# taz.de -- Wandel der Arbeitswelt: Schaffe, schaffe, Päusle mache | |
> Der Arbeitsethos der Deutschen ist berühmt-berüchtigt. Doch nun wollen | |
> immer mehr Menschen flexibler und weniger arbeiten. Was ist da | |
> verrutscht? | |
Mein Lieblingscartoon aus einem schwäbischen Witzebilderbuch geht so: Eine | |
Trauergesellschaft steht zusammen. Nach dem Gebet schnappt sich eine der | |
Verwandten die Urne und verkündet: „Der hat sei’ Lebtag nix gschafft, der | |
kommt in die Eieruhr!“ | |
Treffender kann man den protestantischen Arbeitswahn, der im Ländle | |
gepflegt wird, kaum beschreiben: Wer sein Pensum zu Lebzeiten nicht mit dem | |
gebotenen Fleiß abgeleistet hat, muss dann eben im Jenseits noch mal ran. | |
Von nix kommt nix. Und Arbeit hat noch niemandem geschadet. Oder? | |
Nun ja, es gibt schlechte Nachrichten für die fleißigen Schwaben. Die | |
Arbeitswelt ist in der Krise und [1][mit ihr das deutsche Arbeitsethos]. | |
„Schaffe, schaffe, Häusle baue“, das war einmal. Jetzt diskutiert das Land | |
[2][über eine Vier-Tage-Woche] und die richtige Work-Life-Balance. | |
„Deutsche lieben ihre Arbeit nicht mehr“, resümierte n-tv, nachdem bei der | |
jährlichen „Berufe-Studie“ eines großen Versicherers kürzlich herauskam, | |
dass nur noch 47 Prozent der Befragten ihr Beruf viel bedeutet. | |
81 Prozent der Vollzeitbeschäftigten würden sich laut einer aktuellen | |
Studie der Hans-Böckler-Stiftung für eine Vier-Tage-Woche entscheiden, wenn | |
sie die Möglichkeit dazu hätten. Und laut einer ZDF-Umfrage aus dem Mai | |
2023 würde von den 18- bis 35-Jährigen jeder Fünfte gern seinen Job | |
kündigen – zu schlechte Bezahlung, mangelnde Wertschätzung, zu viel Stress. | |
Das alte Arbeitsmodell – jeden Tag in die Firma, 35 Jahre lang, bis zur | |
Rente – hat für sie ohnehin ausgedient. | |
Aber wollen hierzulande tatsächlich immer weniger Menschen viel arbeiten? | |
Und was wird dann aus dem viel gepriesenen Wirtschaftsstandort Deutschland? | |
Auf die Frage angesprochen, ob denn niemand mehr richtig arbeiten will, | |
sprengt Sophie Jänicke, Vorstandsmitglied der IG Metall, mit ihrer Gestik | |
fast den Bildschirm unseres Videotelefonats. | |
Die dunkelhaarige Gewerkschafterin, die sonst sehr sachlich spricht, ruft: | |
„Ich finde die Debatte verkürzt und respektlos“. Man solle es doch mal so | |
betrachten: „Vielleicht haben die Jungen von ihren Boomer-Eltern gelernt. | |
Das war schließlich die Burnout-Generation. Und deren Kinder sagen jetzt: | |
Wir wollen nicht, dass die Arbeit uns krank und kaputt macht. Wir wollen | |
mehr vom Leben.“ Und das heiße ja nicht nur „fun“, sondern auch: „Zeit… | |
Hobbys, für politisches Engagement oder eine gesellschaftlich sinnvolle | |
Tätigkeit, etwa im Klimaschutz oder im Sportverein.“ | |
Die Generation Burnout kenne ich gut, mein Onkel war ein Musterbeispiel. Er | |
stammte aus einer ostpreußischen Arbeiterfamilie, beendete mit 16 die | |
Handelsschule und begann eine Lehre in einem globalen Versicherungskonzern. | |
Ackerte sich hoch bis zum Prokuristen und Abteilungsleiter. Lernte Business | |
English, und nach Feierabend ging es öfter noch in die Bar zur | |
Kontaktpflege. | |
## „35 Jahre lang / Haken für den Duschvorhang“ | |
„Warte, bis der Papa nach Hause kommt“, hieß es daheim für meinen Cousin, | |
im Guten wie im Schlechten. Aber war Papa mal da, war er müde und wollte | |
seine Ruhe. Seine chronische Erschöpfung hätte er sich niemals | |
eingestanden, das war in seinen Augen was für Weicheier. Lieber trank er | |
