals seit 1945 Rechtsextreme in einem Bundesland stärkste Kraft | |
werden. Das ist ein ganz dunkler Tag für Thüringen. | |
Natürlich hat der AfD-Wahlerfolg etwas mit dem Thema Migration zu tun oder | |
damit, wie zuletzt mit dem [1][Solingen-Attentat] umgegangen wurde: mit | |
einem Überbietungswettbewerb der demokratischen Parteien in | |
migrationsfeindlicher Rhetorik. Oder mit antiamerikanischen, antiliberalen | |
Geschichtsbildern der SED, die nachwirken. Aber ich fürchte, es hat auch | |
etwas mit der Abwehr gegen eine Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen zu | |
tun, die seit 1945 immer stark gewesen ist und in den letzten 30 Jahren | |
etwas überdeckt wurde. Unter der Oberfläche aber hat es immer gegrummelt, | |
jetzt ist es durchgebrochen. | |
Und nun ist ja völlig unklar, wie die demokratische Mehrheitsfindung im | |
Landtag ausgeht. Wenn die AfD, als schlimmstes Szenario, in irgendeiner | |
Form eine Regierungsbeteiligung erreicht, wäre das für uns desaströs. | |
Unsere Arbeit ist ja abhängig vom Landeshaushalt. Die Gehälter unserer | |
Angestellten sind gesetzlich festgelegt. Und auch mich abzulösen, wie die | |
AfD es angekündigt hat, würde nicht so leicht. Aber 90 Prozent unserer | |
Führungen etwa machen freie Guides, also Honorarkräfte, deren Etat man | |
theoretisch auf null setzen könnte. Damit würde unsere Bildungsarbeit | |
ausgetrocknet und beendet. | |
Aber auch wenn die AfD nicht mitregiert, bedeutet der AfD-Zugewinn, dass | |
sich die notorischen Angriffe gegen die Erinnerungskultur und unsere | |
Gedenkstättenarbeit fortsetzen werden. Dass sich dieses Denken in den | |
Köpfen weiter festsetzt. Und dass die Rechtsextremen auf gutem Wege sind, | |
ihre kulturelle Hegemonie in vielen Regionen Thüringens weiter auszubauen. | |
Der AfD-Mann Jörg Prophet, der zuletzt bei uns in Nordhausen noch knapp als | |
Oberbürgermeister verhindert wurde, hat nun den Wahlkreis gewonnen und | |
sitzt im Landtag. | |
Und für mich persönlich heißt das wohl auch, dass die Angriffe gegen mich | |
weitergehen. Ich hatte ja vor der Wahl 350.000 Haushalte angeschrieben und | |
um ein demokratisches Votum gebeten – und darauf teils wüste Drohschreiben | |
erhalten. | |
Auf einer Fotomontage hieß es: „Ein Galgen, ein Strick, ein Wagner-Genick.“ | |
Das lässt sich auch direkt auf die AfD zurückführen, die mit gezielter | |
Desinformation auf den Brief reagiert hat. Dass ich Steuergelder | |
verschwendet hätte oder gegen das Neutralitätsverbot verstoßen – alles | |
Mumpitz. | |
Aber wir wissen leider, dass es gewaltbereite Neonazis in unserem Land | |
gibt, die sich von so etwas animiert fühlen können, zur Tat zu schreiten – | |
es gab ja genug Angriffe auf Kommunalpolitiker. Diese Drohungen muss man | |
ernst nehmen. Das Ziel der Rechtsextremen ist ja gerade, Menschen | |
einzuschüchtern und diesen Gefallen werde ich ihnen nicht tun. | |
Selbstverständlich werde ich mich weiter für die Aufarbeitung von | |
NS-Verbrechen einsetzen und deutlich darauf hinweisen, welche Partei unsere | |
Arbeit angreift und versucht, diese Verbrechen kleinzureden. Und was meine | |
Briefaktion auch gezeigt hat: Die positiven Rückmeldungen waren deutlich | |
mehr als die negativen. Das ist ja schon mal ein hoffnungsvoller Punkt.“ | |
Jens-Christian Wagner ist Stiftungsdirektor der KZ-Gedenkstätten | |
Buchenwald und Mittelbau-Dora. | |
## „Gegenseitig den Rücken stärken“ | |
„Dass genau 85 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs eine | |
faschistische Partei in Thüringen stärkste und in Sachsen zweitstärkste | |
