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# taz.de -- Wandel der Arbeitswelt: Schaffe, schaffe, Päusle mache
> Der Arbeitsethos der Deutschen ist berühmt-berüchtigt. Doch nun wollen
> immer mehr Menschen flexibler und weniger arbeiten. Was ist da
> verrutscht?
Mein Lieblingscartoon aus einem schwäbischen Witzebilderbuch geht so: Eine
Trauergesellschaft steht zusammen. Nach dem Gebet schnappt sich eine der
Verwandten die Urne und verkündet: „Der hat sei’ Lebtag nix gschafft, der
kommt in die Eieruhr!“
Treffender kann man den protestantischen Arbeitswahn, der im Ländle
gepflegt wird, kaum beschreiben: Wer sein Pensum zu Lebzeiten nicht mit dem
gebotenen Fleiß abgeleistet hat, muss dann eben im Jenseits noch mal ran.
Von nix kommt nix. Und Arbeit hat noch niemandem geschadet. Oder?
Nun ja, es gibt schlechte Nachrichten für die fleißigen Schwaben. Die
Arbeitswelt ist in der Krise und [1][mit ihr das deutsche Arbeitsethos].
„Schaffe, schaffe, Häusle baue“, das war einmal. Jetzt diskutiert das Land
[2][über eine Vier-Tage-Woche] und die richtige Work-Life-Balance.
„Deutsche lieben ihre Arbeit nicht mehr“, resümierte n-tv, nachdem bei der
jährlichen „Berufe-Studie“ eines großen Versicherers kürzlich herauskam,
dass nur noch 47 Prozent der Befragten ihr Beruf viel bedeutet.
81 Prozent der Vollzeitbeschäftigten würden sich laut einer aktuellen
Studie der Hans-Böckler-Stiftung für eine Vier-Tage-Woche entscheiden, wenn
sie die Möglichkeit dazu hätten. Und laut einer ZDF-Umfrage aus dem Mai
2023 würde von den 18- bis 35-Jährigen jeder Fünfte gern seinen Job
kündigen – zu schlechte Bezahlung, mangelnde Wertschätzung, zu viel Stress.
Das alte Arbeitsmodell – jeden Tag in die Firma, 35 Jahre lang, bis zur
Rente – hat für sie ohnehin ausgedient.
Aber wollen hierzulande tatsächlich immer weniger Menschen viel arbeiten?
Und was wird dann aus dem viel gepriesenen Wirtschaftsstandort Deutschland?
Auf die Frage angesprochen, ob denn niemand mehr richtig arbeiten will,
sprengt Sophie Jänicke, Vorstandsmitglied der IG Metall, mit ihrer Gestik
fast den Bildschirm unseres Videotelefonats.
Die dunkelhaarige Gewerkschafterin, die sonst sehr sachlich spricht, ruft:
„Ich finde die Debatte verkürzt und respektlos“. Man solle es doch mal so
betrachten: „Vielleicht haben die Jungen von ihren Boomer-Eltern gelernt.
Das war schließlich die Burnout-Generation. Und deren Kinder sagen jetzt:
Wir wollen nicht, dass die Arbeit uns krank und kaputt macht. Wir wollen
mehr vom Leben.“ Und das heiße ja nicht nur „fun“, sondern auch: „Zeit…
Hobbys, für politisches Engagement oder eine gesellschaftlich sinnvolle
Tätigkeit, etwa im Klimaschutz oder im Sportverein.“
Die Generation Burnout kenne ich gut, mein Onkel war ein Musterbeispiel. Er
stammte aus einer ostpreußischen Arbeiterfamilie, beendete mit 16 die
Handelsschule und begann eine Lehre in einem globalen Versicherungskonzern.
Ackerte sich hoch bis zum Prokuristen und Abteilungsleiter. Lernte Business
English, und nach Feierabend ging es öfter noch in die Bar zur
Kontaktpflege.