noch einen Grappa, um schlafen zu können. Zur Belohnung kam jedes Jahr | |
pünktlich zu Weihnachten ein edles, mit sagenhaft hochpreisigen Leckereien | |
bestücktes Fresspaket mit Gruß des Vorstands an die besonders verdienten | |
Angestellten. Bis zur Rente ging das so. Danach blieb nicht mehr viel, mit | |
73 Jahren starb mein Onkel. | |
„35 Jahre lang / Haken für den Duschvorhang“, sang mein Cousin mal ironisch | |
[3][zur Platte der Toten Hosen], als wir uns bei einem der Weihnachtsfeste | |
aus dem Versicherungspaket bedienten. „Den Abschiedsbrief hat er sich | |
eingerahmt / er macht die selbe Frühstückspause wie in all den Jahrn“. Die | |
Anspielung bekam mein Onkel nicht mit, er war wahrscheinlich auf dem Sofa | |
weggenickt. | |
Ackern, damit man was wird und die Kinder es einmal besser haben. Schon | |
lange ist dieses von Figuren wie Gerhard Schröder oder eben meinem Onkel | |
verkörperte Versprechen des Bildungsaufstiegs löchrig. Wer heute reich ist, | |
ist es meist seit Geburt oder wird es durch Erbe oder geschickte | |
Spekulation und immer seltener durch Fleiß und Ehrgeiz. | |
Die logische Schlussfolgerung ist der bewusste Rückzug aus einer | |
Arbeitswelt, die gerade für Jüngere oft mehr Prekarität und Stress | |
bereithält als persönlichen Gewinn. „Arbeit nervt“, findet nicht nur die | |
Band Deichkind. | |
Die Berliner Autorin und selbst ernannte Slackerin Nadia Shehadeh | |
formuliert es in ihrem trotzigen Fleißverweigerungsbuch „Anti-Girlboss“ | |
etwas ausführlicher: „Ich habe ein Lebensmotto, an das ich fest glaube: Ein | |
halbwegs öder Tag zu Hause ist immer noch besser als ein interessanter Tag | |
bei der Arbeit.“ | |
Josefine Loewe ist keine Slackerin, Soziolog*innen würden sie eher zu | |
den hedonistischen Performer*innen zählen. Leistungsorientiert, ja, | |
aber nicht um jeden Preis. Vollzeit kommt für Loewe nicht in Frage, auf ein | |
interessantes Arbeitsumfeld legt sie größten Wert. Als die heute 33-Jährige | |
2018 beim Berliner Personaldienstleister Kooku als Recruiterin anfing, | |
handelte sie beim Einstellungsgespräch aus, in Teilzeit und remote arbeiten | |
zu dürfen, also von einem Ort ihrer Wahl aus – was vor Corona noch sehr | |
unüblich war, aber in ihrem Job durchaus möglich. „Zum Arbeiten brauche ich | |
nur einen Coworking-Space mit stabilem Wlan und einer Kaffeemaschine“, | |
erzählt sie am Telefon. | |
Drei Jahre lang arbeitete sie von Bali aus, lebte [4][den Traum von | |
„Workation“]: Vor der Arbeit im Meer schwimmen, nach Feierabend Tanzen am | |
Strand, am Wochenende das Land entdecken. Für viele eine Utopie, laut Loewe | |
aber durchaus realistisch, wenn man sich gut selbst organisieren könne und | |
den entsprechenden Job habe. Natürlich, räumt sie ein, könne das nicht | |
jeder, sie wisse, dass sie in einer privilegierten Situation sei. Loewe ist | |
kinderlos, ungebunden, hat keine gesundheitlichen Einschränkungen. Nach | |
ihrem Aufenthalt in Bali folgten Sri Lanka, Thailand, Australien, die | |
Komoren; zuletzt stand ihr Laptop drei Monate in Barcelona. Inzwischen sei | |
sie jedoch etwas gesettleter und auch schon mal ein halbes Jahr in Berlin. | |
So ein Büro sei auch schön, findet sie – so lang sie jederzeit wieder ihre | |
Koffer packen kann. | |
Diese jungen Leute, nichts als fun im Kopf, selbst beim Arbeiten! Aber – | |
warum eigentlich nicht? Denn die jungen Leute wissen, dass sie demografisch | |
eine wertvolle Ressource sind und verhandeln dementsprechend. Bis zum | |
