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# taz.de -- Stationierung von Mittelstreckenwaffen: Tomahawks für Deutschland
> Deutschland hat der Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen zugestimmt.
> Einst demonstrierten dagegen Millionen. Was ist heute davon zu halten?
Bild: Protest der Friedensbewegung gegen Pershing-II-Raketen 1987
## 1. Was haben die USA und Deutschland eigentlich da jetzt vereinbart?
Am Rande des Nato-Gipfels in Washington haben die Regierungen der beiden
Länder am 11. Juli eine [1][gemeinsame Erklärung] veröffentlicht, nach der
ab 2026 mehrere weitreichende landgestützte US-amerikanische Waffensysteme
zunächst temporär, schließlich dauerhaft in Deutschland stationiert werden
sollen. Dabei handelt es sich laut Erklärung um „SM-6, Tomahawks und
derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen“. Sie verfügen über
eine deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme
in Europa.
## 2. Was sind das für Waffensysteme?
SM-6 steht für Standard Missile 6. Dabei handelt es sich um eine
Mehrzweckrakete des US-amerikanischen Rüstungskonzerns Raytheon, deren
neueste Version eine Reichweite von bis zu 1.600 Kilometer haben soll. Die
Waffe könne für die Luftabwehr, die Abwehr ballistischer Raketen und von
Marschflugkörpern sowie für Angriffe gegen Schiffe und auch andere Ziele
eingesetzt werden.
Ebenfalls zum Portfolio von Raytheon gehören die Tomahawk Cruise Missiles.
Das sind Marschflugkörper, die in ihrer aktuellen Variante (R/UGM-109H
Tomahawk Block Vb) über eine Reichweite von über 1.650 Kilometern verfügen.
Der Konzern wirbt für seine Kriegswaffe, da sie bereits „mehr als 2.350 Mal
in einer operativen Umgebung eingesetzt“ worden sei, zuletzt in diesem Jahr
von der Marine der USA und Großbritanniens gegen Stellungen der Huthis im
Jemen. Die Tomahawks können auch atomar bestückt werden, sollen aber –
zumindest vorerst – nur mit konventionellen Gefechtsköpfen ausgestattet
sein.
Mit „hypersonischen Waffen“ sind Hyperschallraketen gemeint, in den USA ist
von Long-Range Hypersonic Weapon (LRHW) die Rede. Sie werden auch Dark
Eagle genannt und von der US-Rüstungsschmiede Lockheed Martin produziert,
einem Sponsor der Münchner Sicherheitskonferenz. Die Raketen führen im
Innern ihrer Spitze einen Gleitflugkörper mit. Nach Erreichen der Flughöhe
in den äußeren Bereichen der der Erdatmosphäre löst er sich vom Rest der
Rakete und gleitet dann mit Hyperschallgeschwindigkeit – mehr als fünffache
Schallgeschwindigkeit – in Richtung seines bis zu knapp 2.800 Kilometer vom
Abschussort entfernten Ziels.
Dark Eagle befindet sich noch in der Entwicklungsphase, Ende Juni
[2][berichtete das US-Verteidigungsministerium] über den erfolgreichen Test
einer von Hawaii aus gestarteten Hyperschallrakete. Laut einem [3][Bericht
des Forschungsdienstes des US-Kongresses] soll die Waffe nun in die
Serienproduktion gehen, die ersten Raketen sollen Mitte August an die
US-Armee ausgeliefert werden.
## 3. Wo sollen die Mittelstreckenwaffen genau stationiert werden?
Das ist noch nicht bekannt, wahrscheinlich wäre ein US-Stützpunkt in
Süddeutschland. Sowohl die SM-6 als auch die Tomahawks gehören eigentlich
zur Standardausrüstung der US-Navy, werden also üblicherweise von Schiffen
aus abgeschossen. In Deutschland sollen sie vom Boden aus einsetzbar sein.
Hierfür nutzt die US-Armee seit dem vergangenen Jahr die von Lockheed
Martin entwickelten Typhon-Raketenwerfer, die auf spezielle Lastwagen
montiert werden. Auch die Hyperschallwaffe soll sich von dort aus
abschießen lassen. Die Waffensysteme sollen also verhältnismäßig schnell
von einem zu einem anderen beliebigen Ort gebracht werden können.
## 4. Wie viel kosten solche Waffen eigentlich?
Ein Schnäppchen sind sie nicht: Eine SM-6-Rakete kostet umgerechnet
zwischen 3,2 und 4 Millionen Euro, ein Tomahawk-Marschflugkörper je nach
Version zwischen 550.000 und 1,8 Millionen Euro. Die Kosten für eine
Dark-Eagle-Rakete werden auf 41 Millionen Euro geschätzt. Hinzukommen noch
die Typhon-Raketenwerfer, für deren Beschaffung die US-Army im kommenden
Jahr Kosten von insgesamt etwa 215 Millionen Dollar angemeldet hat.
## 5. Wie viel kostet die Stationierung?
Für die Waffensysteme müssten eigentlich die USA aufkommen, die ja auch
nach der Verlagerung nach Deutschland vollständig die Verfügungsgewalt über
sie behalten. Ein US-Präsident Donald Trump könnte allerdings auch eine
andere Rechnung aufmachen. Außerdem lässt sich aktuell nicht sagen, wie
sich mögliche Kosten für die eventuell notwendige Bereitstellung von
Infrastruktur auf den Bundeshaushalt auswirken können. Hier gab sich das
Bundesverteidigungsministerium gegenüber der taz sehr zugeknöpft.
## 6. Hat der Bundestag bei der Stationierung solcher Waffen in Deutschland
nicht ein Wörtchen mitzureden?