## „35 Jahre lang / Haken für den Duschvorhang“
„Warte, bis der Papa nach Hause kommt“, hieß es daheim für meinen Cousin,
im Guten wie im Schlechten. Aber war Papa mal da, war er müde und wollte
seine Ruhe. Seine chronische Erschöpfung hätte er sich niemals
eingestanden, das war in seinen Augen was für Weicheier. Lieber trank er
noch einen Grappa, um schlafen zu können. Zur Belohnung kam jedes Jahr
pünktlich zu Weihnachten ein edles, mit sagenhaft hochpreisigen Leckereien
bestücktes Fresspaket mit Gruß des Vorstands an die besonders verdienten
Angestellten. Bis zur Rente ging das so. Danach blieb nicht mehr viel, mit
73 Jahren starb mein Onkel.
„35 Jahre lang / Haken für den Duschvorhang“, sang mein Cousin mal ironisch
[3][zur Platte der Toten Hosen], als wir uns bei einem der Weihnachtsfeste
aus dem Versicherungspaket bedienten. „Den Abschiedsbrief hat er sich
eingerahmt / er macht die selbe Frühstückspause wie in all den Jahrn“. Die
Anspielung bekam mein Onkel nicht mit, er war wahrscheinlich auf dem Sofa
weggenickt.
Ackern, damit man was wird und die Kinder es einmal besser haben. Schon
lange ist dieses von Figuren wie Gerhard Schröder oder eben meinem Onkel
verkörperte Versprechen des Bildungsaufstiegs löchrig. Wer heute reich ist,
ist es meist seit Geburt oder wird es durch Erbe oder geschickte
Spekulation und immer seltener durch Fleiß und Ehrgeiz.
Die logische Schlussfolgerung ist der bewusste Rückzug aus einer
Arbeitswelt, die gerade für Jüngere oft mehr Prekarität und Stress
bereithält als persönlichen Gewinn. „Arbeit nervt“, findet nicht nur die
Band Deichkind.
Die Berliner Autorin und selbst ernannte Slackerin Nadia Shehadeh
formuliert es in ihrem trotzigen Fleißverweigerungsbuch „Anti-Girlboss“
etwas ausführlicher: „Ich habe ein Lebensmotto, an das ich fest glaube: Ein
halbwegs öder Tag zu Hause ist immer noch besser als ein interessanter Tag
bei der Arbeit.“
Josefine Loewe ist keine Slackerin, Soziolog*innen würden sie eher zu
den hedonistischen Performer*innen zählen. Leistungsorientiert, ja,
aber nicht um jeden Preis. Vollzeit kommt für Loewe nicht in Frage, auf ein
interessantes Arbeitsumfeld legt sie größten Wert. Als die heute 33-Jährige
2018 beim Berliner Personaldienstleister Kooku als Recruiterin anfing,
handelte sie beim Einstellungsgespräch aus, in Teilzeit und remote arbeiten
zu dürfen, also von einem Ort ihrer Wahl aus – was vor Corona noch sehr
unüblich war, aber in ihrem Job durchaus möglich. „Zum Arbeiten brauche ich
nur einen Coworking-Space mit stabilem Wlan und einer Kaffeemaschine“,
erzählt sie am Telefon.
Drei Jahre lang arbeitete sie von Bali aus, lebte [4][den Traum von
„Workation“]: Vor der Arbeit im Meer schwimmen, nach Feierabend Tanzen am
Strand, am Wochenende das Land entdecken. Für viele eine Utopie, laut Loewe
aber durchaus realistisch, wenn man sich gut selbst organisieren könne und
den entsprechenden Job habe. Natürlich, räumt sie ein, könne das nicht
jeder, sie wisse, dass sie in einer privilegierten Situation sei. Loewe ist
kinderlos, ungebunden, hat keine gesundheitlichen Einschränkungen. Nach
ihrem Aufenthalt in Bali folgten Sri Lanka, Thailand, Australien, die
Komoren; zuletzt stand ihr Laptop drei Monate in Barcelona. Inzwischen sei
sie jedoch etwas gesettleter und auch schon mal ein halbes Jahr in Berlin.
So ein Büro sei auch schön, findet sie – so lang sie jederzeit wieder ihre
Koffer packen kann.