Umfallen schuften fürs Weihnachtspaket? Nein, danke! Ihnen steht eine | |
ältere Generation gegenüber, die damit wenig anfangen kann. Der kürzlich in | |
Rente gegangene „Trigema“-Firmenpatriarch Wolfgang Grupp etwa befand noch | |
2023: „Wenn einer zuhause arbeiten kann, ist er unwichtig.“ | |
Dass in Deutschland derzeit so verbissen um die Rahmenbedingungen des | |
Arbeitens gestritten wird, über Betriebsvereinbarungen zum Homeoffice bis | |
zur Vier-Tage-Woche, liegt daran, dass sich die gewohnte Arbeitswelt gerade | |
im Rekordtempo auflöst. Während der Pandemie ist etwas ins Rutschen | |
gekommen. | |
## Mehr Krankheitstage | |
Im Lockdown haben Arbeitnehmer*innen aller Generationen erlebt, wie | |
scheinbar unabänderliche Abläufe über Nacht umgekrempelt werden können. | |
Dass es möglich ist, einen Vertrieb oder eine ganze Firma von zu Hause aus | |
zu managen. Dass eine berufliche Karriere nicht zwangsläufig bedeutet, von | |
neun bis fünf im Büro zu sitzen, sondern dass man auch das Kind von der | |
Kita abholen kann oder zwischendurch Wäsche aufhängen, ohne dass die Arbeit | |
leidet. | |
Allerdings haben die erschwerten Bedingungen zwischen Kurzarbeit, | |
Homeoffice und Kinderbetreuung zu Hause bei vielen auch zu einer großen | |
Erschöpfung geführt. | |
Die Autorin Sara Weber, die 2021 ihren Job bei einer Karriereplattform | |
kündigte, beschreibt in ihrem Buch „Die Welt geht unter, und ich muss | |
trotzdem arbeiten?“ das Ausmaß ihrer Erschöpfung folgendermaßen: „Ich | |
mochte mein Team und meine Chefin, mein Job war eigentlich super (…) Was | |
ich nicht sehen wollte: Dass ich seit Beginn der Pandemie oft | |
durcharbeitete statt Mittagspause zu machen – bis mein Magenknurren so laut | |
wurde, dass ich mir ein paar Gummibärchen in den Mund schob. Dass ich | |
lieber vor dem Laptop sitzen blieb, statt mich abends mit Freund*innen zu | |
treffen. Dass meine Arbeitstage nicht kürzer wurden, sondern länger. Mein | |
Rücken tat weh, mein Nacken auch. (…) Arbeit und Freizeit mischten sich | |
ineinander, in eine graue Masse, die alle Tage gleich wirken ließ.“ | |
Wie Weber geht es vielen in Deutschland. Die Schäden, die Homeoffice und | |
Homeschooling in den Coronajahren hinterlassen haben, werden erst langsam | |
sichtbar, in Form einer kollektiven Erschöpfung: Waren deutsche | |
Arbeitnehmer*innen im Jahr 2015 im Durchschnitt 10 Tage krank | |
gemeldet, waren es im Jahr 2021 bereits 11,2 Tage und 2022 15 Tage. | |
Bei den Ursachen liegen psychische Belastungen mittlerweile an dritter | |
Stelle, nach Atemwegs- und Muskel-Skelett-Erkrankungen. Ein Anfang Dezember | |
veröffentlichter Gesundheitsreport des Dachverbands der | |
Betriebskrankenkassen zeigte, dass 69,1 Prozent der unter 30-Jährigen und | |
77,4 Prozent der über 30-Jährigen fünf Tage pro Woche arbeiten. Die | |
meisten, egal ob Berufsanfänger oder schon länger im Geschäft, wünschen | |
sich laut Report aber eine Abkehr vom Vollzeitjob. | |
Man könnte also sagen: Seit Corona sind die deutschen | |
Arbeitnehmer*innen gleichzeitig euphorisiert und erschöpft. Für manche | |
ist der Traum von Vereinbarkeit von Familie und Beruf wahr geworden, wie | |
für meine Kollegin, die bei der Weihnachtsfeier mit glänzenden Augen davon | |
erzählte, wie viel besser ihr Leben durch das Arbeiten im Homeoffice | |
geworden sei. Manche aber konnten gar nicht schnell genug zurück ins Büro, | |
sie fühlten sich zu Hause einsam und überfordert. | |