Wahrscheinlich nicht. [4][In einer früheren Entscheidung] anlässlich der
Stationierung von Pershing-2-Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern in
der Bundesrepublik hat das Bundesverfassungsgericht das jedenfalls 1984
verneint (Az. 2 BvE 13/83). Damals hatte die grüne Bundestagsfraktion
vergeblich dagegen geklagt, dass die damalige Bundesregierung der
Raketenaufstellung im Rahmen des Nato-Doppelbeschlusses ohne spezielle
gesetzliche Ermächtigung zugestimmt hatte. Bei einer Gegenstimme befanden
die Karlsruher Richter, dass die Rechte des Bundestages weder unmittelbar
gefährdet noch verletzt worden seien.
## 7. Was ist eigentlich damals aus den Pershing II und Cruise Missiles
geworden?
Nachdem die USA und die Sowjetunion am 8. Dezember 1987 das
[5][Intermediate Range Nuclear Forces-Abkommen, kurz INF-Vertrag], zum
Verzicht auf atomare Mittelstreckenraketen unterzeichnet hatten, wurden bis
Mitte 1991 alle ab 1983 in der BRD stationierten Pershing-II-Raketen und
Tomahawk-Marschflugkörper vereinbarungsgemäß demontiert und zerstört.
## 8. Warum gilt der INF-Vertrag nicht mehr?
Mit dem INF-Vertrag vereinbarten die USA und die Sowjetunion die
Abschaffung aller ihrer landgestützten ballistischen Raketen und
Marschflugkörper mit kürzerer sowie mittlerer Reichweite, also von 500 bis
5.500 Kilometern. Und sie verpflichteten sich, keine neuen herzustellen.
Dadurch wurde die Welt ein ein ganzes Stück sicherer. Doch im Februar 2019
[6][kündigte die US-Administration den INF-Vertrag], weil sie Russland
vorwarf, ihn durch die Stationierung von atomar bestückbaren
Kurzstreckenraketen in Kaliningrad systematisch unterlaufen zu haben.
Direkt im Anschluss [7][kündigte Russland seinerseits das Abkommen] und
warf der USA ebenfalls Vertragsbruch vor. [8][Offiziell endete am 2. August
2019] dieser historische Abrüstungsvertrag. Seit diesem Tag dürfen die
beiden Länder nun wieder ohne Beschränkungen landgestützte und atomar
bestückbare Mittelstreckenwaffen bauen. Was sie auch tun.
## 9. Gegen den Nato-Doppelbeschluss wurde heftig protestiert, warum gibt
es heute keinen solchen Aufschrei?
Dass eine derart große Friedensbewegung wie Anfang der 1980er Jahre derzeit
nicht in Sicht ist, hat einen zentralen Grund: den Überfall Russlands auf
die Ukraine, der den Traum von einer friedlicheren Welt für viele Menschen
in weite Ferne gerückt hat. Die Gefahr eines russischen Angriffs auf
Nato-Territorium, gar auf Deutschland erscheint ihnen hingegen realer als
vor vier Jahrzehnten.
## 10. Und deswegen gibt es keine Friedensbewegung mehr?
Nun ja, es gibt sie schon noch. Aber ihre Reste haben ein
Glaubwürdigkeitsproblem. Denn neben einer Reihe von sehr integeren Menschen
gibt es in der noch bestehenden Friedensbewegung auch einen nicht
unrelevanten Teil mit einer – vorsichtig formuliert – unklaren Haltung
gegenüber Putins Russland.
Obwohl es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein müsste, fordern diese
weder den Rückzug Russlands aus der Ukraine noch den Abzug der in der
[9][Ostsee-Exklave Kaliningrad] stationierten und nuklear bestückbaren
Iskandar-Kurzstreckenraketen, die mit einer Reichweite von bis zu 500
Kilometern Warschau, Berlin oder Kopenhagen erreichen können.
## 11. Dann ist also Protest gegen die Raketenstationierung diesmal nicht
gerechtfertigt?
Das wäre eine falsche Schlussfolgerung. Die Friedensbewegung Anfang der
1980er Jahre richtete sich – zumindest in ihrer Mehrheit – sowohl gegen die
US-amerikanischen Pershing-II- als auch gegen die sowjetischen SS
20-Mittelstreckenraketen. Denn beide machten die Welt nicht sicherer.
Und das gilt auch heute noch: Angriffstaugliche Systeme mit der Reichweite,
der Geschwindigkeit und der Durchschlagskraft von Mittelstreckenwaffen
welcher Herkunft auch immer erhöhen die Gefahr eines neuen, diesmal
möglicherweise finalen Weltkriegs, selbst wenn sie (noch) nicht atomar
bestückt sind. Aufgrund unglaublich geringer Vorwarnzeiten ist das Risiko
einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation immens hoch. Deswegen
bringt ein bloß militärisches Denken keine Sicherheit.
So unrealistisch sie auch zur Zeit erscheinen mag, bleibt die Forderung der
alten Friedensbewegung nach einer weitreichenden Abrüstung in Ost und West
daher nach wie vor aktuell.
28 Jul 2024
## LINKS
[1] https://www.bundesregierung.de/resource/blob/992814/2298418/b4eca6d3ccfdfd9…
[2] https://www.defense.gov/News/Releases/Release/Article/3821376/dod-completes…
[3] https://crsreports.congress.gov/product/pdf/IF/IF11991
[4] https://openjur.de/u/180545.html
[5] /Ruestungskontrollvertrag-INF/!5541132
[6] /USA-kuendigen-INF-Vertrag-auf/!5567197
[7] /Russland-kuendigt-INF-Vertrag/!5567342
[8] /Diskussion-auf-der-Sicherheitskonferenz/!5573711
[9] /Spannungen-mit-Nato-Laendern/!5346798
## AUTOREN
Pascal Beucker
Cem-Odos Güler
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