Diese jungen Leute, nichts als fun im Kopf, selbst beim Arbeiten! Aber –
warum eigentlich nicht? Denn die jungen Leute wissen, dass sie demografisch
eine wertvolle Ressource sind und verhandeln dementsprechend. Bis zum
Umfallen schuften fürs Weihnachtspaket? Nein, danke! Ihnen steht eine
ältere Generation gegenüber, die damit wenig anfangen kann. Der kürzlich in
Rente gegangene „Trigema“-Firmenpatriarch Wolfgang Grupp etwa befand noch
2023: „Wenn einer zuhause arbeiten kann, ist er unwichtig.“
Dass in Deutschland derzeit so verbissen um die Rahmenbedingungen des
Arbeitens gestritten wird, über Betriebsvereinbarungen zum Homeoffice bis
zur Vier-Tage-Woche, liegt daran, dass sich die gewohnte Arbeitswelt gerade
im Rekordtempo auflöst. Während der Pandemie ist etwas ins Rutschen
gekommen.
## Mehr Krankheitstage
Im Lockdown haben Arbeitnehmer*innen aller Generationen erlebt, wie
scheinbar unabänderliche Abläufe über Nacht umgekrempelt werden können.
Dass es möglich ist, einen Vertrieb oder eine ganze Firma von zu Hause aus
zu managen. Dass eine berufliche Karriere nicht zwangsläufig bedeutet, von
neun bis fünf im Büro zu sitzen, sondern dass man auch das Kind von der
Kita abholen kann oder zwischendurch Wäsche aufhängen, ohne dass die Arbeit
leidet.
Allerdings haben die erschwerten Bedingungen zwischen Kurzarbeit,
Homeoffice und Kinderbetreuung zu Hause bei vielen auch zu einer großen
Erschöpfung geführt.
Die Autorin Sara Weber, die 2021 ihren Job bei einer Karriereplattform
kündigte, beschreibt in ihrem Buch „Die Welt geht unter, und ich muss
trotzdem arbeiten?“ das Ausmaß ihrer Erschöpfung folgendermaßen: „Ich
mochte mein Team und meine Chefin, mein Job war eigentlich super (…) Was
ich nicht sehen wollte: Dass ich seit Beginn der Pandemie oft
durcharbeitete statt Mittagspause zu machen – bis mein Magenknurren so laut
wurde, dass ich mir ein paar Gummibärchen in den Mund schob. Dass ich
lieber vor dem Laptop sitzen blieb, statt mich abends mit Freund*innen zu
treffen. Dass meine Arbeitstage nicht kürzer wurden, sondern länger. Mein
Rücken tat weh, mein Nacken auch. (…) Arbeit und Freizeit mischten sich
ineinander, in eine graue Masse, die alle Tage gleich wirken ließ.“
Wie Weber geht es vielen in Deutschland. Die Schäden, die Homeoffice und
Homeschooling in den Coronajahren hinterlassen haben, werden erst langsam
sichtbar, in Form einer kollektiven Erschöpfung: Waren deutsche
Arbeitnehmer*innen im Jahr 2015 im Durchschnitt 10 Tage krank
gemeldet, waren es im Jahr 2021 bereits 11,2 Tage und 2022 15 Tage.
Bei den Ursachen liegen psychische Belastungen mittlerweile an dritter
Stelle, nach Atemwegs- und Muskel-Skelett-Erkrankungen. Ein Anfang Dezember
veröffentlichter Gesundheitsreport des Dachverbands der
Betriebskrankenkassen zeigte, dass 69,1 Prozent der unter 30-Jährigen und
77,4 Prozent der über 30-Jährigen fünf Tage pro Woche arbeiten. Die
meisten, egal ob Berufsanfänger oder schon länger im Geschäft, wünschen
sich laut Report aber eine Abkehr vom Vollzeitjob.
Man könnte also sagen: Seit Corona sind die deutschen
Arbeitnehmer*innen gleichzeitig euphorisiert und erschöpft. Für manche
ist der Traum von Vereinbarkeit von Familie und Beruf wahr geworden, wie
für meine Kollegin, die bei der Weihnachtsfeier mit glänzenden Augen davon
erzählte, wie viel besser ihr Leben durch das Arbeiten im Homeoffice
geworden sei. Manche aber konnten gar nicht schnell genug zurück ins Büro,
sie fühlten sich zu Hause einsam und überfordert.