Christian Montag nennt es das Homeoffice-Paradox: Der Psychologe von der | |
[5][Universität Ulm war an einer der größten Homeofficestudien] während der | |
Covid-Pandemie beteiligt, mit mehr als 8.000 Teilnehmer*innen aus acht | |
europäischen Ländern. Er beobachtete einen scheinbaren Widerspruch: Einige | |
der Befragten gaben an, gleichzeitig mehr Arbeit und mehr Freizeit gehabt | |
zu haben. Wie kann das sein? Auf Nachfrage hat Montag schnell Zeit für ein | |
Interview, nur bitte am Telefon. Er habe mittlerweile eine | |
Videokonferenzmüdigkeit entwickelt. | |
Montag sagt: 28 Prozent der von ihm Befragten hätten angegeben, ihr | |
Arbeitspensum habe sich im Homeoffice erhöht. Gleichzeitig hätten fast 70 | |
Prozent der Befragten angegeben, flexibler Privates erledigen zu können. | |
## Einfach mal einen Gang runterschalten | |
Montag erklärt die Mehrarbeit damit, dass am Anfang der Pandemie | |
Arbeitsprozesse umgestellt und Arbeitsplätze und -routinen neu eingerichtet | |
worden seien. Aber auch die Gefahr der Ablenkung und Selbstausbeutung drohe | |
zu Hause. Viel Zeit sparten Arbeitnehmer*innen durch den Wegfall der | |
Anfahrtswege, auch Arbeitgeber*innen sparten teure Büroflächen. | |
Unterm Strich habe für die Befragten aber die Zufriedenheit mit dem | |
Arbeiten von zu Hause überwogen. „Das Homeoffice wird bleiben“, glaubt der | |
Psychologe. Es habe die Arbeitskultur nachhaltig verändert: „Mehr | |
Vertrauen, weniger Kontrolle.“ Eine gewisse Präsenz im Büro bleibe dennoch | |
wichtig: „Wir sind soziale Wesen, der persönliche Austausch ist durch | |
nichts zu ersetzen.“ | |
Unter den von ihm Befragten seien die am Zufriedendsten, die zwei oder drei | |
Tage im Homeoffice arbeiteten. Für Christian Montag selbst gilt: Nicht mehr | |
als zwei digitale Besprechungen pro Tag, mindestens ein Tag konzeptuelles | |
Arbeiten ohne Termine und regelmäßige Zeiten im Büro. Von der Idee, die | |
Regeln der Arbeit noch weiter zu lockern und etwa die Arbeitszeit für alle | |
zu reduzieren, hält der Psychologe allerdings wenig. „Dazu haben wir zu | |
viel zu tun“, findet er, schließlich lebten wir in einer | |
wachstumsorientierten Gesellschaft. | |
Doch die Lockerung während der Pandemie hat bei den Beschäftigten | |
weitergehende Sehnsüchte ausgelöst. Der Ausbruch aus der gewohnten | |
Arbeitsroutine und Existenzängste in krisengeschüttelten Branchen wie der | |
Gastronomie führten dazu, dass viele sich auf einmal vorstellen konnten, | |
sich beruflich neu zu orientieren – oder generell weniger zu arbeiten. | |
Jenseits der Frage Homeoffice oder Büro erfasste viele eine veritable | |
Sinnkrise. Wozu sich abstressen und immerzu so viel arbeiten, | |
Produktüberschüsse und CO2 produzieren, wenn wir vielleicht alle mal einen | |
Gang runterschalten sollten? Und das nicht nur für die eigene Gesundheit – | |
sondern auch fürs Klima. | |
Die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Juliette Schor hat | |
herausgefunden, dass eine Senkung der Arbeitszeit um 10 Prozent in einem | |
hochindustrialisierten Land wie Deutschland den CO2-Ausstoß um fast 15 | |
Prozent verringern würde. Viele namhafte Ökonom*innen unterstützen | |
inzwischen die Forderung nach einer Reduzierung der Arbeitszeit: Sie könne | |
helfen, den Krankenstand zu senken, die Produktivität zu steigern und die | |
Betriebe attraktiver zu machen – auch für Menschen, die aus familiären | |
Gründen nur Teilzeit arbeiten können. | |
Dadurch könnte auch der Fachkräftemangel gemildert werden. Auch die großen | |