Kraft geworden ist, beschäftigt mich sehr. Wie wenig wollen wir aus unserer | |
Geschichte lernen? | |
Immerhin, dass es Linke und Grüne in den Landtag geschafft haben, ist gut. | |
Neben der SPD haben sie sich in der letzten Legislatur als einzige für | |
queere Menschen im sächsischen Landtag eingesetzt. Vermutlich werden sie | |
aber weniger als bisher für uns tun können, schon allein aufgrund der | |
wenigen Sitze, die sie zusammen bekommen haben. Das ist bitter. | |
Wenn uns Fördermittel und Räume verloren gehen, können wir weniger gegen | |
Queerfeindlichkeit aufklären und antifaschistische Bildungsarbeit machen. | |
Gerade im ländlichen Raum, wo es mancherorts schon jetzt, wenn überhaupt, | |
dann nur noch ein einziges soziokulturelles Zentrum gibt, ist es | |
dramatisch, wenn das wegbrechen würde. | |
Gerade als queere, migrantische oder antifaschistische Personen werden wir | |
uns immer schwieriger sicher und frei bewegen können, wenn wir nicht in | |
Gruppen unterwegs sind. Schon in den letzten Monaten wurden wir immer | |
häufiger angegriffen und angefeindet. Die Faschos, die es hier schon immer | |
gab und mit denen es immer mal Stress gab, aber nach den | |
‚Baseballschläger-Jahren‘ eben doch seltener – die verspüren politischen | |
Rückhalt und drängen mit ihrer rechten Gesinnung in die Mitte der | |
Gesellschaft zurück. | |
Dass in der künftigen Landesregierung neben der CDU wohl das BSW stärkste | |
Kraft sein wird, lindert diese Sorgen nicht. Im Gegenteil. Das BSW ist für | |
mich eine weitere rechte Partei unter einem linken Deckmantel. Zwar ist | |
ihre Sozialpolitik links, doch hetzen sie massiv gegen Migrant*innen und | |
queere Menschen, schimpfen aufs Gendern und auf das | |
Selbstbestimmungsgesetz. Sie tragen zu der rechten Stimmung im Land bei, | |
unter der wir leiden. Auch die CDU ist daran nicht unbeteiligt. | |
Wenn wir dagegen ankommen wollen, müssen wir laut sein, uns wehren. Wir | |
müssen weiterhin ganz viel Aufmerksamkeit in den ländlichen Raum lenken. | |
Und wir müssen uns noch stärker vernetzen, unsere Strukturen eng | |
zusammenziehen, wie ein Spinnennetz. Wir müssen uns gegenseitig den Rücken | |
stärken, sodass niemand das Gefühl bekommt, allein auf weiter Flur zu | |
stehen. Das klappt schon ganz gut, auch zwischen Stadt und Land. Daran | |
werden wir anknüpfen.“ | |
Ocean Hale Meißner, 27, aus Döbeln, engagiert sich bei „Döbeln bleibt bunt… | |
für queeres Leben im sächsischen Hinterland. | |
## „Ich frage mich: Kann ich hier bleiben?“ | |
„2021 habe ich ein Video gesehen, das zeigt wie ein minderjähriger Junge in | |
der Straßenbahn von einem Nazi in Erfurt verprügelt wird. Ich habe mich | |
hilflos gefühlt und mich gefragt, was ich tun kann. Damals habe ich | |
angefangen, mich zu engagieren, habe die Initiative „Jugendliche ohne | |
Grenzen“ gegründet. Heute, nach der Wahl, habe ich wieder viele Fragen, es | |
sind dieselben wie damals. Ich frage mich: Wie können wir uns schützen? Wie | |
wollen wir hier weiterleben? Was braucht es von mir? | |
Vor zwei Jahren habe ich meinen Onkel auf dem Mittelmeer verloren. Die | |
Menschen, die damals da waren, die mit mir nach Griechenland gefahren sind, | |
die getrauert haben: Mit diesen Menschen habe ich in den vergangenen | |
Monaten eine Demo organisiert. Mit ihnen habe ich am Sonntagabend die | |
Wahlergebnisse geschaut. Es war wichtig, mit den Ergebnissen nicht allein | |
zu sein. Wir sind spazieren gegangen, haben versucht, so gut es geht, uns | |
einen schönen Abend zu machen. | |