Christian Montag nennt es das Homeoffice-Paradox: Der Psychologe von der
[5][Universität Ulm war an einer der größten Homeofficestudien] während der
Covid-Pandemie beteiligt, mit mehr als 8.000 Teilnehmer*innen aus acht
europäischen Ländern. Er beobachtete einen scheinbaren Widerspruch: Einige
der Befragten gaben an, gleichzeitig mehr Arbeit und mehr Freizeit gehabt
zu haben. Wie kann das sein? Auf Nachfrage hat Montag schnell Zeit für ein
Interview, nur bitte am Telefon. Er habe mittlerweile eine
Videokonferenzmüdigkeit entwickelt.
Montag sagt: 28 Prozent der von ihm Befragten hätten angegeben, ihr
Arbeitspensum habe sich im Homeoffice erhöht. Gleichzeitig hätten fast 70
Prozent der Befragten angegeben, flexibler Privates erledigen zu können.
## Einfach mal einen Gang runterschalten
Montag erklärt die Mehrarbeit damit, dass am Anfang der Pandemie
Arbeitsprozesse umgestellt und Arbeitsplätze und -routinen neu eingerichtet
worden seien. Aber auch die Gefahr der Ablenkung und Selbstausbeutung drohe
zu Hause. Viel Zeit sparten Arbeitnehmer*innen durch den Wegfall der
Anfahrtswege, auch Arbeitgeber*innen sparten teure Büroflächen.
Unterm Strich habe für die Befragten aber die Zufriedenheit mit dem
Arbeiten von zu Hause überwogen. „Das Homeoffice wird bleiben“, glaubt der
Psychologe. Es habe die Arbeitskultur nachhaltig verändert: „Mehr
Vertrauen, weniger Kontrolle.“ Eine gewisse Präsenz im Büro bleibe dennoch
wichtig: „Wir sind soziale Wesen, der persönliche Austausch ist durch
nichts zu ersetzen.“
Unter den von ihm Befragten seien die am Zufriedendsten, die zwei oder drei
Tage im Homeoffice arbeiteten. Für Christian Montag selbst gilt: Nicht mehr
als zwei digitale Besprechungen pro Tag, mindestens ein Tag konzeptuelles
Arbeiten ohne Termine und regelmäßige Zeiten im Büro. Von der Idee, die
Regeln der Arbeit noch weiter zu lockern und etwa die Arbeitszeit für alle
zu reduzieren, hält der Psychologe allerdings wenig. „Dazu haben wir zu
viel zu tun“, findet er, schließlich lebten wir in einer
wachstumsorientierten Gesellschaft.
Doch die Lockerung während der Pandemie hat bei den Beschäftigten
weitergehende Sehnsüchte ausgelöst. Der Ausbruch aus der gewohnten
Arbeitsroutine und Existenzängste in krisengeschüttelten Branchen wie der
Gastronomie führten dazu, dass viele sich auf einmal vorstellen konnten,
sich beruflich neu zu orientieren – oder generell weniger zu arbeiten.
Jenseits der Frage Homeoffice oder Büro erfasste viele eine veritable
Sinnkrise. Wozu sich abstressen und immerzu so viel arbeiten,
Produktüberschüsse und CO2 produzieren, wenn wir vielleicht alle mal einen
Gang runterschalten sollten? Und das nicht nur für die eigene Gesundheit –
sondern auch fürs Klima.
Die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Juliette Schor hat
herausgefunden, dass eine Senkung der Arbeitszeit um 10 Prozent in einem
hochindustrialisierten Land wie Deutschland den CO2-Ausstoß um fast 15
Prozent verringern würde. Viele namhafte Ökonom*innen unterstützen
inzwischen die Forderung nach einer Reduzierung der Arbeitszeit: Sie könne
helfen, den Krankenstand zu senken, die Produktivität zu steigern und die
Betriebe attraktiver zu machen – auch für Menschen, die aus familiären
Gründen nur Teilzeit arbeiten können.
