# taz.de -- SPD nach der Europawahl: Should I stay or should I go | |
> Nach der Europawahl hadert die SPD mit sich selbst und der Ampel. Kühnert | |
> will kämpfen, Juso-Chef will mehr Sichtbarkeit. Und Scholz? | |
Bild: Für Olaf Scholz heißt es nach der Wahl: Augen zu und weiterregieren bis… | |
Berlin taz | Feige ist Olaf Scholz jedenfalls nicht. Am Abend, an dem die | |
SPD mit ihm als Frontrunner bei der Europawahl krachend gescheitert ist, | |
spaziert er durch die schon merklich gelichtete Menge der GenossInnen in | |
der Parteizentrale. Von Wahlparty kann keine Rede sein, es ist eher ein | |
therapeutisches Beisammenstehen. Scholz wird fast scheu umringt, ein | |
bisschen Händeschütteln, ein paar Selfies, kein Kommentar zum Ergebnis. | |
Die SPD hat am Sonntag mit 13,9 Prozent ihr historisch schlechtes Ergebnis | |
von 2019 unterboten und landete noch hinter der AfD. Und das, obwohl | |
Generalsekretär Kevin Kühnert alles in diese Kampagne gelegt hatte. Früh | |
hatte er sich mit den beiden Parteivorsitzenden darauf verständigt, neben | |
Spitzenkandidatin Katarina Barley den Kanzler zu plakatieren. Kaum eine | |
Verkehrsinsel, von der beide in den letzten Wochen nicht zweidimensional | |
für Frieden und Besonnenheit warben. | |
[1][Funktioniert hat es nicht]. Mag sein, dass der Friedenskanzler und der | |
Kanzler, der Anfang Juni der Ukraine erlaubt hatte, westliche Waffen auch | |
gegen Ziele in Russland einzusetzen, für viele nicht zusammenpassen. Aber | |
auch der Kanzler, der einen Mindestlohn von 15 Euro forderte, der im | |
Bundestag Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan angekündigt hatte, | |
vermochte nicht die Stimmung zu drehen. Und das, obwohl die Themen Frieden, | |
Soziales, Migration genau jene waren, die laut Umfragen für viele | |
Wähler:innen wahlentscheidend waren. | |
Doch statt wie geplant dazuzugewinnen, verlor die SPD mehr als 5 Millionen | |
Wähler:innen, die bei der Bundestagswahl 2021 noch sozialdemokratisch | |
gestimmt hatten – die Hälfte davon an das Lager der Nichtwähler:innen. | |
## Was heißt das für die Ampel? | |
In der Parteizentrale herrscht am Tag danach vor allem Ratlosigkeit. Warum | |
klappte es nicht mit der Mobilisierung der politischen Mitte, obwohl | |
Kandidaten wie Matthias Ecke für die Demokratie doch buchstäblich den Kopf | |
hingehalten hatten? Ecke wurde beim Aufhängen von Plakaten von rechten | |
Jugendlichen verprügelt. Weshalb büßte die SPD ausgerechnet beim | |
Brot-und-Butter-Thema soziale Sicherheit dramatisch an Vertrauen ein? Und | |
was heißt das für die künftige Zusammenarbeit in der Ampelkoalition? Was | |
für den Kanzler? | |
Als Generalsekretär Kevin Kühnert am Montag vor die Presse tritt, | |
entschuldigt er sich, dass er noch keine fertigen Antworten habe. | |
Verständlich, außerdem sieht Kühnert selbst ziemlich fertig aus. [2][Dieser | |
Wahlkampf, der sein Gesellenstück werden sollte], ging daneben. Nur ein | |
paar Fragmente präsentiert er, neben sehr viel Selbstkasteiung. | |
Es gebe offenbar Teile der Gesellschaft, „an die wir den Anschluss verloren | |
haben“. Menschen mit kleinen Einkommen, Menschen im ländlichen Raum und in | |
den ostdeutschen Bundesländern. Bei den gleichzeitig stattfindenden | |
Kommunalwahlen wurde die SPD im Osten marginalisiert und selbst in der | |
Hochburg Brandenburg von der AfD überflügelt. Kein gutes Omen für die | |
