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# taz.de -- Schuldenbremse und Ukraine-Krieg: Schulden gegen Krieg
> Auch dank hoher Staatsschulden haben Großbritannien und die USA die Nazis
> besiegt. Heute steht die Schuldenbremse dem Kampf gegen die Diktatur im
> Weg.
Robert Habeck klingt „ein bisschen nach Churchill“, schreibt der Spiegel.
Zu Ostern 2024 hat der Grüne ein Video aufgenommen, in dem er den
russischen Angriff auf die Ukraine als Bedrohung der westlichen Freiheit
und der europäischen Demokratie einordnet. „Wir sind weit vom Frieden
entfernt“, erklärt der Vizekanzler, ein Ende des Kriegs sei nicht in Sicht.
Der russische Machthaber Wladimir Putin „will die Welt in Unordnung
stürzen. Deshalb sind wir gut beraten, mehr in unser eigene Sicherheit zu
investieren.“
Der britische Premierminister Winston Churchill war die eine westliche
Führungspersönlichkeit, der es maßgeblich zu verdanken ist, dass Adolf
Hitler, der Nationalsozialismus und die deutsche Wehrmacht den Zweiten
Weltkrieg verloren haben. Der zweite demokratische Politiker, der mit
Churchill verbündet alles in die Waagschale warf, war Franklin D.
Roosevelt, der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Dieser
historische Bezug, den der Spiegel-Autor herstellt, ist nicht übertrieben.
Habeck legt ihn in seinem Video selbst nahe, wenn er sagt: „Putins Krieg
gegen die Ukraine ist der blutigste, den Europa seit 1945 erlebt hat.“
Einen derartigen gedanklichen Bogen über 80 Jahre zu konstruieren, kann man
für überdramatisiert halten. Schließlich tobt jetzt kein Weltkrieg. Und
doch spricht einiges dafür, dass wir uns in einer globalen, teilweise
militärisch geführten Auseinandersetzung zwischen freiheitlichen
Demokratien und autoritären Regimen befinden. Russland ist die eine Macht,
die ihren neoimperialen Herrschaftsanspruch nicht nur den Nachbarländern
aufzuzwingen versucht, sondern auch Konflikte in Afrika schürt.
Durch ähnliche Interessen teilweise mit Moskau verbunden, bedroht die
Regierung Chinas den demokratischen Staat Taiwan und strebt gleichzeitig
nach weltweiter ökonomischer Vorherrschaft. Zudem erleben manche westlichen
Demokratien einen Moment innerer Schwäche: Nicht nur in Frankreich, den USA
und Deutschland fordert die extreme Rechte die freiheitliche Lebensweise
heraus, teils mit Unterstützung der russischen Regierung.
Diese veränderte Weltlage ist bislang zu wenig im Bewusstsein der deutschen
Öffentlichkeit und den Diskussionen der hiesigen Politik angekommen.
Besonders in der Finanzpolitik spiegelt sie sich nicht. Wenn Anfang Juli
das Bundeskabinett den Entwurf für den Bundeshaushalt 2025 beschließen
sollte, steht dieser unter dem Diktat der Schuldenbremse. Die Regel im
Grundgesetz schreibt vor, dass der Bund sich grundsätzlich nur mit 0,35
Prozent der Wirtschaftsleistung pro Jahr neu verschulden darf. Die damit
verfügbaren Summen sind jedoch zu gering, um auf die globalen
Herausforderungen angemessen zu reagieren.
## Pistorius will Geld, Lindner will es nicht geben
Während also der grüne Vizekanzler sagt: „Wir müssen uns schützen, auch v…
militärischen Angriffen“, und fordert, Deutschland solle „schutzfähig“
werden, fehlt dem sozialdemokratischen Verteidigungsminister Boris
Pistorius Geld. Ob er die 58 Milliarden Euro, die er für kommendes Jahr als
Ausgaben im normalen Haushalt angemeldet hat, von [1][FDP-Finanzminister
Christian Lindner (FDP)] bekommt, ist fraglich. Dieser scheint bisher davon
auszugehen, dass 52 Milliarden Euro für die Bundeswehr reichen – und
verweist auf das zusätzliche 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen, wobei
dieses schon bald aufgezehrt sein dürfte. Wenn aber, wie Bundeskanzler Olaf
Scholz (SPD) versprochen hat, Deutschland weiterhin das [2][2-Prozent-Ziel
der Nato] einhalten will, sind auf Dauer Militärausgaben im Haushalt von
rund 80 Milliarden Euro jährlich nötig, nicht gut 52 Milliarden wie im
Augenblick.
[3][Deshalb rebelliert Pistorius gegen die Schuldenbremse]. „Das
Grundgesetz will sich selbst verteidigen“, lautet der zentrale Satz des
Kurzgutachtens seines Ministeriums von Mitte Mai. Soll heißen: Die
Grundrechte der Bürger:innen als Kern der freiheitlichen Ordnung sind
nur dann geschützt, wenn sich der Staat im Notfall nach außen verteidigen
kann. Deshalb fordert der Verteidigungsminister eine „Ausnahme von Ausgaben
für Verteidigung von den Schuldenregeln“. Diese sei nötig, weil die
„Möglichkeit von Krieg“ in den Grundgesetzartikeln zur Kreditobergrenze
bisher nicht mitgedacht worden sei.