deutschen Gewerkschaften haben die 35-Stunden-Woche in ihre | |
Tarifforderungen aufgenommen. Und im Januar startete ein Pilotprojekt mit | |
50 Unternehmen aus verschiedenen Branchen, die, wissenschaftlich begleitet | |
von der Uni Münster, für ein halbes Jahr die Arbeitszeit bei gleichem | |
Gehalt auf vier Tage reduzieren. | |
Die Idee hat aber auch entschiedene Widersacher in Wirtschaft und Politik. | |
Vor allem Vertreter*innen der alten Arbeitswelt glauben noch immer, | |
dass die Covid-Periode keine Zäsur war, sondern nur ein Ausreißer – und | |
dass jetzt wieder alles werden kann und muss wie zuvor: Kontrolle statt | |
Vertrauen, Präsenzkultur statt „New Work“. | |
## Freizeitpark Deutschland? | |
So beorderte VW-Vorstand Thomas Schäfer Blume seine Führungskräfte zum | |
Jahresanfang 2024 wieder zurück ins Büro, damit sie zusammen vor Ort „Gas | |
geben“ in Zeiten schwächelnder Umsätze. Der Hauptgeschäftsführer der | |
Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeber (BDA) Steffen Kampeter, forderte, | |
Deutschland brauche wieder „mehr Bock auf Arbeit“, sonst gehe die | |
Wirtschaft vor die Hunde. | |
Die Vier-Tage-Woche hält er für eine „Milchmädchenrechnung“, die den | |
Wohlstand gefährde. CDU-Fraktionsvize Jens Spahn sprach unlängst sogar, | |
einen Begriff Helmut Kohls zitierend, vom „Freizeitpark Deutschland“. | |
Er verwies auf die im Vergleich zu anderen europäischen Ländern weniger | |
geleisteten Arbeitsstunden (2022 arbeiteten deutsche Beschäftigte im | |
Schnitt 35,3 Wochenstunden, der EU-Durchschnitt betrug 37,5) und forderte | |
eine Verlängerung der Arbeitszeit – pro Jahr, aber auch über die gesamte | |
Lebensdauer hinweg. Im neuen Grundsatzprogramm der CDU steht die | |
„Aktivrente“: pro Jahr gestiegener Lebenserwartung sollen Beschäftigte vier | |
Monate länger arbeiten. | |
Freizeitpark. Kein Bock. Aktivrente. Dahinter steckt die Annahme, wir seien | |
auch jetzt schon eine Nation von Faulpelzen. Die Anhänger*innen der | |
Faulheitshyphothese unterschlagen allerdings, dass Deutschland eine höhere | |
Teilzeitquote hat als andere Länder. Vergleicht man nur die | |
Vollzeitarbeitsverhältnisse, liegen die Deutschen mit 40,5 geleisteten | |
Arbeitsstunden die Woche voll im EU-Durchschnitt (40,6 Stunden). | |
Auch Sophie Jänicke von der IG Metall widerspricht beim Videotelefonat | |
vehement: Die Deutschen würden nicht weniger leisten. Vielmehr habe die | |
Arbeitswelt sich immer mehr verdichtet. Die Produktivität, also das | |
Verhältnis zwischen Arbeitseinsatz und Wertschöpfung, sei in Deutschland | |
vergleichsweise hoch. | |
Um den Preis, dass immer mehr Leute längerfristig erkrankten, vorzeitig aus | |
dem Erwerbsleben ausschieden und dann weniger Rente bekämen. „Es gibt ein | |
großes Bedürfnis nach Entlastung“, sagt sie. Und: „Der Gesetzgeber wäre … | |
beraten, Maßnahmen zur individuellen und kollektiven Arbeitszeitverkürzung | |
zu unterstützen.“ | |
Die IG Metall hat für ihre Mitglieder 2018 einen Ausgleich erstritten, die | |
Tarifliche Freistellungszeit. Wer in Schicht arbeitet, kleine Kinder hat | |
oder Angehörige pflegt, kann wählen: ein zusätzliches Entgelt – oder acht | |
freie Tage mehr. Das Instrument sei ein Erfolg, sagt Jänicke, jedes Jahr | |
nähmen es rund 400.000 Beschäftigte in Anspruch, gerade die | |
Schichtarbeitenden entscheiden sich mehrheitlich für mehr Freizeit. | |
„Arbeitszeitreduzierung ist kein Produktivitätskiller, im Gegenteil: Sie | |
sichert langfristige Beschäftigung“, sagt Sophie Jänicke. | |