Landtagswahl im Herbst. | |
Die Nichtwähler:innen zurückzugewinnen, das sieht Kühnert als die große | |
Aufgabe der kommenden Monate an. Und hat schon eine Idee: „Die Leute wollen | |
uns kämpfen sehen.“ Einen Sparhaushalt auf Kosten des sozialen | |
Zusammenhalts werde es mit der SPD nicht geben. Das kann man als | |
Kampfansage an die FDP und an Finanzminister Christian Lindner verstehen, | |
der die Schuldenbremse wie einen Heiligen Gral verteidigt. | |
## „Koalitionen sind kein Selbstzweck“ | |
Bedeutet das, dass die SPD bereit ist, die Ampel platzen zu lassen, sollte | |
Lindner auf harten Einsparungen im Sozialen bestehen? Kühnert nennt das | |
eine hypothetische Frage. | |
Andere werden konkreter. „Koalitionen sind grundsätzlich kein Selbstzweck. | |
Wir müssen als SPD sichtbarer werden und der FDP weniger durchgehen | |
lassen“, so Juso-Chef Philipp Türmer zur taz. 30 bis 50 Milliarden im | |
Haushalt einzusparen, sei ein Ding der Unmöglichkeit. „Wir brauchen | |
[3][Ausnahmen von der Schuldenbremse] für Naturkatastrophen und die Hilfen | |
für die Ukraine“, meint SPD-Urgestein Axel Schäfer zur taz. „Wenn die FDP | |
da nicht mitmacht, muss man die Gretchenfrage stellen: wer soll überleben: | |
Die Ukraine oder die Schuldenbremse?“ Oder die Ampel. | |
Türmer und Schäfer kommen vom linken Flügel, sie repräsentieren nicht die | |
Breite der Partei. Doch der Frust über den kleinsten Koalitionspartner ist | |
groß in der SPD, das ist am Wahlabend spürbar. Und Finanzminister | |
Christian Lindner ließ die SPD am Montag erneut abblitzen. Steuererhöhungen | |
oder eine Aufweichung der Schuldenbremse seien mit seiner Partei nicht zu | |
machen, sagte der FDP-Chef in Berlin. „Ich erwarte vom Kanzler, dass er den | |
Koalitionsvertrag durchsetzt, der ihn stützt.“ So lange sich alle zu dieser | |
Arbeitsgrundlage bekennen würden, gebe es keinen Grund an dem gegenseitigen | |
Vertrauen zu zweifeln. | |
## „Wie hältst Du's mit Olaf“ | |
Der Frust über den Kanzler hält sich in der SPD noch in Grenzen. Die Frage | |
„Wie hältst du’s mit Olaf?“ stellt kaum jemand öffentlich. Die Zeiten, … | |
die SPD nach Wahlniederlagen ihr Spitzenpersonal feuerte, scheinen vorbei. | |
Kühnert beeilt sich kurz nach Verkündung der ersten Prognose, Diskussionen | |
zu zerstreuen. Es sei zu einfach, das Ergebnis für das schlechte | |
Abschneiden „einer einzelnen Person in die Schuhe zu schieben“. Man gewinne | |
zusammen und man verliere zusammen. | |
Die Union hält die Frage genau für die richtige. Die Ampel müsse den Kurs | |
wechseln oder Scholz die Vertrauensfrage stellen, forderte | |
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann 15 Minuten nach Schließung der | |
Wahllokale. Falls die Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag dem Kanzler | |
das Vertrauen entzieht, wird neu gewählt. Zum jetzigen Zeitpunkt könnte die | |
Union stärkste Partei werden. Kühnert kontert: Er sehe keinen Auftrag für | |
Neuwahlen, die Regierung sei handlungsfähig. | |
Die SPD braucht jetzt vor allem eins: Zeit. „Beim letzten Mal lief es zur | |
Europawahl auch nicht gut und trotzdem haben wir die Bundestagswahl | |
gewonnen“, so ein Genosse in der Parteizentrale. Der einzige Trost ist | |
momentan der Blick zurück. | |
10 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
Cem-Odos Güler | |
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