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# taz.de -- Grünen-Niederlage im Osten: Es kann besser werden
> In Sachsen und Thüringen haben die Grünen einiges richtig gemacht und
> trotzdem katastrophal verloren. Aus dem Ergebnis lassen sich aber Lehren
> ziehen.
Bild: Fast nichts zu feiern: Parteichefin Ricarda Lang am Sonntag auf der Wahlp…
Als Ricarda Lang und der Grünen-Vorstand in der vergangenen Woche zum
Wahlkampf nach Dresden kamen, machten sie eine seltsame Begegnung. Die
Grünen hatten Gratis-Eis dabei, damit wollten sie Passant*innen locken
und in Gespräche verwickeln. Das klappte auch in vielen Fällen, es sind ja
nicht alle schlecht in Sachsen, aber zumindest ein Herr erfüllte dann doch
das Klischee.
Am Rande des grünen Eiswagens schrie er sich in Rage: Er arbeite und zahle
Steuern und wenn er ein Eis essen wolle, dann bezahle er mit seinem eigenen
Geld dafür. Ricarda Lang könne ihm mit ihrem Gratis-Eis gestohlen bleiben,
das Gratis-Eis sei ein mieser Trick, das Gratis-Eis, das esse er nicht –
pfui!
Das passt zu den Wahlergebnissen, die die Grünen am Sonntag in Sachsen und
in Thüringen eingefahren haben: Es scheint fast, als könnte die Partei
machen, was sie will – am Ende steht sie doch mies da. So schlecht war
eigentlich nicht, was sie den Wähler*innen in beiden Bundesländern
angeboten hat. Viele Fehler, die man Grünen bei anderen Gelegenheiten
vorwerfen kann, haben sie hier vermieden.
Eine West-Partei? Das Spitzenpersonal kam vorwiegend aus dem Osten. Eine
Großstadt-Partei? Leute wie die sächsische Fraktionschefin Franziska
Schubert sind der personifizierte ländliche Raum. Politik nur für
Gutverdienende? Der thüringische Umweltminister Bernhard Stengele erzählte
im Wahlkampf bei jeder Gelegenheit von seinem Windkraftbeteiligungsgesetz,
dank dem alle an Windrädern verdienen können und nicht nur die
Windradbetreiber. „Die soziale Komponente ist hier viel wichtiger“,
[1][sagte er im taz-Interview über die Energiewende in Thüringen].
Und trotzdem ist das Wahlergebnis ein Desaster. In Sachsen sind die Grünen
gerade noch so mit sieben Leuten im Landtag, in Thüringen sind sie mit dem
schlechtesten Ergebnis seit 1999 raus. Die traditionelle Schwäche der
Partei im Osten traf auf die miese Ampel-Performance im Bund und den
neuartigen Drang aller möglichen Akteure, die Öko-Partei für alles Mögliche
verantwortlich zu machen. Viel mehr war da für sie gar nicht zu holen. Und
doch gibt es ein paar Umfragedaten vom Wahltag, aus denen die Grünen Lehren
ableiten könnten.
## 1. Demokratie retten funktioniert nicht
Demokratie retten, AfD bekämpfen: Die Bundespartei machte das schon in
ihrer Kampagne zur Europawahl zum zentralen Thema. Das floppte zwar,
trotzdem versuchten [2][die Landesverbände in Sachsen und Thüringen das
Gleiche noch mal]. Verständlich, denn erstens ist die Demokratie wirklich
in Gefahr und zweitens funktioniert das Motiv bei der Anwerbung und
Mobilisierung von Mitgliedern ausgezeichnet. Warum klappt es nur bei Wahlen
nicht?
Unter anderem, weil das Alleinstellungsmerkmal fehlt. Wer die Demokratie
verteidigen wollte, konnte auch SPD und Linke wählen – oder sogar die CDU.