Trotzdem: Wenn in den kommenden Jahren die Babyboomer-Jahrgänge in Rente | |
gehen, könnten bis 2035 rund 7,5 Millionen Menschen auf dem Arbeitsmarkt | |
fehlen. Wenn die verbliebenen Arbeitnehmer*innen nicht mehr Vollzeit | |
arbeiten wollen, wer soll dann die Arbeit erledigen? | |
## Vorbild Skandinavien | |
Offenbar ist es anders gekommen, als Karl Marx sich das gewünscht hat: | |
Technisierung und Maschinen haben uns nicht von der Arbeit befreit. Laut | |
dem kürzlich veröffentlichten Fachkräftereport der Deutschen Industrie- und | |
Handelskammer kann bereits jeder zweite Betrieb offene Stellen zumindest | |
teilweise nicht besetzen. | |
Wir sind also keine Arbeitsgesellschaft geworden, der die Arbeit ausgeht | |
und die sich, ihres Sinns beraubt, um eine leere Mitte dreht, wie [6][die | |
Philosophin Hannah Arendt] befürchtet hat. Wir sind im Gegenteil zu einer | |
Gesellschaft geworden, in der der Arbeit die Beschäftigten ausgehen. | |
Und dabei in einer Sinnkrise: Eine Flut englischer Begriffe vom Quiet | |
Quitting (Dienst nach Vorschrift) bis Coffee Badging (pro forma morgens | |
einstempeln und dann Kaffee trinken gehen) beschreibt die in der | |
Arbeitswelt grassierende „latente Unlust“, wie der Autor Mathias Greffrath | |
es ausdrückt. Niemand möchte zurück zu einer zerstörerischen Arbeitskultur. | |
Arbeit um der Arbeit willen, das war einmal. | |
Selbst im mittelständischen Handwerk, dem Hort der deutschen Fleißkultur, | |
will man inzwischen mehr Freizeit. „Ich wollte mehr vom Wochenende haben“, | |
sagt Marie-Antoinette Schleier aus Hessisch Lichtenau am Telefon. Die | |
Firmeninhaberin hat deshalb 2021 die Vier-Tage-Woche eingeführt: In der | |
Metalljalousien-Firma Franz Rönnau werden nur noch 36 Stunden an vier | |
Wochentagen gearbeitet, dazu gibt es 24 Urlaubstage im Jahr. „Ich habe | |
gelesen, dass es das in Skandinavien gibt – und wollte es ausprobieren“, | |
erzählt sie. | |
Freitags hat der Laden jetzt zu, die Kunden hätten sich inzwischen daran | |
gewöhnt, die Arbeitnehmer*innen auch. An den vier Tagen seien alle | |
produktiver. Umsatzeinbußen habe sie nicht, dafür fünf zufriedene | |
Mitarbeiter*innen. „Es ist alles eine Frage der Einstellung“, findet | |
Schleier. Trotzdem wirbt sie auf der Firmenwebsite nicht mit der | |
Vier-Tage-Woche. Sie wolle nicht die falschen Leute anziehen. Den freien | |
Freitag gebe es nicht umsonst, der erfordere ein hohes Maß an Disziplin und | |
Eigenverantwortung von jedem Einzelnen. | |
Es gibt Branchen, in denen scheint flexibleres Arbeiten weiterhin ein | |
unerreichbarer Traum. Die Patient*innen in Kliniken oder Pflegeheimen | |
können nicht im Homeoffice gepflegt werden – sie brauchen | |
Vor-Ort-Versorgung rund um die Uhr. Anders als im herkömmlichen | |
Schichtsystem ist das nicht zu bewältigen. Oder? | |
„Es geht auch anders“, sagt Henrik van Gellekom, Pflegedienstleiter des | |
Klinikums Bielefeld. Im Juli stellte das kommunale Großkrankenhaus als | |
erste Klinik in Deutschland die Arbeit im Pflegebereich um, zunächst | |
testweise auf zwei Stationen. Die Unternehmensberatung Rheingans, die auf | |
„New Work-Beratung“ spezialisiert ist, begleitet den Prozess mit Workshops | |
und Evaluationen. Für ihre eigenen Leute hat die Agentur die | |
25-Stunden-Woche und den 5-Stunden-Tag bei vollem Gehalt eingeführt. Ganz | |
so weit geht man im Klinikum nicht. Doch in der Pflege sind bereits 38,5 | |
Stunden Wochenarbeitszeit an vier Tagen eine kleine Revolution. | |
