# taz.de -- Grüner über Waffenlieferungen an Ukraine: „Es braucht Friedensg… | |
> Winfried Hermann ist Verkehrsminister in Baden-Württemberg, die | |
> Waffenlieferungen an die Ukraine sieht er kritisch. Damit ist er bei den | |
> Grünen ziemlich allein. | |
Bild: Selten auf Linie: Winfried Hermann gemeinsam mit der Publizistin und Ex-G… | |
taz: Herr Hermann, seit Beginn des Ukrainekriegs haben Sie immer wieder | |
kritische Anmerkungen zur Militarisierung der Politik gemacht. Jetzt haben | |
Sie einen überparteilichen Aufruf gestartet. Sind Sie der letzte Pazifist | |
in Ihrer Partei? | |
Winfried Hermann: Das glaube ich nicht. Seit Beginn des Ukrainekriegs wurde | |
ich immer wieder von Grünen-nahen Friedensbewegten angesprochen, warum sich | |
kein Grüner von Rang und Namen zur Eskalationsgefahr von Waffenlieferungen | |
äußert oder wenigstens darüber diskutiert. Von Leuten, die konservativer | |
sind, habe ich sehr positive Rückmeldungen bekommen. Sie teilten meine | |
Sorge vor Eskalation. Aus meiner Partei habe ich dagegen nach meiner ersten | |
Wortmeldung in der Zeitung Kontext ziemlich Gegenwind bekommen. | |
taz: Winfried Kretschmann, in dessen Kabinett Sie als Verkehrsminister | |
sitzen, ist ganz anderer Meinung als Sie. Er sagt, mit Pazifismus könne man | |
keinen Staat machen, das könne nur eine individuelle Einstellung sein. Hat | |
er recht? | |
Hermann: Ja, das ist zuerst eine individuelle Haltung. Und doch gibt es | |
Staaten, die friedensorientierte Politik machen oder beispielsweise die | |
Schweiz, die auf Neutralität setzt und seit Jahrhunderten keinen Krieg | |
geführt hat. Trotzdem sehe ich ein, dass die Haltung eines Bundeskanzlers | |
nicht per se pazifistisch sein kann – das könnte er nur für sich persönlich | |
sein. Dennoch kann man auch in dieser Funktion eine andere Politik machen, | |
die auf Verhandlungen und Diplomatie setzt und nicht vor allem auf Waffen. | |
Wenn man sagt, ein Aggressor versteht nur eine militärische Antwort, ist | |
man in einer militärischen Logik gefangen. Das widerspricht dem | |
Friedensgebot im Grundgesetz: zu versuchen, Frieden zu machen. Nichts | |
anderes heißt Pazifismus. Das wäre eine wertebasierte Außenpolitik. | |
taz: Kennen Sie einen Weg, wie der Krieg friedlich beendet werden kann, den | |
die Bundesregierung nicht kennt? | |
Hermann: Ich will nicht als Besserwisser auftreten, ich habe ja viel | |
weniger Informationen als die Politiker in der Regierung und im Bundestag. | |
Meine Mitstreiterinnen und Mitstreiter und ich wollen dazu beitragen, dass | |
in dieser Republik vernünftig über Krieg und Frieden, Militär und Wege zum | |
Frieden diskutiert wird. Wir dürfen mehr Diplomatie wagen. | |
taz: Sie haben sich mit Veteranen der Friedensbewegung zusammengetan. | |
Braucht es nicht neuere Antworten als die, die im Kalten Krieg gegolten | |
haben? | |
Hermann: Natürlich, alles andere wäre borniert. Es ist jedoch nicht | |
angemessen, dass man alle Einsichten, die man damals gewonnen hat, heute | |
für falsch erklärt. Es gibt erstaunliche Parallelen: Die Friedensbewegung | |
galt als naiv, sie wollte den Rüstungswettlauf stoppen, in Sorge um einen | |
atomaren Krieg. Auch damals hat die Nato ihre Aufrüstung mit Cruise | |
Missiles mit einer „Raketenlücke“ begründet. Anders als heute gab es gro�… | |
Debatten, Demonstrationen und Diskussionen im Bundestag – und am Ende eine | |
Friedensbewegung. Die [1][Stationierung neuer amerikanischer Raketen] wird | |
heute fast kritiklos hingenommen, als „Tagesschau“-Meldung. | |
taz: Sind Sie gegen die Raketen? | |
Hermann: Ja. Es muss andere Lösungswege geben. Ich bin kein | |
Putin-Versteher, kann aber nachvollziehen, dass Raketen, die auf Russland | |
gerichtet sind, dort als Bedrohung gedeutet werden. Wer Friedenspolitik | |