Für die nächsten Wochen haben wir nichts konkretes geplant. Das liegt | |
daran, dass wir die ganzen letzten Wochen all unsere Ressourcen verbraucht | |
haben. Ich bin müde. Ich hab keine Energie. | |
Was ich aber weiß, ist, ich bin nicht allein. Wir sind mächtig, und egal | |
was kommt: Unsere Familien, Freund*innen, Verbündete schützen uns. Wir | |
vertrauen einander und machen weiter. Das Gewaltvolle ist die Ungewissheit. | |
Nicht zu wissen, was sich politisch hier die nächsten Wochen verändern | |
wird. Jetzt will ich erstmal für meine Familie da sein. Wir fangen die | |
Gefühle voneinander auf. | |
Mein Studium beginnt im Oktober und ich frage mich: Kann ich hierbleiben? | |
Meine Mutter hat in den letzten Monaten immer wieder betont, dass sie | |
eigentlich weg will. Dass sie nicht mit dieser Unsicherheit leben will. | |
Aber ich weiß nicht, woher wir die Kraft, das Geld und die Möglichkeiten | |
nehmen sollten, wieder neu anzufangen. Ich möchte auch nicht weg. Es ist | |
mein Recht hier zu sein und es gibt viele Menschen, die mir Hoffnung geben, | |
die mich tragen. | |
Heute frage ich mich: Wie kann es sein, dass die demokratischen Parteien es | |
nicht geschafft haben, uns den Rücken zu stärken? Es wurde immer wieder | |
dazu aufgerufen, demokratisch zu wählen. Aber was für eine Politik wählt | |
man dann? Eine Politik, die zu Abschiebungen führt, zum NSU, zum rechten | |
Attentat in Hanau, zur europäischen Abschottungs-Asylpolitik GEAS, zu Sylt. | |
Darübermüssen wir jetzt auch sprechen. Darüber, wie die demokratischen | |
Parteien den Rechten den Weg bereitet haben.“ | |
Sultana Sediqi ist als Kind aus Afghanistan geflohen und lebt seit zehn | |
Jahren in Erfurt. Sie hat die Organisationen „Jugendliche ohne Grenzen“ und | |
„MigraFem“ mitgegründet. | |
## „Vor allen Dingen: Nicht hysterisch werden“ | |
„Ich habe am Sonntag normal im Restaurant gearbeitet und dabei die Wahl mit | |
den Gästen geguckt. Wir haben uns gefreut, dass die AfD nicht stärkste | |
Kraft ist. Aber es macht mir Angst, dass so viele Menschen eine Partei | |
wählen, die so radikale und menschenfeindliche Gedanken hat. Ich weiß noch | |
nicht, wie ich mit dem Ergebnis umgehen werde. Das müssen die nächsten Tage | |
zeigen. Vor allen Dingen: Nicht hysterisch werden. | |
Das Ergebnis war abzusehen, aber es ist trotzdem ein Schock. Ich hoffe, | |
dass unser Ministerpräsident eine Regierung hinbekommt. | |
Wir werden sowieso schon länger von der Polizei bewacht. Für uns ändert | |
sich gar nicht so viel. Aber es macht mir Sorgen, dass ich häufiger höre: | |
„Gegen euch haben wir nichts, aber wir wählen trotzdem die AfD.“ Heute | |
bedeutet das Ergebnis noch nicht so viel, aber das kann sich schnell | |
ändern. Ich glaube, dass die Menschen von rechts jetzt mehr Wind unter den | |
Flügeln haben und sich mehr trauen. Ich habe das Gefühl, dass die | |
Gesellschaft schon gespalten ist und dass der gesellschaftliche | |
Solidargedanke weg ist. | |
Ich kann nur hoffen, dass die Ergebnisse ein Signal an die Bundespolitik | |
sind. Es funktioniert nicht, die Einwände der Bevölkerung wegzulächeln. Sie | |
müssen sich damit auseinandersetzen und das Volk mitnehmen. Wir sollten | |
mehr miteinander denken und nicht gegeneinander. Es wurden Fehler gemacht | |
im Umgang mit dem Osten, und die AfD nutzt das aus. | |
Mein Stammtisch gibt mir im Moment Hoffnung. Das sind Leute, die seit 24 | |
Jahren jeden Sonntag zusammenkommen. Niemand wählt die AfD, aber sonst | |
wählen alle ganz unterschiedlich. Es ist ein bunter Mikrokosmos aus Leuten. | |