Eine Schicht dauert jetzt mit neun Stunden länger, dafür gibt es eine | |
Verdopplung der freien Tage und längere personelle Überschneidungen und | |
damit Übergabezeiten: Statt 30 Minuten sind es jetzt 2,5 Stunden – ein | |
echter Zugewinn für Pflegende wie Gepflegte, wie van Gellekom sagt: „Die | |
eigentliche Arbeit bekommt mehr Raum. Da ist jetzt plötzlich Zeit, in einer | |
ruhigen Ausbildungssituation zum Beispiel einen Katheter zu wechseln mit | |
einem Schüler, für ein längeres Patientengespräch oder die Dokumentation.“ | |
Stolz teilt der Pflegedienstleiter am Bildschirm einen der neuen | |
Dienstpläne, die er zusammen einer Stationsleitung und | |
Mitarbeiter*innen erstellt hat. Eine Vollzeitkraft hat jetzt nicht | |
mehr elf Tage Dienst am Stück und dann drei Tage frei, sondern, je nach | |
individuellem Bedarf, eine bis sechs Tage Dienst und dann ebenso viele Tage | |
frei. Ein enormer Freizeitgewinn, der allerdings auch viel | |
Selbstorganisation verlangt. „Anfangs waren viele skeptisch“, sagt van | |
Gellekom. Aber die meisten wollten die neue Flexibilität nicht mehr missen. | |
Zwar habe sich der Personalbedarf um zehn Prozent erhöht, aber die | |
Attraktivität der Jobs sei gestiegen. Es seien mehr Leute dazu gekommen, | |
als die Station verlassen hätten – für den Pflegeberuf, dem viele | |
Fachkräfte in den letzten Jahren den Rücken gekehrt haben eine sehr gute | |
Bilanz. | |
Gerade für Mitarbeitende in Teilzeitjobs lohne sich das neue Modell, sagt | |
van Gellekom. Sie hätten jetzt die Möglichkeit, aufzustocken, mehr zu | |
verdienen und trotzdem Zeit für die Familie oder Hobbys zu haben. Andere, | |
die nur wenige Stunden arbeiten könnten, könnten selbst mit drei | |
Wochenstunden einsteigen. „Arbeit haben wir genug. Wir müssen sie nur gut | |
organisieren.“ Er ist überzeugt, dass sein Arbeitsmodell sich in der | |
Pflegebranche und Gesundheitseinrichtungen durchsetzen wird. | |
Auch Florian Domberger findet: „Die Arbeitskultur muss anders werden!“ | |
Ausgebrannte Chefs und unzufriedene Mitarbeitende, das müsse nicht sein. | |
Der Bäcker steht im Hinterzimmer seiner Bäckerei in Berlin-Moabit. Vorne | |
schiebt eine Mitarbeiterin Brote, Brezeln und Mohnschnecken über den | |
Tresen, in der offenen Backstube formen andere den Sauerteig, mit dem sich | |
das „Domberger Brot Werk“ einen Namen gemacht hat. Domberger hat sich das | |
Backen selbst angeeignet, aus einer Leidenschaft für gutes Brot und aus | |
Verzweiflung über die, wie er findet, schlechte Versorgung mit guten | |
Backwaren. | |
Früher war er mal Spediteur, Einkäufer, seit 1991 ist er Bundeswehrleutnant | |
der Reserve, woran sein Outfit erinnert: Hellblaues Uniformhemd mit dem | |
runden Domberger-Logo auf der Brust, dazu dunkelblaue Drillichhosen. „Ich | |
hasse diese Pepita-Bäckerhosen“, ruft er. Da kriege ihn keiner rein. | |
Überhaupt bestehe das deutsche Bäckerhandwerk aus jeder Menge alberner | |
Folklore. Wo bitte stehe zum Beispiel geschrieben, dass ein Bäcker zu | |
nachtschlafender Zeit in der Backstube stehen müsse, um ein Roggenbrot in | |
den Ofen zu schieben? | |
„Der deutsche Bäcker als Held der Nacht, das braucht wirklich kein Mensch | |
mit ein bisschen intelligenter Unternehmensführung!“ Dombergers Trick ist | |
das handwerkliche Backen mit Natursauerteig. Auf tiefgefrorene Teiglinge | |
oder künstliche Triebmittel verzichtet er. Das sei nicht nur besser für die | |
Gesundheit, sondern verschaffe ihm und seinen Mitarbeiter*nnen bei | |
