# taz.de -- Humanitäre Hilfe in der Krise: Bloß eine Mahlzeit am Tag | |
> Pandemie, Extremwetter, Konflikte: Der Bedarf an humanitärer Hilfe | |
> steigt. Gleichzeitig fehlt es an finanziellen Mitteln – mit dramatischen | |
> Folgen. | |
Bild: Bewaffnete Konflikte sind eine Ursache für die Not: Geflüchtete in Nove… | |
BERLIN taz | Nahrungsmittel und Wasser – was für Menschen in den | |
Industriestaaten selbstverständliche Güter sind, ist für Millionen Menschen | |
anderswo ohne Hilfe unerreichbar. Doch obwohl diese Hilfe vergleichsweise | |
wenig kostet, steht es um die Finanzierung angesichts sich ballender Krisen | |
so schlecht wie lange nicht. „Die Bedarfe sind extrem geklettert, die | |
Finanzierung verharrt“, konstatiert Martin Rentsch, Sprecher des | |
UN-Welternährungsprogramms WFP, gegenüber der taz. | |
Dabei waren die Mittel zuletzt gestiegen: Von 2022 an hatten westliche | |
Geber vor allem Zahlungen für die vom russischen Angriff heimgesuchte | |
Ukraine aufgestockt. Doch sowohl diese Sondermittel, also auch Etats zur | |
Bekämpfung der Folgen der Covidpandemie, sind in diesem Jahr ausgelaufen. | |
Weltweit leiden rund 830 Millionen Menschen unter chronischem Hunger. Für | |
das laufende Jahr hat allein das WFP – das nur eines von vielen Hilfswerken | |
ist – seinen Bedarf auf rund 23 Milliarden Dollar beziffert, um 177 | |
Millionen Menschen mit Unterstützung zu erreichen. Das sind 43 Cent pro | |
Person und Tag. Doch kurz vor Jahresende ist klar: Nur etwa 10 der | |
benötigten 23 Milliarden sind zusammengekommen, also 17 Cent pro Person und | |
Tag. Es ist das erste Mal in der gut 60-jährigen Geschichte des WFP, dass | |
zwischen Bedarf und vorhandenen Mitteln eine so große Kluft besteht. | |
Erschwert wird die Arbeit der Helfer:innen dadurch, dass immer neue | |
Konflikte hinzukommen. 2023 sind [1][der Krieg in Gaza] sowie der | |
Bürgerkrieg im Sudan neu aufgeflammt. Rund fünf Millionen Menschen | |
zusätzlich wurden allein in dem afrikanischen Land vertrieben, etwa 20 | |
Millionen der 45 Millionen Einwohner:innen sind auf Hilfe angewiesen – | |
mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. „Für uns stellt sich jedes Mal | |
die Frage: Wo priorisieren wir, wo werben wir neue Gelder ein?“, sagt | |
Rentsch. | |
## Überschuldung infolge der Pandemie | |
Auch die Klimakrise schafft konstant neue Notlagen. In Ostafrika etwa | |
fielen mehrere Regenzeiten in Folge aus, nun plagen extreme Regenfälle die | |
Region. Hinzu kommt, dass sich viele arme Länder während der Pandemie | |
überschuldet haben. Nicht alle können die Schulden bedienen. Eine Folge: | |
Die jeweilige Währung verliert und in nationalen Devisen können noch | |
weniger Güter, etwa für den Lebensmittelimport, auf dem Weltmarkt | |
eingekauft werden. Die Bevölkerung hungert und ist auf Hilfe angewiesen. | |
Doch durch die hohe Inflation ist es für die Hilfsorganisationen immer | |
teurer geworden, Hilfsgüter zu kaufen, auch wenn etwa der Weizenpreis | |
zuletzt wieder stark fiel. Das bevölkerungsreiche Nigeria etwa verzeichnet | |
2023 eine Inflationsrate von rund 19 Prozent, im Jemen sind es fast 44, in | |
Sri Lanka rund 48 Prozent. | |
Im Jahr 2017 lag der Anteil der weltweit Hungernden auf einem historischen | |
Tief von etwa 7,6 Prozent, seither steigt er. Derzeit hat etwa 10 Prozent | |
der Weltbevölkerung nicht genug zu essen. Doch das müsste nicht sein: „Es | |
gibt absolut keinen Grund, warum Menschen heute verhungern sollten“, sagt | |
Brian Lander, der Vizedirektor des WFP. „Es gibt genug Nahrung auf der | |
Welt, um alle zu ernähren.“ | |
Gleichwohl spricht etwa die UN-Ernährungsorganisation FAO in Afrika von | |
einer „beispiellosen Nahrungsmittelkrise“. Der WFP-Landesdirektor für | |
Sudan, Eddie Rowe, sagt, dass vor allem wegen des Krieges nun auch während | |
der Erntesaison von Oktober bis Februar schon Hunger in dem | |