Ost und West, viel und wenig Geld und ganz unterschiedliche Berufe. Wir | |
argumentieren, diskutieren, streiten und bleiben trotzdem Freund:innen. | |
Alle können Ideen und Bedenken äußern. Schubladendenken verhindert | |
Diskussion. Das ist gelebte Meinungsfreiheit. Wir sollten mehr über | |
Lösungsansätze sprechen anstatt über alles, was schlecht ist und wegmuss.“ | |
Uwe Dziuballa betreibt seit 20 Jahren das jüdische Restaurant „Schalom“ in | |
Chemnitz. | |
## „Es wird schwerer, Fördergelder zu bekommen“ | |
„Wir wussten aus den Prognosen ja schon, was in Thüringen auf uns zukommt. | |
Und trotzdem ist es ein Schock, dass wir nun vor einem kompletten | |
politischen Umbruch stehen. Dabei sind wir es in Gera längst gewohnt, im | |
Alltag mit der AfD konfrontiert zu sein. Die Partei hat bereits seit den | |
Kommunalwahlen 2019 eine Mehrheit im Gemeinderat, sie ist in sämtlichen | |
Strukturen – der Verwaltung, in den Beiräten und wichtigen Gremien – | |
vertreten. | |
Wir sehen seitdem immer wieder, dass es schwerer wird, Geld für | |
Demokratieförderung zu bekommen. Das sagt uns keiner offen, aber die Leute | |
in den Behörden werden vorsichtiger, wenn es darum geht, Geld zu verteilen. | |
Es wird sehr genau darauf geachtet, dass ja nicht zu viel Geld an Leute | |
oder Projekte geht, die als irgendwie links oder alternativ gelten. Der | |
Rechnungshof dreht jeden Cent Fördergeld fünfmal um, in den Behörden | |
erleben wir kaum noch Kulanz. | |
Alle haben Angst, etwas falsch zu machen, was die AfD wieder für eine | |
Kampagne nutzen könnte. Was uns auch zu schaffen macht, sind Sticheleien | |
der hiesigen Lokalzeitung Neues Gera. Die ist eigentlich nur ein | |
Anzeigenblatt, aber in der Hand eines rechten Verlegers und mit | |
Verbindungen zur AfD. Von dort kommen immer mal merkwürdige Anfragen und | |
Texte, die uns zeigen, dass wir aus deren Sicht hier nicht erwünscht sind. | |
Bisher konnten wir uns aber immerhin auf die rot-rot-grüne Landesregierung | |
verlassen, der Kultur und Soziokultur wichtig war. | |
Was jetzt auf uns zukommt, ist ungewiss: Wofür stehen die CDU und das BSW | |
in Sachen Kulturförderung? Das wissen wir nicht. Dazu kommt, dass auch die | |
Kulturförderung vom Bund knapper wird, wenn die Ampelregierung ihre | |
Sparpläne durchsetzt. Dann fürchten wir also sowohl um Gelder aus der | |
Kommune, aus dem Land als auch vom Bund. Wir arbeiten nun also noch mehr | |
als bisher daran, uns finanziell komplett unabhängig zu machen von | |
staatlichem Geld. Viele in der Thüringer Zivilgesellschaft sind genauso | |
verunsichert wie wir. | |
Aber was ich auch erlebe, ist eine ganz große Solidarität: Leute vernetzen | |
sich stärker, wir diskutieren unter einander, wie sichergestellt werden | |
kann, dass auch die kleinen Projekte weiter ausreichend gefördert werden. | |
Und wir kriegen viel Zuspruch von außerhalb Thüringens: Allein im | |
vergangenen halben Jahr hatten wir so viele Anfragen von Leuten aus Berlin, | |
Köln und Westdeutschland, die bei uns Projekte machen wollten, wie nie | |
zuvor. Das zeigt uns, dass wir weitermachen müssen. Egal, wie heftig der | |
Gegenwind wird.“ | |
Philipp Venghaus ist Projektmanager beim Kulturhaus Häselburg Gera. Die | |
Häselburg bietet Werkstätten, Proberäume, Ateliers, eine Galerie und Büros | |
für die lokale Kreativwirtschaft. Sie war in diesem Jahr für den [2][taz | |
Panter Preis] nominiert. | |
## „Trotzdem ziehe ich aus der Realität Kraft“ | |
„Überrascht bin ich von den Wahlergebnissen nicht. Alarmierend und | |
