# taz.de -- Ampelkoalition in der Krise: Das Szenario Vertrauensfrage | |
> In der SPD steigt nach dem schlechten Abschneiden bei der EU-Wahl die | |
> Unzufriedenheit. Der Haushalt könnte zur Vertrauensfrage für den Kanzler | |
> werden. | |
Bild: Wie sozial ist die SPD noch? Die Parteilinke will sich gegen weitere Kür… | |
In der SPD-Fraktion werden Mitarbeiter:innen dieser Tage scherzhaft | |
ermahnt, beim Buchen des Sommerurlaubs bitte unbedingt eine | |
Reiserücktrittsversicherung abzuschließen. Für den Fall, dass im Sommer der | |
Wahlkampf beginnen sollte. Hinter dem Späßchen steckt allerdings bitterer | |
Ernst. | |
Die Wähler:innen haben Rot-Grün-Gelb [1][bei der EU-Wahl] abgestraft, | |
zusammen kamen SPD, Grüne und FDP auf lediglich knapp über 30 Prozent. Die | |
Fliehkräfte zwischen den drei ungleichen Partnern werden größer, der | |
Wunsch, das eigene Profil zu schärfen, dringlicher. Doch schafft es die | |
Ampel unter diesen Umständen, sich noch vor der Sommerpause auf einen | |
[2][Haushalt für 2025] zu einigen? Ein Haushalt ist der kleinste gemeinsame | |
Nenner einer Koalition. Wofür soll das Geld der Steuerzahler:innen im | |
nächsten Jahr ausgegeben werden? Schafft es die Ampelregierung nicht, wäre | |
sie wohl am Ende. So schätzen es inzwischen auch führende | |
SPD-Politiker:innen ein. | |
Die Haushaltsfrage wird so zur Vertrauensfrage. Was die Union vom Kanzler | |
schon am Abend nach der EU-Wahl verlangte, könnte in drei Wochen eintreten: | |
Falls die Haushaltsgespräche platzen, könnte Olaf Scholz im Bundestag um | |
das Vertrauen der Abgeordneten bitten. Sollte ihm eine Mehrheit dieses | |
entziehen, könnte Scholz den Bundespräsidenten bitten, den Bundestag | |
aufzulösen. Der hätte drei Wochen Bedenkzeit – und dann müssten binnen 60 | |
Tagen Neuwahlen erfolgen. Im Oktober würden die Menschen den Bundestag neu | |
wählen. | |
Könnte, würde, sollte – ob es dazu kommt, ist längst nicht ausgemacht. Doch | |
die Möglichkeit wird realer. Und in der SPD wächst mit der Verzweiflung | |
über das historisch schlechte Ergebnis der trotzige Wunsch, es darauf | |
ankommen zu lassen. Besonders die Parteilinke erhöht den Druck auf den | |
Kanzler, dem FDP-Finanzminister zu zeigen, wo der Hammer hängt. „Wir werden | |
keinem Haushalt zustimmen, in dem mit milliardenschweren Kürzungen der | |
soziale Zusammenhalt in unserer Gesellschaft massiv aufs Spiel gesetzt | |
wird“, so [3][Tim Klüssendorf, ein Sprecher der Parlamentarischen Linken]. | |
Zwar halte man am Koalitionsvertrag fest und werde bis zum letzten Tag | |
dieser Koalition kämpfen – „jedoch nicht um jeden Preis“. | |
Der finanzpolitische Sprecher Michael Schrodi sieht die Koalition auf eine | |
harte Probe gestellt. Die SPD-Fraktion werde keinen Sparhaushalt | |
akzeptieren. „Es geht nicht allein um den Sozialstaat, sondern um den | |
Wirtschafts- und Industriestandort Deutschland.“ Länder wie die USA, China | |
oder Indien investierten Milliarden in neue Technologien, da dürfe | |
Deutschland nicht einfach zuschauen. Deshalb müsse Lindner seine | |
Ankündigung, ein [4][Ermöglichungsminister] zu sein, wahr machen – und mit | |
zusätzlichen Investitionen Wirtschaftswachstum ermöglichen. | |