Die Union selbst warb bei progressiven Wähler*innen darum, taktisch zu
wählen, für stabile Verhältnisse zu sorgen und die Konservativen zumindest
in Sachsen vor die AfD zu schieben. Damit hatte sie offenbar Erfolg: In
beiden Ländern verloren die Grünen [3][laut Daten von Infratest Dimap am
stärksten an die Union] und in beiden sagte eine Mehrheit der
CDU-Wähler*innen, es sei ihnen nur darum gegangen, [4][dass die AfD nicht
zu viel Einfluss erhält]. Vielleicht hat das Thema „Demokratie retten“ für
die Grünen zu gut funktioniert. Ihre Wähler*innen sind zur Wahl
gegangen, haben aber nicht grün gewählt.
## 2. Das Klima hat es schwerer
Eine stärkere Rolle als bei der Europawahl spielte in beiden Kampagnen der
Grünen das Klima. Das Problem: Ansonsten kam es im Wahlkampf kaum vor. In
der Spitzenrunde des MDR für Thüringen fehlten Fragen zum Thema. Grüne in
beiden Ländern berichteten, dass es bei vielen Podiumsdiskussionen ähnlich
lief. Wäre es anders gewesen, wäre zwar auch das für die
Grünen-Kandidat*innen kein Vergnügen gewesen. Von allen Seiten wäre ihnen
einmal mehr Robert Habecks Heizungsgesetz vorgehalten worden, ein rotes
Tuch gerade im Osten, wo viele unvermögende Eigenheimbesitzer*innen
leben. Aber gar nicht für das eigene Kernthema argumentieren zu dürfen –
das macht es auch nicht besser.
Die mediale Setzung korrespondiert mit dem Bedeutungsverlust, den das Thema
seit der letzten Wahl in der Bevölkerung hingelegt hat. 2019 brachte
Fridays for Future Millionen auf die Straßen, heute steckt die
Klimabewegung selbst in der Krise. Infratest Dimap fragte damals und zu
dieser Wahl, wie vielen Menschen in Thüringen der Klimawandel große Sorgen
bereitet – der Wert sank um 11 Prozentpunkte. Immerhin: Er liegt immer noch
bei 54. Er beschäftigt viele immer noch. Es haben sich aber neue Sorgen
davor geschoben.
## 3. Ausländer, Islam und Sicherheit
Drei der vier größten Ängste der Befragten: Dass zu viele Fremde nach
Deutschland kämen, der Islam zu viel Einfluss bekomme (mit einem Plus von
21 Prozentpunkten) und die Kriminalität zunehme. Das sind heftige
Rahmenbedingungen für eine Mitte-Links-Partei, bei der Antirassismus gerade
für viele jüngere Mitglieder identitätsstiftend ist.
Auf den ersten Blick liefern die Zahlen Argumente für diejenigen Grünen,
die auch der eigenen Partei eine härtere Migrationspolitik aufdrücken
wollen. Robert Habeck zum Beispiel, der [5][in der Koalition als Reaktion
auf den Anschlag von Solingen zustimmte, Dublin-Flüchtlingen das Geld zu
streichen]. Die Entscheidung drei Tage vor den Wahlen hat den Grünen in
Thüringen und Sachsen nicht sichtbar geschadet: Anders als noch bei der
Europawahl deuten keine Zahlen darauf hin, dass sich viele linke
Grünen-Wähler*innen abgewendet haben.
Allerdings: In den vergangenen 12 Monaten haben die Grünen wiederholt
Asylrechtsverschärfungen mitgetragen. Die Rufe von rechts nach weiteren
Verschärfungen hörten trotzdem nicht auf und die Wähler*innen in Sachsen
und Thüringen schreiben den Grünen weiterhin keine Kompetenz in der
Flüchtlingspolitik zu (Infratest Dimap zufolge sogar noch weniger als
2019). Zu gewinnen hat die Partei hier nicht viel.
## 4. Mal wieder ein bisschen Frieden
Vor die Klima-Sorge haben sich der Umfrage zufolge zwei weitere Ängste
geschoben, die die Grünen stattdessen angehen könnten – und die weniger
Potenzial haben, die Partei zu spalten. 77 Prozent der Thüringer*innen
treibt demnach um, dass Deutschland in den Ukraine-Krieg hineingezogen
werden könnte. Die Grünen waren in Thüringen und Sachsen die einzige
Partei, die eindeutig zu ihrer Ukraine-Solidarität stand. Ihre
Wahlkämpfer*innen wurden dafür besonders häufig angefeindet. Am Sonntag
verloren die Grünen nicht massiv, aber doch zählbar, an das
russlandfreundliche BSW.
