| # taz.de -- Buch über die Arbeitswelt: Kampf dem Leistungsimperativ | |
| > Heike Geißler rechnet ab mit einer krankmachenden Arbeitswelt und lädt | |
| > zum Richtungswechsel ein. | |
| Bild: Enttäuschung, Erschöpfung, Wut und Rachsucht empfindet die Autorin ange… | |
| Alles ist Arbeit – neu scheint an dieser Feststellung erstmal nichts. | |
| Längst kämpfen auch Arbeitsformen wie Sorgearbeit und Aktivismus um | |
| Sichtbarkeit. Doch Heike Geißler zeigt: Unser Verständnis von Arbeit neigt | |
| immer wieder zur Einengung, ein aktives Wahrnehmen von Arbeit aller Art | |
| muss geübt werden. In ihrem Essay „Arbeiten“ nimmt die in Leipzig lebende | |
| Autorin Leser:innen in der Übung des Hinschauens mit durch ihren Alltag. | |
| Hinter jedem Textilstück am eigenen Leib und den von Handwerkern | |
| eingebauten Fenstern: überall ist Arbeit hineingeflossen. Auch ihrer | |
| eigenen Arbeit spürt Geißler nach: Menschen beobachten, Realität | |
| mitschreiben, im Wahnsinn der Weltlage bei klarem Kopf und widerständig | |
| bleiben. Geißler schreibt der Arbeitswelt, wie wir sie kennen, Briefe, | |
| unversöhnliche, anklagende. | |
| Anfangs wirkt die Kombination aus Alltagsszenerien, den leicht | |
| pathetischen Briefen und Gedankenfetzen etwas holprig, die poetische | |
| Sprache zeitweise gezwungen. Doch das konsequent abschweifende Sammelsurium | |
| aus Bildern und Gedanken findet schnell seinen eigenen Ton und lädt zum | |
| Weiterlesen ein. | |
| Geißler legt kein nüchternes, Neutralität beanspruchendes Sachbuch vor. Ihr | |
| Text ist persönlich, vulnerabel und dadurch zutiefst lebendig. Sie lässt | |
| Personen aus dem eigenen Umfeld zu Wort kommen. Die am „[1][Chronischen | |
| Fatigue-Syndrom]“ erkrankte Freundin, die liebend gern zu ihrem Beruf | |
| zurückkehren würde, tritt ebenso auf, wie der Kurier, der, sein Herz | |
| ausschüttend, „kübelweise Klagen in den Hausflur“ kippe. Über die eigene | |
| Arbeit natürlich. | |
| Den Berufsgeschichten ihrer Eltern räumt Heike Geißler besonders viel Raum | |
| ein. In der DDR aufgewachsen, machten sie mit dem System- auch einen | |
| Berufswechsel durch. Auch ihr Verhältnis zum Beruf änderte sich. Beide nahm | |
| Geißler als Kind als gern arbeitend wahr. Ihre Mutter, vor der Wende | |
| Postamtsleiterin in Chemnitz, litt zunehmend unter ihrem neuen Job in | |
| München. Im Callcenter sollte sie keine Probleme lösen, sondern Dinge | |
| verkaufen. Diesem Imperativ entkam sie erst durch den Vorruhestand aufgrund | |
| chronischer Krankheit. Ihr Vater, ehemaliger Schichtarbeiter im Stahlwerk, | |
| erzählt von einer „Kasse des Vertrauens“ für nächtliche Brötchen, | |
| Bewegungsfreiheit auf dem Gelände während der Schicht. Bei Geißlers | |
| [2][Besuch im Stahlwerk heute] wird klar: beides ist verschwunden. Nach der | |
| Wende folgten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, erfolglos forderte der Vater | |
| einen Arbeitsvertrag ein. Behutsam differenziert Geißler anhand | |
| persönlicher Geschichten das Schwarz-Weiß-Narrativ eines rein erdrückenden | |
| Versuchs von Sozialismus und eines vermeintlich heilbringenden | |