schmerzhaft sind sie trotzdem. Die allgegenwärtige rechte Bedrohung bekommt | |
politische Ämter und mehr Handlungsspielraum. Da kann ich so resilient | |
sein, wie ich möchte: Es macht mir Angst. | |
Trotzdem ziehe ich aus dieser Realität Kraft. Wir versuchen bei Hillel | |
Deutschland hier in Leipzig für junge jüdische Menschen und ihre | |
Bedürfnisse da zu sein und so eine starke und widerständige Gemeinschaft | |
weiter auszubauen. Denn: Gerade da, wo es viele strukturelle Leerstellen | |
gibt, gibt es auch das größte Potenzial für Veränderung. | |
Wir stehen hier vielen intersektionalen Herausforderungen gegenüber: Zu | |
den generellen ostdeutschen Probleme von Strukturschwäche, Lohngefälle, | |
Fördermittelknappheit kommen noch Altersarmut – gerade unter den | |
sogenannten Kontigentflüchtlingen – sowie Antisemitismus und die damit | |
einhergehende reale Bedrohung der eigenen Sicherheit. | |
Wie stark ist jüdisches Leben in Sachsen eigentlich repräsentiert? Wir sind | |
wenige und verstreut. Anders als in westdeutschen Flächenländern oder in | |
Berlin ist die Zukunft jüdischen Lebens in Ostdeutschland keineswegs ohne | |
Weiteres gesichert. Viele Menschen aus meinem Freundes- und Familienkreis | |
dürfen nicht wählen. | |
Es ist wichtiger denn je, als Zivilgesellschaft insgesamt in den Austausch | |
zu gehen und gemeinsam Projekte auf die Beine zu stellen. Demokratische | |
Projekte brauchen jüdische Perspektiven, und die jüdische Gemeinschaft | |
braucht demokratische Strukturen. Aber gerade für uns als Jüdinnen und | |
Juden ist es spätestens seit dem 7. Oktober schwer, Verbündete zu finden. | |
Ich selber habe mich seitdem aus fast allen linken Räumen zurückgezogen. | |
Im Juni saß ich im Bus auf der Anreise zu den Protesten gegen den | |
AfD-Parteitag in Essen und habe dort Leute von sehr einseitigen | |
Pro-Palästina-Protesten aus Leipzig erkannt. Da dachte ich: Das muss ich | |
jetzt vielleicht aushalten, es geht um einen gemeinschaftlichen Kampf gegen | |
den Faschismus. Ich glaube, wir müssen, um die Demokratie zu schützen, noch | |
viel stärker nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner suchen – und versuchen, | |
dabei Diskrepanzen auszuhalten. Zumindest fürs Erste. | |
Meine Resilienz ist unfassbar auf die Probe gestellt. Erst der | |
Halle-Anschlag auf die Synagoge vor fünf Jahren, dann der 7. Oktober, jetzt | |
die Landtagswahl. Ich wache mehrmals nachts auf und weiß nicht, wohin mit | |
diesen existenziellen Ängsten. Gleichzeitig ist das jüdische demokratische | |
Leben auch in Ostdeutschland gerade so stark und sichtbar und lebendig wie | |
lange nicht mehr. Das mit aufbauen, formen und auf die Ressource der | |
Gemeinschaft zurückgreifen zu können gibt mir unglaublich viel Kraft und | |
Hoffnung.“ | |
Yael Burchak arbeitet in Leipzig bei Hillel Deutschland, einer Organisation | |
für junge jüdische Menschen. Außerdem baut sie beim jüdischen LGBTQIA+ | |
Verein Keshet Deutschland die Regionalgruppe „Ost“ mit auf. | |
## „Der Kampfgeist ist erstarkt“ | |
„Ich habe die Stimmzettel der Briefwahl ausgezählt. Da habe ich das | |
Ergebnis relativ nüchtern aufgenommen. Für den Abend haben wir eingeladen, | |
und die Omas, Opas und Freund:innen sind gekommen. Niemand sollte alleine | |
sein. Wir haben das als sehr bitteres Ergebnis wahrgenommen. Die Stimmung | |
war gedämpft. Ich hätte mir denken können, dass die AfD so stark wird, aber | |
dann war es doch schwierig. | |
Ich versuche jetzt, mit vielen Menschen Kontakt aufzunehmen, die ähnlich | |
denken. Ich möchte den Solidaritätsgedanken spüren. Es macht mir Sorgen, | |