Dadurch könnte auch der Fachkräftemangel gemildert werden. Auch die großen
deutschen Gewerkschaften haben die 35-Stunden-Woche in ihre
Tarifforderungen aufgenommen. Und im Januar startete ein Pilotprojekt mit
50 Unternehmen aus verschiedenen Branchen, die, wissenschaftlich begleitet
von der Uni Münster, für ein halbes Jahr die Arbeitszeit bei gleichem
Gehalt auf vier Tage reduzieren.
Die Idee hat aber auch entschiedene Widersacher in Wirtschaft und Politik.
Vor allem Vertreter*innen der alten Arbeitswelt glauben noch immer,
dass die Covid-Periode keine Zäsur war, sondern nur ein Ausreißer – und
dass jetzt wieder alles werden kann und muss wie zuvor: Kontrolle statt
Vertrauen, Präsenzkultur statt „New Work“.
## Freizeitpark Deutschland?
So beorderte VW-Vorstand Thomas Schäfer Blume seine Führungskräfte zum
Jahresanfang 2024 wieder zurück ins Büro, damit sie zusammen vor Ort „Gas
geben“ in Zeiten schwächelnder Umsätze. Der Hauptgeschäftsführer der
Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeber (BDA) Steffen Kampeter, forderte,
Deutschland brauche wieder „mehr Bock auf Arbeit“, sonst gehe die
Wirtschaft vor die Hunde.
Die Vier-Tage-Woche hält er für eine „Milchmädchenrechnung“, die den
Wohlstand gefährde. CDU-Fraktionsvize Jens Spahn sprach unlängst sogar,
einen Begriff Helmut Kohls zitierend, vom „Freizeitpark Deutschland“.
Er verwies auf die im Vergleich zu anderen europäischen Ländern weniger
geleisteten Arbeitsstunden (2022 arbeiteten deutsche Beschäftigte im
Schnitt 35,3 Wochenstunden, der EU-Durchschnitt betrug 37,5) und forderte
eine Verlängerung der Arbeitszeit – pro Jahr, aber auch über die gesamte
Lebensdauer hinweg. Im neuen Grundsatzprogramm der CDU steht die
„Aktivrente“: pro Jahr gestiegener Lebenserwartung sollen Beschäftigte vier
Monate länger arbeiten.
Freizeitpark. Kein Bock. Aktivrente. Dahinter steckt die Annahme, wir seien
auch jetzt schon eine Nation von Faulpelzen. Die Anhänger*innen der
Faulheitshyphothese unterschlagen allerdings, dass Deutschland eine höhere
Teilzeitquote hat als andere Länder. Vergleicht man nur die
Vollzeitarbeitsverhältnisse, liegen die Deutschen mit 40,5 geleisteten
Arbeitsstunden die Woche voll im EU-Durchschnitt (40,6 Stunden).
Auch Sophie Jänicke von der IG Metall widerspricht beim Videotelefonat
vehement: Die Deutschen würden nicht weniger leisten. Vielmehr habe die
Arbeitswelt sich immer mehr verdichtet. Die Produktivität, also das
Verhältnis zwischen Arbeitseinsatz und Wertschöpfung, sei in Deutschland
vergleichsweise hoch.
Um den Preis, dass immer mehr Leute längerfristig erkrankten, vorzeitig aus
dem Erwerbsleben ausschieden und dann weniger Rente bekämen. „Es gibt ein
großes Bedürfnis nach Entlastung“, sagt sie. Und: „Der Gesetzgeber wäre …
beraten, Maßnahmen zur individuellen und kollektiven Arbeitszeitverkürzung
zu unterstützen.“
Die IG Metall hat für ihre Mitglieder 2018 einen Ausgleich erstritten, die
Tarifliche Freistellungszeit. Wer in Schicht arbeitet, kleine Kinder hat
oder Angehörige pflegt, kann wählen: ein zusätzliches Entgelt – oder acht
freie Tage mehr. Das Instrument sei ein Erfolg, sagt Jänicke, jedes Jahr
nähmen es rund 400.000 Beschäftigte in Anspruch, gerade die
Schichtarbeitenden entscheiden sich mehrheitlich für mehr Freizeit.
„Arbeitszeitreduzierung ist kein Produktivitätskiller, im Gegenteil: Sie
sichert langfristige Beschäftigung“, sagt Sophie Jänicke.