Die SPD pocht wie auch die Grünen auf eine Lockerung der grundgesetzlichen | |
Schuldenbremse. Lindner hält dagegen, beharrt auf der [5][Schuldenbremse], | |
lehnt Steuererhöhungen ab und fordert die SPD ihrerseits zu Einsparungen | |
auf – etwa zur Abschaffung der abschlagsfreien Rente nach 45 | |
Beitragsjahren. Es ist wie beim Poker: Man erhöht den Einsatz in jeder | |
Runde und spekuliert darauf, dass einer die Nerven verliert. | |
Dahinter stecken auch parteitaktische Kalküle. Mit dem Image als | |
disziplinierte Finanzexperten und Korrektiv zu rot-grüner | |
Verschwendungssucht hat sich die FDP bei der Europawahl bei 5 Prozent | |
stabilisiert, so die liberale Erzählung. Also weiter so. | |
In der SPD wächst umgekehrt der Wunsch nach mehr genuin | |
sozialdemokratischer Politik. „Wir waren zu brav“, heißt es aus der | |
Fraktion. Lange Zeit gerierten sich die Sozialdemokraten als die | |
Erwachsenen in der zänkischen Dreiergruppe und hielten sich im Hintergrund. | |
Genutzt hat es nicht – im Falle von Neuwahlen verlöre die Hälfte der | |
derzeit 207 SPD-Abgeordneten ihr Mandat. Eine Aussicht, die die Nervosität | |
zusätzlich befördert. | |
Der Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises in der SPD, Dirk Wiese, | |
rät: „Es ist sicher nicht hilfreich, der FDP jeden Tag öffentlich zu sagen, | |
sie hätten es nicht verstanden.“ Stattdessen sollten jetzt Gespräche | |
geführt und Lösungen gesucht werden. Wiese ist zuversichtlich, dass es der | |
Regierung so gelingt, vor der Sommerpause einen Haushaltsentwurf | |
vorzulegen. | |
Eine SPD-interne Arbeitsgruppe sucht nun Wege aus der Schuldenbremse und | |
will der FDP gleichzeitig Brücken bauen: Man sehe mehrere Möglichkeiten, | |
einen verfassungskonformen Haushalt aufzustellen, meint Wiebke Esdar, | |
Mitglied der Arbeitsgruppe sowie im Haushaltsausschuss. „Etwa für die | |
Ukrainehilfen eine Ausnahme von der Schuldenbremse zu machen. Damit ließen | |
sich zusätzliche Mittel im zweistelligen Milliardenbereich heben.“ Bei der | |
Wahl der Instrumente sei man nicht ideologisch. „Wir gehen offen in die | |
Diskussion“, sagte Esdar. | |
Bislang hat Christian Lindner jedoch alle Vorschläge abgelehnt. Selbst den | |
Vorstoß des Bundesverbands der Deutschen Industrie – beileibe kein | |
rot-grüner Thinktank – nach einem milliardenschweren Sondertopf zur | |
Erneuerung der maroden Infrastruktur wies er zurück. Am Donnerstag wurde | |
bekannt, dass der Finanzminister einen Nachtragshaushalt für dieses Jahr | |
plant, um ungeplante Mehrausgaben zu finanzieren. Dazu würden Spielräume in | |
der Schuldenbremse genutzt. Ein erstes Zeichen des Einlenkens? Der | |
finanzpolitische Sprecher Michael Schrodi findet: „Diesen pragmatischen | |
Kurs sollte Lindner für die Haushaltsverhandlungen beibehalten.“ | |
Derzeit laufen Gespräche zwischen Scholz, Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) | |
und Lindner. Scholz, der aktuell in Italien am G7-Gipfel und anschließend | |
in der Schweiz an der Ukraine-Friedenskonferenz teilnimmt, will wohl sogar | |
früher als geplant nach Berlin zurückkehren. Was nachvollziehbar wäre: Für | |
ihn geht es schließlich um alles. | |
13 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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