dass soziokulturelle Vereine und andere demokratische Projekte jetzt nicht | |
mehr gefördert werden oder ihnen immer mehr Steine in den Weg gelegt werden | |
könnten. Hier in Döbeln hat der AfD-Kandidat gewonnen und das könnte den | |
Rechten noch mehr Auftrieb geben. | |
Wir haben schon vor der Wahl Anfeindungen von beispielsweise den Freien | |
Sachsen bekommen, aber das könnte jetzt mehr werden. Ich habe das Gefühl, | |
dass rechtes Gedankengut jetzt normalisiert wird und die Rechten moralisch | |
gestärkt sind. Ich glaube, die Situation wird unbequemer werden für uns. Es | |
macht mir Hoffnung, dass wir so viele sind bei den „Omas gegen Rechts“. Wir | |
haben eine Gemeinschaft, die uns hilft und tröstet. | |
Demokratische Initiativen haben es zwar schwerer im Moment, aber sie sind | |
trotzdem erstarkt in der letzten Zeit. Es könnte auch sein, dass jetzt alle | |
sehen, dass die AfD nicht für Regierungsverantwortung gemacht ist. Sie hat | |
kein geschultes Personal und wird dann vielleicht ihren Aufgaben nicht | |
gerecht. Aber das müssen wir sehen. | |
Ich bin besorgt darüber, dass so viele junge Menschen die AfD wählen. | |
Deshalb ist unser nächster Schritt bei „Omas gegen Rechts“, mehr Aufkläru… | |
bei diesen jungen Leuten zu machen. Wir möchten an Schulen gehen und | |
Vorlesetage in Kindergärten machen. Vielleicht reichen die Demonstrationen | |
nicht mehr. Wir treffen uns diese Woche und ich bin froh, dass es so | |
schnell nach der Wahl ist. Der Kampfgeist ist nur erstarkt.“ | |
Donata Porstmann setzt sich schon lange für ein demokratisches Miteinander | |
ein. Zuletzt hat sie eine Ortsgruppe der „Omas gegen Rechts“ in Döbeln | |
(Sachsen) gegründet. | |
## “‚Nie wieder‘ ist jetzt passiert“ | |
„In der Nacht von Sonntag auf Montag habe ich schlecht geschlafen. Ich habe | |
gegrübelt: Was wird heute passieren? Wie werden die Menschen auf der Straße | |
sein? Die Menschen, die AfD gewählt haben – das sind meine Nachbarn, das | |
sind Menschen, die ich auf der Straße treffe. Schon vor der Wahl wurde ich | |
regelmäßig beleidigt. Heute ist der erste Tag, an dem ich große Angst habe, | |
meinen Hidschab zu tragen und mit der Bahn von der Arbeit nach Hause zu | |
fahren. | |
Aber diese Angst ist unterschwellig. Vielleicht weil es nicht das erste Mal | |
ist, dass ich solche Ängste habe. Ich habe den Krieg in Syrien erlebt, bin | |
mehrfach geflohen. Ich habe Rassismus in Deutschland und in anderen Ländern | |
erlebt. Und diese Erfahrungen haben mich abgehärtet. Und trotzdem ist tief | |
in mir dieses Gefühl von Angst und vor allem Wut darüber, dass es so weit | |
kommen konnte. „Nie wieder“ ist jetzt passiert. Deutschland hat nicht aus | |
der Geschichte gelernt. | |
Ich möchte aufgeben. Aber das kann ich nicht. Ich bin mittendrin. Ich | |
tausche mich mit Freund*innen, meiner Familie und Kolleg*innen aus – | |
genau wegen dieser Menschen bin ich noch in Thüringen. Ich möchte nicht | |
wegen des Rechtsrucks wegziehen, aber ich weiß auch nicht, wie lange ich | |
ihm Stand halten kann. | |
Ich rechne damit, dass es mehr Alltagsrassismus geben wird. Aber was im | |
Landtag passieren wird, weiß ich nicht. Wenn die Mittel für unsere Arbeit | |
im Flüchtlingsrat gekürzt werden sollten, dann hoffe ich, dass uns der Bund | |
unterstützt. Wir wollen uns jetzt im Flüchtlingsrat über Wahlergebnisse | |
austauschen. Dadurch stärken wir uns gegenseitig. Unsere Arbeit geht | |
weiter. Aber ich sorge mich um Menschen, die noch im Asylverfahren sind. | |
Bei allem Schlechten bin ich sicher, dass es ein Umdenken geben wird. Unter | |