guter Planung auch mehr Luft: Durch die sehr langen Gehzeiten können die | |
Backwaren abends in Ruhe vorbereitet werden für das Einschießen am Morgen. | |
Um 6 Uhr beginnt im Brot-Werk die Frühschicht, um acht öffnet der Laden, | |
außer am Sonntag, da ist zu. Und am Montag ist nur von 15 bis 18 Uhr | |
geöffnet. Wenn offen ist, steht alles bereit, die Brötchen und Brezeln, die | |
badischen Seelen mit Kümmel, die mehlbestäubten Vinschgauer, das Süßgebäck. | |
Das Brot kommt dann halt ein bisschen später in den Verkauf. Zwölf Leute | |
arbeiten in zwei Schichten, im Winter etwas länger, im Sommer werden | |
Überstunden abgefeiert. Die im Bäckereihandwerk sonst üblichen | |
Nachtzuschläge gleicht Domberger durch einen erhöhten Stundenlohn aus, und | |
viel persönliche Freiheit. „Wann einer backt, ist mir schnurz“, sagt er. | |
Hauptsache, Qualität und Menge stimmten. | |
## Der Laden läuft auch ohne den Chef | |
Was ihn bei angehenden Bäcker*innen außerdem so beliebt macht: Während | |
in herkömmlichen Betrieben eine strikte Hierarchie herrscht (nur der | |
Altgeselle darf den Ofen bedienen), lernen bei ihm alle alles und bekommen | |
sukzessive die volle Verantwortung übertragen. | |
Die Gesellen- oder Meisterprüfung können sie bei Domberger nicht erwerben, | |
aber das spiele eigentlich keine Rolle: Fünf Leute hätten sich bereits | |
selbständig gemacht, die Personalsituation im Betrieb sei „sehr, sehr gut“, | |
er könne sich vor Anfragen kaum retten. Er sei jedes Jahr zwei bis drei | |
Monate weg – „und der Laden läuft.“ Er breitet die Arme aus: „Geil!“ | |
Ja, was könnte geiler sein als eine Arbeit, die auf die Bedürfnisse des | |
Einzelnen angepasst ist und Raum für Kreativität, Muße und Erholung bietet? | |
Bei den Worten Kreativität und Erholung hätte mein Onkel vermutlich die | |
Augen verdreht. Sein Lieblingsspruch lautete nicht von ungefähr: „Das Leben | |
ist eins der härtesten.“ | |
Doch mit schmissigen Sinnsprüchen lassen sich viele heutige | |
Arbeitnehmer*innen nicht mehr abspeisen. Dafür ist die Mehrheit von | |
ihnen zu erschöpft von der alten Arbeitswelt und zugleich fasziniert von | |
den Möglichkeiten eines flexibleren und selbstbestimmteren Arbeitens. | |
Die Krise der Arbeit wird nicht mehr weggehen: Sie ist keine bloße | |
Coronafolge, sondern Teil eines größeren Umbruchs. [7][Prognosen zufolge] | |
wird Künstliche Intelligenz in Industrienationen bis zu 60 Prozent der Jobs | |
verändern – und der Klimawandel wirft mit zunehmender Dringlichkeit die | |
Frage auf, ob Produktivität und Wirtschaftswachstum auch in Zukunft noch | |
die wichtigsten Kennzahlen sein werden. | |
In dieser Lage ist es sogar eher beruhigend, dass sich viele Beschäftigte | |
im arbeitsfixierten Deutschland offenbar ganz gut ein Leben abseits der | |
Arbeit vorstellen können. Und darüber nachzudenken, wie ein produktives | |
Leben und Arbeiten ohne Eieruhr aussehen kann. | |
20 Jan 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Generation-Z-und-Arbeitsmoral/!5979594 | |
[2] /Praxisversuch-zur-Viertagewoche/!5958173 | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=9EKkBOFEL_0 | |
[4] /Workstation-was-ist-das/!5177365 | |
[5] https://www.uni-ulm.de/in/fakultaet/in-detailseiten/news-detail/article/vid… | |
[6] /Neue-Biographie-ueber-Hannah-Arendt/!5964063 | |
[7] https://www.deutschlandfunk.de/kuenstliche-intelligenz-wird-arbeitswelt-ver… | |
## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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