macht, muss die Interessen der anderen Seite verstehen, nicht | |
rechtfertigen. | |
taz: Vielleicht heißt Putin verstehen, zu begreifen, dass er nur Stärke | |
versteht. | |
Hermann: So denken alle Konfliktparteien. Und das ist ja zunächst eine | |
Behauptung, die nicht stimmen muss. | |
taz: Was lässt Sie daran zweifeln? | |
Hermann: Der Beleg des Erfolgs militärischer Mittel steht aus: Die | |
Aufrüstungslogik hat den Krieg leider nicht beendet, im Gegenteil. Wenn man | |
den blutigen Stellungskrieg sieht, muss man doch die Strategie | |
reflektieren. Die richtige Überzeugung, dass Putin im Unrecht ist, bringt | |
auf dem Schlachtfeld nichts. Aber versetzen wir uns in die andere Seite: | |
Während wir im Kalten Krieg den Weltfrieden durch den Warschauer Pakt | |
gefährdet gesehen haben, galt das auf der Gegenseite für die Nato. In der | |
Sowjetunion hat man die USA in Vietnam und anderswo Kriege führen sehen. | |
Die Sowjetunion und später Russland hat die Gegenseite oft militärisch | |
unterstützt und auch Kriege geführt, beispielsweise in Afghanistan oder | |
Tschetschenien. Nach dem Kalten Krieg gab es aber Annäherungsansätze. | |
Allerdings endete die Nato nicht, wie in Aussicht gestellt, an der | |
polnischen Grenze. Und in der Folgezeit sind die Rüstungskontrollverträge | |
von beiden Seiten unterlaufen und nicht verlängert worden. Jede Seite warf | |
der anderen vor, die Verträge gebrochen zu haben. | |
taz: Was wollen Sie damit sagen? | |
Hermann: Ich will mit Fehlern des Westens keinesfalls den Angriffskrieg | |
Russlands rechtfertigen. Aber es ist fatal, dass die Abrüstungs- und | |
Friedenspolitik in den 2000er Jahren nicht weiterverfolgt wurde. | |
Stattdessen wurde aufgerüstet. Die USA geben heute ein Vielfaches für | |
Militär aus wie Russland. | |
taz: Man hat sich 2014 mit der Kriegsbereitschaft Russlands schon mal | |
geirrt. Würden Sie Polen und den Balten guten Gewissens sagen, sie müssen | |
sich keine Sorge machen? | |
Hermann: Nein. Auch als Pazifist bin ich überzeugt, dass es gerechtfertigt | |
ist, dass sich die Ukraine verteidigt. Ebenso ist es richtig, dass die | |
baltischen Staaten Vorkehrungen treffen. Ich glaube sogar, dass es trotz | |
aller Kritik an Nato und den USA wichtig ist, dass diese Länder in der Nato | |
sind. Ich verstehe, dass [2][Finnland und Schweden beigetreten] sind. Aber | |
das hat einen Effekt: Rund um Russland gibt es nur noch die Nato. Ein | |
Militärbündnis kann Friedenspolitik nicht ersetzen. | |
taz: Sie sagen auch, dass man Putin nicht mit dem russischen Volk | |
gleichsetzen darf. Haben Sie mal versucht, Kontakt mit diesem anderen | |
Russland aufzunehmen? | |
Hermann: Nein, dazu sind wir zu klein. Aber ich bin der Meinung, dass es | |
fatal ist, dass wir seit dem Krieg alle zivilgesellschaftlichen Kontakte, | |
Städtepartnerschaften und Forschungsgemeinschaften aufkündigen und | |
boykottieren. Wie soll dann noch die andere Sicht der Dinge nach Russland | |
gelangen? Aber auch die einfachen Soldaten, die gezwungen oder von | |
Ideologie verblendet im Krieg fallen, können uns doch nicht egal sein. | |
taz: Die Frage ist doch, warum es den Russen egal ist. | |
Hermann: Den Ehefrauen und Kindern ist das nicht egal. Man muss wissen: Das | |
Trauma des Zweiten Weltkriegs, der brutale Überfall durch die Deutschen, | |
ist im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung sehr präsent. Dazu gehört, | |
dass man zur Verteidigung des Vaterlands auch bereit zum Sterben sein muss. | |
Das nutzt Putin in seiner Propaganda. | |
taz: Müssten Friedensverhandlungen nicht von der Ukraine ausgehen? | |
Hermann: Die politische Führung der Ukraine sieht keinen anderen Weg, als | |
das Land militärisch zu verteidigen und Russland zu besiegen. Verhandlungen | |