einer starken AfD leiden nicht nur Ausländer*innen. Frauen werden | |
diskriminiert. Ich denke, dass die Menschen in den nächsten Jahren | |
verstehen werden, welche Auswirkungen die Macht der AfD hat. Ich habe so | |
ein seltsames Gefühl von innerem Frieden: Meine Familie, meine | |
Freund*innen geben mir Kraft. Sie zeigen mir, dass egal wie die | |
Ergebnisse sind, dass sie da sind und mich unterstützen. | |
Nour al Zoubi arbeitet als Sozialarbeiterin in Erfurt. Sie ist Referentin | |
beim Flüchtlingsrat Thüringen. Al Zoubi wurde in Syrien geboren und kam | |
2015 nach Deutschland. | |
## „Werden uns nicht einschüchtern lassen“ | |
„Ich habe damit gerechnet, dass die AfD in Sachsen stärkste Kraft wird. | |
Dass sie jetzt knapp zweite geworden sind, ändert für mich, vom Gefühl her, | |
nichts. Die CDU ist in Sachsen ja auch keine Progressive Kraft. Sie trifft | |
als Teil der Landesregierung seit Jahren menschenfeindliche Entscheidungen | |
wie die Verschärfung des Versammlungsgesetzes oder die Einführung der | |
Bezahlkarte für geflüchtete Menschen. Dass die neuen Mehrheitsverhältnisse | |
im sächsischen Landtag zu einer menschenfreundlicheren Politik führen, | |
davon können wir leider nicht ausgehen. | |
Und auch die Räume für zivilgesellschaftliches Engagement werden enger | |
werden. Auch das ist aber nicht neu. In Grimma und in vielen anderen | |
ländlichen Orten ist das seit Jahren Realität. Die soziale Infrastruktur | |
wurde langsam, aber stetig kaputtgespart. Wo sollen Menschen – gerade | |
Kinder und Jugendliche auf dem Land – lernen und erfahren, wie | |
demokratische Teilhabe funktioniert, wenn es keine Räume gibt, in denen sie | |
zusammenkommen können? Die AfD-Fraktion im Landtag wird weitermachen wie | |
bisher und die Arbeit von uns und anderen Projekten, die Demokratie- und | |
Jugendarbeit machen, weiter systematisch mit kleinen Anfragen torpedieren. | |
Gerade jetzt müssen wir mit Haltung in die Offensive gehen. Es muss klarer | |
werden, wofür wir stehen und deutlicher werden, wer wir sind. Es braucht | |
mehr Sichtbarkeit von progressiven Inhalten und Menschen, die die offene | |
Gesellschaft der Vielen erst möglich machen. | |
Für uns ist das die Konsequenz aus den Wahlergebnissen: Wir werden noch | |
intensiver für ein anderes Sachsen eintreten und andere dazu ermutigen, das | |
auch zu tun. Das wird in den kommenden vier Jahren nicht leichter. Aber die | |
letzten Monate haben gezeigt, dass wir gerade im ländlichen Sachsen sehr | |
gut darin geworden sind, uns zu vernetzten und Strategien zu entwickeln, um | |
von Landesmitteln unabhängiger zu werden. Von der rechten Stimmung im Land | |
werden wir uns nicht einschüchtern lassen.“ | |
Sarah Schröder baute vor zehn Jahren das„Dorf der Jugend“ in Grimma | |
(Sachsen) mit auf und beschäftigt sich mit unabhängiger Sozialer Arbeit und | |
politischer Bildung in ländlichen Räumen Ostdeutschlands. | |
Hinweis der Redaktion: Die Interviewten waren Gäste bei den taz Panter | |
Foren in Erfurt und Chemnitz – einem Kooperationsprojekt der taz Panter | |
Stiftung und der taz-Redaktion. Am 7.9. findet das dritte und letzte taz | |
Panter Forum in Cottbus statt – vor den Landtagswahlen in Brandenburg am | |
22.9.. Alle Infos dazu finden Sie unter [3][www.taz.de/panterforen]. | |
2 Sep 2024 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Tobias Bachmann | |
Marie Sophie Hübner | |
Louise Ringel | |
Anne Fromm | |
Konrad Litschko | |
Dinah Riese | |
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