Trotzdem: Wenn in den kommenden Jahren die Babyboomer-Jahrgänge in Rente
gehen, könnten bis 2035 rund 7,5 Millionen Menschen auf dem Arbeitsmarkt
fehlen. Wenn die verbliebenen Arbeitnehmer*innen nicht mehr Vollzeit
arbeiten wollen, wer soll dann die Arbeit erledigen?
## Vorbild Skandinavien
Offenbar ist es anders gekommen, als Karl Marx sich das gewünscht hat:
Technisierung und Maschinen haben uns nicht von der Arbeit befreit. Laut
dem kürzlich veröffentlichten Fachkräftereport der Deutschen Industrie- und
Handelskammer kann bereits jeder zweite Betrieb offene Stellen zumindest
teilweise nicht besetzen.
Wir sind also keine Arbeitsgesellschaft geworden, der die Arbeit ausgeht
und die sich, ihres Sinns beraubt, um eine leere Mitte dreht, wie [6][die
Philosophin Hannah Arendt] befürchtet hat. Wir sind im Gegenteil zu einer
Gesellschaft geworden, in der der Arbeit die Beschäftigten ausgehen.
Und dabei in einer Sinnkrise: Eine Flut englischer Begriffe vom Quiet
Quitting (Dienst nach Vorschrift) bis Coffee Badging (pro forma morgens
einstempeln und dann Kaffee trinken gehen) beschreibt die in der
Arbeitswelt grassierende „latente Unlust“, wie der Autor Mathias Greffrath
es ausdrückt. Niemand möchte zurück zu einer zerstörerischen Arbeitskultur.
Arbeit um der Arbeit willen, das war einmal.
Selbst im mittelständischen Handwerk, dem Hort der deutschen Fleißkultur,
will man inzwischen mehr Freizeit. „Ich wollte mehr vom Wochenende haben“,
sagt Marie-Antoinette Schleier aus Hessisch Lichtenau am Telefon. Die
Firmeninhaberin hat deshalb 2021 die Vier-Tage-Woche eingeführt: In der
Metalljalousien-Firma Franz Rönnau werden nur noch 36 Stunden an vier
Wochentagen gearbeitet, dazu gibt es 24 Urlaubstage im Jahr. „Ich habe
gelesen, dass es das in Skandinavien gibt – und wollte es ausprobieren“,
erzählt sie.
Freitags hat der Laden jetzt zu, die Kunden hätten sich inzwischen daran
gewöhnt, die Arbeitnehmer*innen auch. An den vier Tagen seien alle
produktiver. Umsatzeinbußen habe sie nicht, dafür fünf zufriedene
Mitarbeiter*innen. „Es ist alles eine Frage der Einstellung“, findet
Schleier. Trotzdem wirbt sie auf der Firmenwebsite nicht mit der
Vier-Tage-Woche. Sie wolle nicht die falschen Leute anziehen. Den freien
Freitag gebe es nicht umsonst, der erfordere ein hohes Maß an Disziplin und
Eigenverantwortung von jedem Einzelnen.
Es gibt Branchen, in denen scheint flexibleres Arbeiten weiterhin ein
unerreichbarer Traum. Die Patient*innen in Kliniken oder Pflegeheimen
können nicht im Homeoffice gepflegt werden – sie brauchen
Vor-Ort-Versorgung rund um die Uhr. Anders als im herkömmlichen
Schichtsystem ist das nicht zu bewältigen. Oder?
„Es geht auch anders“, sagt Henrik van Gellekom, Pflegedienstleiter des
Klinikums Bielefeld. Im Juli stellte das kommunale Großkrankenhaus als
erste Klinik in Deutschland die Arbeit im Pflegebereich um, zunächst
testweise auf zwei Stationen. Die Unternehmensberatung Rheingans, die auf
„New Work-Beratung“ spezialisiert ist, begleitet den Prozess mit Workshops
und Evaluationen. Für ihre eigenen Leute hat die Agentur die
25-Stunden-Woche und den 5-Stunden-Tag bei vollem Gehalt eingeführt. Ganz
so weit geht man im Klinikum nicht. Doch in der Pflege sind bereits 38,5
Stunden Wochenarbeitszeit an vier Tagen eine kleine Revolution.