| kapitalistischen Systems aus. | |
| Für die theoretische Einordnung zitiert Geißler mehr Frauen als Männer, | |
| lässt die Schriftstellerinnen Elke Erb und Helga M. Novak über die | |
| Schieflage kapitalistischer Produktionsverhältnisse referieren. Geißler | |
| selbst übernimmt das Gefühl: Enttäuschung, Erschöpfung, Wut und Rachsucht, | |
| die einem gewaltvollen Verhältnis zur eigenen Arbeit und fehlender | |
| Anerkennung folgen, gibt sie den nötigen Raum. Sie fordert Sorge statt | |
| Vorsorge, zeichnet utopische Stadtbilder, setzt Denkmäler für die | |
| Kleingehaltenen. | |
| Manchmal klingt das etwas heldinnenhaft. Das möchte man Geißler aber nicht | |
| vorwerfen, denn ihre Verteidigung von Fantasie und Märchen gegenüber der | |
| Ohnmacht ist ernstzunehmen. Trotzdem drohen ihre Appelle oft ins Leere zu | |
| laufen. Zwar treten vereinzelt Figuren mit Feind:innenpotenzial auf: | |
| die Superreichen, die Plattform-Kapitalisten. Aber ein Rest Unklarheit | |
| bleibt, welchen Kampf genau die Autorin verteidigt, nicht zuletzt durch | |
| einen ambivalenten Arbeitsbegriff. | |
| Geißler sieht die gegenwärtige Arbeitswelt verkörpert in Lüge, Profitgier, | |
| Leistungsdruck und unterdrückerisch arbeitsverherrlichenden Narrativen: | |
| eine bleibende Siegerin in wechselnden Kostümen. Der Verdacht bahnt sich | |
| an, dass Geißler „die Arbeitswelt“ so sehr mit der kapitalistischen | |
| Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung verzahnt sieht, dass sie im Grunde | |
| synonym seien. Damit überlässt sie jedoch den Begriff der Arbeit dem Status | |
| Quo. Den Arbeitsbegriff aufzugeben und sich auf andere Begriffe wie | |
| Faulheit zurückzuziehen, erscheint aber wie eine sprachliche Kapitulation. | |
| Schwieriger, aber ermutigender wäre es, den Begriff Arbeit von | |
| kapitalistischen Logiken zu entzerren, sich ihn wieder anzueignen, und | |
| entfremdete, fremdbestimmte Arbeit klar als solche zu markieren. | |
| Zu betrachten ist „Arbeit“ dann mit dem inklusiven Blick, zu dem Geißler | |
| einlädt; zu besetzen mit menschlichen Tätigkeiten und Fähigkeiten, die sie | |
| überzeugend hochhält: Hilfsbereitschaft, Aufmerksamkeit, Handeln nach den | |
| eigenen Werten. | |
| Sprache als Widerstand | |
| Eine Menschen liebende Wiederaneignung von [3][Arbeit als Widerstand] | |
| gegen ein System, das ein krankmachendes Verhältnis zur Arbeit | |
| kennzeichnet, erfordert einen kollektiven Systemwandel. Und vielfältige | |
| Widerstandsformen. In der Sprache kann man ansetzen – und in der bewussten | |
| Ruhe. Geißler erlebt sie in einem von der Dramaturgin Stefanie Wenner | |
| angeleiteten, kollektiven Halbschlaf auf Strohballen: kapitalistisch | |
| unverwertbare Zeit als heilend, das Gefühl von Geborgenheit. | |
| Mehr als Halt und Rat spendet Geißlers Buch Resignation und Irritation. | |
| Aber aus der Begegnung mit vielen klugen Stimmen nimmt man auch ein wenig | |
| Mut mit. Und die Einladung, sich mit der Arbeit von sich und anderen | |
| auseinanderzusetzen, immer wieder. | |
| 21 May 2025 | |
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