Ein inhaltlicher Kurswechsel ist von den Grünen in der Frage nicht zu
erwarten. Bei aller Flexibilität in anderen Themenfeldern – hier stehen sie
felsenfest. Sie dringen aber einfach nicht mit ihrer Argumentation durch,
dass nur massive Waffenlieferungen am Ende zu einem echten Frieden führen
könnten.
Vielleicht würde es der Glaubwürdigkeit dienen, wenn die Grünen dafür in
anderen Bereichen, jenseits der Ukraine, mal wieder genuin
friedenspolitisch auftreten. Die Frage der US-Mittelstreckenraketen für
Deutschland zum Beispiel bewegt gerade im Osten viele Menschen. [6][In
Fachkreisen wird sie ebenfalls kontrovers diskutiert]. Mit
Aufrüstungsdynamiken und Abrüstungsgesprächen kannten sich die Grünen
einmal aus – in der aktuellen Debatte könnten sie die Kompetenzen mal
wieder auspacken.
## 5. Wie sozial muss es sein?
Und dann sind da noch diese Zahlen: In Thüringen zählt zu den größten
Sorgen auch, den eigenen Lebensstandard nicht halten zu können (ein Plus
von 26 Prozentpunkten). In Sachsen wurde am häufigsten die soziale
Sicherheit als wahlentscheidendes Thema genannt (20 Prozent). Bei der
Frage, welcher Partei die Leute dabei am meisten zutrauen, tauchen die
Grünen noch nicht mal auf. Und verloren haben sie am Sonntag auch
signifikant an die SPD.
Linke Grüne verweisen [7][wie schon nach der Europawahl] am liebsten auf
solche Daten, wenn es um Konsequenzen aus den Wahlniederlagen geht. Das ist
einerseits schlüssig. Andererseits: Es war der Erfolg des linken Flügels,
in der Partei eine Sozialpolitik im Sinne höherer Transferleistungen an die
Ärmsten durchzusetzen. Kindergrundsicherung und Bürgergeld sind nicht
zuletzt grüne Ampel-Projekte – und verschaffen der Partei doch viel weniger
sozialpolitische Glaubwürdigkeit als erhofft. Das Verhetzungspotenzial
beider Reformen wurde unterschätzt.
Auch dieses Problem zeigt sich im Osten verstärkt: Überdurchschnittlich
viele Menschen arbeiten dort für geringe Löhne. Bekommen Menschen ohne
Arbeit plötzlich ein bisschen mehr Geld, sorgt das für Reibung. In einer
perfekten Welt ließe sich dem entgegenwirken: Dort könnten auch der
Mindestlohn steigen und die Mittel für die soziale Infrastruktur
(Jugendzentren, Krankenhäuser, Wohnungen …) erhöht werden. Vielleicht wäre
danach sogar noch etwas für das Klimageld übrig. Eine Koalition, in der der
Wille und die Finanzen für all das reichen, ist für die Grünen aber nicht
in Sicht. Es läuft auf ein Entweder-Oder hinaus.
In den nächsten Monaten müssen die Grünen ihr Wahlprogramm für den
Bundestagswahlkampf schreiben. Auch die Diskussion darüber, für welche
Sozialpolitik sie dann stehen wollen, könnte hart werden – das zeichnet
sich jetzt schon ab. Aber das ist nicht die schlechteste Aussicht: Es hieße
zumindest, dass sie für eine Sozialpolitik stehen wollen.
2 Sep 2024
## LINKS
[1] /Thueringenwahl-2024/!6031749
[2] /Landtagswahl-in-Sachsen/!6028492
[3] https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2024-09-01-LT-DE-SN/analyse-wanderung…
[4] https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2024-09-01-LT-DE-TH/umfrage-cdu.shtml
[5] /Reaktionen-auf-Asylrechtsverschaerfungen/!6033472
[6] /Mittelstreckenwaffen-in-Deutschland/!6020300
[7] /Gruenen-Politiker-ueber-die-EU-Wahl/!6019287
## AUTOREN
Tobias Schulze
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