Eine Schicht dauert jetzt mit neun Stunden länger, dafür gibt es eine
Verdopplung der freien Tage und längere personelle Überschneidungen und
damit Übergabezeiten: Statt 30 Minuten sind es jetzt 2,5 Stunden – ein
echter Zugewinn für Pflegende wie Gepflegte, wie van Gellekom sagt: „Die
eigentliche Arbeit bekommt mehr Raum. Da ist jetzt plötzlich Zeit, in einer
ruhigen Ausbildungssituation zum Beispiel einen Katheter zu wechseln mit
einem Schüler, für ein längeres Patientengespräch oder die Dokumentation.“
Stolz teilt der Pflegedienstleiter am Bildschirm einen der neuen
Dienstpläne, die er zusammen einer Stationsleitung und
Mitarbeiter*innen erstellt hat. Eine Vollzeitkraft hat jetzt nicht
mehr elf Tage Dienst am Stück und dann drei Tage frei, sondern, je nach
individuellem Bedarf, eine bis sechs Tage Dienst und dann ebenso viele Tage
frei. Ein enormer Freizeitgewinn, der allerdings auch viel
Selbstorganisation verlangt. „Anfangs waren viele skeptisch“, sagt van
Gellekom. Aber die meisten wollten die neue Flexibilität nicht mehr missen.
Zwar habe sich der Personalbedarf um zehn Prozent erhöht, aber die
Attraktivität der Jobs sei gestiegen. Es seien mehr Leute dazu gekommen,
als die Station verlassen hätten – für den Pflegeberuf, dem viele
Fachkräfte in den letzten Jahren den Rücken gekehrt haben eine sehr gute
Bilanz.
Gerade für Mitarbeitende in Teilzeitjobs lohne sich das neue Modell, sagt
van Gellekom. Sie hätten jetzt die Möglichkeit, aufzustocken, mehr zu
verdienen und trotzdem Zeit für die Familie oder Hobbys zu haben. Andere,
die nur wenige Stunden arbeiten könnten, könnten selbst mit drei
Wochenstunden einsteigen. „Arbeit haben wir genug. Wir müssen sie nur gut
organisieren.“ Er ist überzeugt, dass sein Arbeitsmodell sich in der
Pflegebranche und Gesundheitseinrichtungen durchsetzen wird.
Auch Florian Domberger findet: „Die Arbeitskultur muss anders werden!“
Ausgebrannte Chefs und unzufriedene Mitarbeitende, das müsse nicht sein.
Der Bäcker steht im Hinterzimmer seiner Bäckerei in Berlin-Moabit. Vorne
schiebt eine Mitarbeiterin Brote, Brezeln und Mohnschnecken über den
Tresen, in der offenen Backstube formen andere den Sauerteig, mit dem sich
das „Domberger Brot Werk“ einen Namen gemacht hat. Domberger hat sich das
Backen selbst angeeignet, aus einer Leidenschaft für gutes Brot und aus
Verzweiflung über die, wie er findet, schlechte Versorgung mit guten
Backwaren.
Früher war er mal Spediteur, Einkäufer, seit 1991 ist er Bundeswehrleutnant
der Reserve, woran sein Outfit erinnert: Hellblaues Uniformhemd mit dem
runden Domberger-Logo auf der Brust, dazu dunkelblaue Drillichhosen. „Ich
hasse diese Pepita-Bäckerhosen“, ruft er. Da kriege ihn keiner rein.
Überhaupt bestehe das deutsche Bäckerhandwerk aus jeder Menge alberner
Folklore. Wo bitte stehe zum Beispiel geschrieben, dass ein Bäcker zu
nachtschlafender Zeit in der Backstube stehen müsse, um ein Roggenbrot in
den Ofen zu schieben?
„Der deutsche Bäcker als Held der Nacht, das braucht wirklich kein Mensch
mit ein bisschen intelligenter Unternehmensführung!“ Dombergers Trick ist
das handwerkliche Backen mit Natursauerteig. Auf tiefgefrorene Teiglinge
oder künstliche Triebmittel verzichtet er. Das sei nicht nur besser für die
Gesundheit, sondern verschaffe ihm und seinen Mitarbeiter*nnen bei
guter Planung auch mehr Luft: Durch die sehr langen Gehzeiten können die
Backwaren abends in Ruhe vorbereitet werden für das Einschießen am Morgen.