gelten als Kapitulation. Ob diese Position in der Bevölkerung noch lange | |
mitgetragen wird, weiß ich nicht. Als Pazifist habe ich eine andere Sicht. | |
Es braucht die Bereitschaft für eine Verhandlungslösung, von beiden Seiten! | |
Ich persönlich würde unsere Demokratie mit allen zivilen Mitteln | |
verteidigen. Aber ich wäre nicht bereit, für den Kampf um zerstörtes | |
Territorium – und sei es ein Stück unseres Landes – zu sterben. | |
taz: Und für Demokratie und Freiheit – Werte, für die viele im Zweiten | |
Weltkrieg gestorben sind? | |
Hermann: Der militärische Kampf der Alliierten im Zweiten Weltkrieg zur | |
Beendigung der Nazi-Gräuel, das ist das Standardargument, mit dem wir | |
Pazifisten konfrontiert werden. | |
taz: Ist es falsch? | |
Hermann: Dieser historische Vergleich hinkt meistens, aber grundsätzlich | |
gilt: Wenn alle politischen Mittel zum Frieden verpasst werden, wenn schon | |
viele tot sind und alles zerstört ist, dann ist ein gewaltfreier Ausweg | |
schwierig. | |
Was wäre dann jetzt zu tun? | |
Hermann: Es braucht neutrale Moderatoren, Verhandlerinnen oder Verhandler, | |
die einen Waffenstillstand beziehungsweise Bedingungen dazu vorschlagen, | |
ohne damit Russlands Geländegewinne anzuerkennen. Die derzeitige | |
Kriegsgrenze und ein Waffenstillstand müssten mit einem UNO-Blauhelm-Mandat | |
gesichert werden. | |
taz: Da müsste Russland zustimmen. | |
Hermann: Ja, aber auch die Ukraine und USA. Es braucht Initiativen zu | |
Verhandlungen. | |
taz: Um den Krieg abzukürzen, würde [3][Ihr Parteifreund Anton Hofreiter | |
gerne möglichst viele Waffen liefern], damit die Ukraine gewinnt. | |
Hermann: Immer mehr Waffen haben bisher nicht zum Erfolg, sondern zur | |
Aufrüstung der anderen Seite und zu mehr Gewalt geführt. Es besteht das | |
Risiko einer atomaren Eskalation. Es braucht Friedensgespräche! Aus meiner | |
Sicht könnten die UNO und die Brics-Staaten vermitteln. Deutschland ist | |
dafür nicht geeignet. | |
taz: Kritisieren Sie, dass wir auf der Seite der Ukraine stehen? | |
Hermann: Nein, aber zur Vermittlung braucht es neutrale Akteure. | |
taz: In Ihrem Aufruf heißt es, man müsse in einer Demokratie diese | |
Positionen vertreten dürfen. Das hörte man auch auf | |
Querdenker-Demonstrationen. Wer hindert Sie daran, Ihre Positionen zu | |
vertreten? | |
Hermann: Mit den Querdenkern haben wir nichts gemein. Aber als ich mich vor | |
eineinhalb Jahren das erste Mal öffentlich kritisch geäußert habe, bin ich | |
auch von Parteifreunden heftig kritisiert worden. Obwohl ich damals schon | |
gesagt habe, dass Putin ein Imperialist ist, der Krieg gegen das | |
Völkerrecht verstößt, galt ich als Putin-Versteher und als einer, der die | |
eigene Verteidigungsfähigkeit schwächt. So wird man in eine blinde | |
Solidarität gedrängt, die ich für gefährlich halte. | |
taz: Wie sehr haben Sie sich von Ihrer Partei entfremdet? | |
Hermann: Nicht so sehr von der Partei. Seit dem Parteitag in Rostock 2001, | |
als die Partei mit großer Mehrheit für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan | |
gestimmt hat, weiß ich, dass ich in der Minderheit bin. Es ist trotz aller | |
Kritik nicht mein Interesse, die Grünen zu spalten – unsere Initiative ist | |
überparteilich. | |
taz: Was wollen Sie erreichen? | |
Hermann: Ich will, dass wir rational über Wege zum Frieden diskutieren und | |
die Annahmen der militärischen Logik hinterfragen. Es ist Zeit für einen | |
Strategiewechsel. Wollen wir uns wirklich von Putin in eine militärische | |
Logik des 19. Jahrhunderts zwängen lassen, obwohl wir wissen, dass uns das | |
auf lange Sicht davon abhält, die sozialen und ökologischen Probleme auf | |
diesem Planeten zu lösen? | |
9 Sep 2024 | |
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