ostafrikanischen Land herrsche. Dabei sei dies die Zeit, in der mehr | |
Nahrungsmittel verfügbar seien. In der im Februar folgenden „mageren Zeit“ | |
vor der nächsten Ernte drohe dann Hunger in katastrophalem Ausmaß. Immer | |
mehr Menschen hätten gerade mal eine Mahlzeit am Tag. „Und wenn sich nichts | |
ändert, besteht ein hohes Risiko, dass sie noch nicht einmal dies haben | |
werden“, ergänzt Rowe. | |
Auch in Teilen Asiens müssen mehr Menschen Hunger leiden als vor der | |
Pandemie. Zuletzt lag der Anteil der Unterernährten in dieser Weltregion | |
bei 8,4 Prozent – das sind 55 Million Menschen mehr als vor Corona. Die | |
Pandemieauswirkungen, hohe Preise für Grundnahrungsmittel, Dünger und | |
Tierfutter sind laut FAO dafür die Ursache. Bewaffnete Konflikte, der | |
Klimanotstand und zusammenbrechende Volkswirtschaften hätten viele Menschen | |
ins Elend gestürzt. Die Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft | |
halte aber nicht mit dem Bedarf Schritt, beklagt der UN-Koordinator für | |
humanitäre Hilfe, Martin Griffiths. | |
## Vorzeichen für 2024 „noch düsterer“ | |
Von den insgesamt von allen UN-Hilfsorganisationen für 2023 benötigten | |
56,7 Milliarden Dollar sei nur ein gutes Drittel zusammengekommen, so | |
Griffiths. Die Folgen sind tragisch: In Afghanistan etwa hätten zwischen | |
Mai und November zehn Millionen Menschen den Zugang zu Nahrungsmittelhilfe | |
verloren. Im Jemen hätten 80 Prozent der Bedürftigen, denen Hilfe in | |
Aussicht gestellt war, weder Wasser noch Toiletten bekommen. In Myanmar | |
hätten anders als geplant keine besseren Unterkünfte für eine halbe Million | |
Vertriebene gebaut werden können. | |
Und 2024 sind „die Vorzeichen noch düsterer“, sagt Martin Rentsch vom | |
Welternährungsprogramm, „Wir erwarten signifikant weniger Geld als 2022.“ | |
Bei vielen großen Gebern ist der finanzielle Spielraum kleiner geworden. | |
Das schwache Wirtschaftswachstum wirkt sich auf die Steuereinnahmen aus. | |
Viele Geberstaaten nehmen weniger Geld ein. | |
In Deutschland wurden bei der Bereinigungssitzung zum Bundeshaushalt im | |
November die Mittel für humanitäre Hilfe noch aufgestockt. Vor allem auf | |
Betreiben der Grünen kamen zunächst 700 Millionen hinzu. Doch kurz darauf | |
folgte der Karlsruher Richterspruch zum Klima- und Transformationsfonds | |
(KTF), [2][der die Ampelkoalition zu Haushaltskürzungen verdonnerte]. Der | |
Entwicklungshilfedachverband Venro geht nun davon aus, dass die jüngsten | |
Vereinbarungen der Ampel zum Haushalt zusätzliche Kürzungen von 400 | |
Millionen Euro beim Entwicklungshilfeministerium (BMZ) und rund 200 | |
Millionen beim Auswärtigen Amt vorsehen. Insgesamt können die beiden | |
Ministerien rund 1,7 Milliarden Euro weniger ausgeben. Für die humanitäre | |
Hilfe bedeute dies ein Minus von etwa 400 Millionen Euro, so Venro. | |
Auch andere Staaten geben weniger – mit absehbaren Folgen: In Afghanistan | |
etwa werden nach Einschätzung der Kinderrechtsorganisation Save the | |
Children rund 16 Millionen Menschen – mehr als ein Drittel der Bevölkerung | |
– bis März von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sein. Fast die | |
Hälfte davon sind Kinder. Das von den Taliban kontrollierte Land habe 2023 | |
dreimal hintereinander die Kürzung der Nahrungsmittelhilfe hinnehmen | |
müssen. Gleichwohl ist Deutschland zweitgrößter Geber in dem Land. | |
Angesichts der absehbaren Zahlungsflaute haben die UN ihre Ziele für 2024 | |
weltweit gestutzt: Sie planen für das kommende Jahr nicht mehr mit Hilfe | |
für 245 Millionen Menschen, sondern nur noch für 181 Millionen. „Wenn wir | |
2024 nicht mehr Hilfe zur Verfügung stellen“, befürchtet Koordinator | |
Griffiths, „werden Menschen dafür mit dem Leben bezahlen“. | |
29 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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