Die Regierungschefs des Vereinigten Königreichs und der USA mussten sich in
den 1940er Jahren nicht mit Schuldenbremsen herumschlagen. Winston
Churchill und Franklin D. Roosevelt erhöhten die Kreditaufnahme massiv, um
gegen Nazideutschland und Japan das Notwendige zu tun. Nach dem Angriff der
Japaner auf den US-Marinestützpunkt Pearl Habour im Pazifik 1941 stieg die
US-Staatsverschuldung beispielsweise von 58 Milliarden Dollar auf 260
Milliarden Dollar im Jahr 1945. Die Schuldenquote im Verhältnis zur
Wirtschaftsleistung sprang von 50 Prozent auf 115 Prozent. Mit ausreichend
Geld konnten die Alliierten ihre Verteidigung, Aufrüstung, die Invasion in
der Normandie und schließlich den Sieg über die Diktaturen finanzieren.
Freilich war die Lage damals insofern anders, als Großbritannien und die
USA bereits selbst angegriffen worden waren. Das ist Deutschland, Europa
und der Nato glücklicherweise bisher erspart geblieben. Bei einem direkten
Angriff würde die Schuldenbremse wohl auch keine Rolle mehr spielen.
Trotzdem ist der Hinweis auf die hohen, kreditfinanzierten
Verteidigungsausgaben während des Zweiten Weltkriegs produktiv. Sie setzten
ein, als es zu spät war, als es nicht mehr anders ging.
Heute geht es jedoch darum, einer solchen Eskalation durch höhere Ausgaben
vorzubeugen. Die finanzielle Unterstützung der Ukraine und die
Investitionen in die bessere Ausstattung der Bundeswehr sollen dazu dienen,
den russischen Angriff auf das Nachbarland abzuwehren und die russische
Regierung davon abzuhalten, noch einmal einen ähnlichen Versuch an anderer
Stelle zu unternehmen. In den Worten des Pistorius-Gutachtens klingt das
so: „Das sicherheitspolitisch Notwendige auf die Zukunft gerichtet
antizipatorisch zu veranlassen.“ Oder einfach gesagt, die deutsche Armee
jetzt zu einer schlagfähigen Truppe zu machen. Das jedoch verhindert heute
die Schuldenbremse. Sie verhindert die Verhinderung weiterer Kriege,
eigentlich ist sie eine Sicherheitsbremse.
## Es dauert Jahre, bis Schulen saniert werden
Nicht nur dabei steht die Kreditobergrenze in ihrer gegenwärtigen Form im
Wege. Sie untergräbt auch eine vernünftige Industrie-, Infrastruktur- und
Klimapolitik. So verabschieden sich hierzulande gerade zum zweiten Mal die
Produzenten von Solarmodulen. Sie sind der chinesischen Billigkonkurrenz,
die die meisten Anlagen fertigt, nicht gewachsen. Auch wegen der
Schuldenbremse stellt die Bundesregierung keine ausreichende Förderung
bereit, um das zu verhindern. Eine strategische Zukunftsbranche wird
zunehmend abhängig von dem autoritären Regime in Peking.
Der öffentlichen Infrastruktur fehlen ebenfalls Milliarden Euro. Die
Deutsche Bahn AG fährt oft unpünktlich und langsam. Verkehr wird
umgeleitet, weil Autobahnbrücken marode sind. [4][Es dauert Jahre, bis
Schulen saniert oder gebaut werden], denn auch die Länder leiden unter der
Bremse. Diese Missstände tragen nicht selten dazu bei, dass Bürger:innen
sich von der etablierten Politik ab- und den Rechtsextremen zuwenden. Wegen
der Sparregel im Grundgesetz kommt auch die Reduzierung klimaschädlicher
Treibhausgase nicht so schnell voran, wie sie sollte. Beispielsweise für
die sozialverträgliche Energiesanierung von Wohngebäuden fehlen öffentliche
Zuschüsse.
Dabei raten zahlreiche Wirtschaftsforscher:innen der deutschen Politik
dazu, Geld für öffentliche Investitionen in gewissem Umfang von der
Schuldenbremse auszunehmen. Der Internationale Währungsfonds vertritt
diese Position ebenso wie der Sachverständigenrat, die sogenannten
Wirtschaftsweisen. Das unternehmensnahe Institut der deutschen Wirtschaft
in Köln hat ein entsprechendes Gutachten zusammen mit dem
gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie veröffentlicht. Und selbst
der Bundesverband der Deutschen Industrie kann sich unter bestimmten
Bedingungen schuldenfinanzierte Investitionen vorstellen.
Eine zusätzliche Begründung dafür lautet, dass der Zustand der öffentlichen
Finanzen Deutschlands ziemlich gut ist – trotz Belastungen wie der
Coronapandemie und der gegenwärtigen ökonomischen Stagnation. Die
Schuldenquote beträgt 64 Prozent im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt –
der bei Weitem niedrigste Wert der sieben großen westlichen
Wirtschaftsnationen. Deutschland hätte damit einen gewissen Spielraum für
eine höhere Kreditaufnahme, ohne seine finanzpolitische Solidität und die
Rolle als Stabilitätsanker des Euroraums aufzugeben.
Weder jedoch kann sich gegenwärtig die rot-grün-gelbe Bundesregierung
darauf einigen, [5][die Schuldenbremse zu lockern – die FDP lehnt das ab]
–, noch existiert eine verfassungsändernde Mehrheit dafür im Bundestag.
Nach der nächsten Bundestagswahl könnte sich das ändern, wenn eine
entsprechende Stimmung in der Union weiter um sich greift. Nützen würde das
immer noch, auch weil der Krieg Russlands gegen die Ukraine dann wohl nicht
zu Ende ist.
23 Jun 2024
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## AUTOREN
Hannes Koch
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