Um 6 Uhr beginnt im Brot-Werk die Frühschicht, um acht öffnet der Laden,
außer am Sonntag, da ist zu. Und am Montag ist nur von 15 bis 18 Uhr
geöffnet. Wenn offen ist, steht alles bereit, die Brötchen und Brezeln, die
badischen Seelen mit Kümmel, die mehlbestäubten Vinschgauer, das Süßgebäck.
Das Brot kommt dann halt ein bisschen später in den Verkauf. Zwölf Leute
arbeiten in zwei Schichten, im Winter etwas länger, im Sommer werden
Überstunden abgefeiert. Die im Bäckereihandwerk sonst üblichen
Nachtzuschläge gleicht Domberger durch einen erhöhten Stundenlohn aus, und
viel persönliche Freiheit. „Wann einer backt, ist mir schnurz“, sagt er.
Hauptsache, Qualität und Menge stimmten.
## Der Laden läuft auch ohne den Chef
Was ihn bei angehenden Bäcker*innen außerdem so beliebt macht: Während
in herkömmlichen Betrieben eine strikte Hierarchie herrscht (nur der
Altgeselle darf den Ofen bedienen), lernen bei ihm alle alles und bekommen
sukzessive die volle Verantwortung übertragen.
Die Gesellen- oder Meisterprüfung können sie bei Domberger nicht erwerben,
aber das spiele eigentlich keine Rolle: Fünf Leute hätten sich bereits
selbständig gemacht, die Personalsituation im Betrieb sei „sehr, sehr gut“,
er könne sich vor Anfragen kaum retten. Er sei jedes Jahr zwei bis drei
Monate weg – „und der Laden läuft.“ Er breitet die Arme aus: „Geil!“
Ja, was könnte geiler sein als eine Arbeit, die auf die Bedürfnisse des
Einzelnen angepasst ist und Raum für Kreativität, Muße und Erholung bietet?
Bei den Worten Kreativität und Erholung hätte mein Onkel vermutlich die
Augen verdreht. Sein Lieblingsspruch lautete nicht von ungefähr: „Das Leben
ist eins der härtesten.“
Doch mit schmissigen Sinnsprüchen lassen sich viele heutige
Arbeitnehmer*innen nicht mehr abspeisen. Dafür ist die Mehrheit von
ihnen zu erschöpft von der alten Arbeitswelt und zugleich fasziniert von
den Möglichkeiten eines flexibleren und selbstbestimmteren Arbeitens.
Die Krise der Arbeit wird nicht mehr weggehen: Sie ist keine bloße
Coronafolge, sondern Teil eines größeren Umbruchs. [7][Prognosen zufolge]
wird Künstliche Intelligenz in Industrienationen bis zu 60 Prozent der Jobs
verändern – und der Klimawandel wirft mit zunehmender Dringlichkeit die
Frage auf, ob Produktivität und Wirtschaftswachstum auch in Zukunft noch
die wichtigsten Kennzahlen sein werden.
In dieser Lage ist es sogar eher beruhigend, dass sich viele Beschäftigte
im arbeitsfixierten Deutschland offenbar ganz gut ein Leben abseits der
Arbeit vorstellen können. Und darüber nachzudenken, wie ein produktives
Leben und Arbeiten ohne Eieruhr aussehen kann.
20 Jan 2024
## LINKS
[1] /Generation-Z-und-Arbeitsmoral/!5979594
[2] /Praxisversuch-zur-Viertagewoche/!5958173
[3] https://www.youtube.com/watch?v=9EKkBOFEL_0
[4] /Workstation-was-ist-das/!5177365
[5] https://www.uni-ulm.de/in/fakultaet/in-detailseiten/news-detail/article/vid…
[6] /Neue-Biographie-ueber-Hannah-Arendt/!5964063
[7] https://www.deutschlandfunk.de/kuenstliche-intelligenz-wird-arbeitswelt-ver…
## AUTOREN
Nina Apin
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