# taz.de -- Zehntausende Afghanen auf der Flucht: „Jetzt sind wir obdachlos“ | |
> Zehntausende Afghanen fliehen aus Pakistan zurück in die von den Taliban | |
> regierte Heimat. Sie stehen dort vor dem Nichts. | |
Bild: Aus Pakistan zurückgekehrte afghanische Flüchtlinge warten auf der afgh… | |
ISLAMABAD taz | „Hier im Flüchtlingslager ist es sehr kalt. Es fehlt an | |
Nahrung, Wasser, Strom, Heizung und medizinischer Hilfe. Die sanitären | |
Bedingungen sind schlecht. Mein sechsjähriger Enkel hat hohes Fieber, aber | |
wir haben keinen Arzt“, sagt der 63-jährige Suleman Khan sorgenvoll. | |
Er ist einer von Zehntausenden Afghanen, die [1][vor dem von der | |
pakistanischen Regierung gesetzten Stichtag] am 31. Oktober „freiwillig“ | |
nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Seine 17 Familienmitglieder, darunter | |
seine fünf Kinder und sieben Enkel, leben jetzt erstmal alle in einem | |
Flüchtlingslager, das Afghanistans Behörden auf ihrer Seite der Grenze | |
provisorisch errichtet haben. | |
Sulemans Familie gehört zu Millionen von Afghanen, die in den letzten | |
Jahrzehnten nach Pakistan geflohen sind und es zu ihrer neuen Heimat | |
gemacht haben. Sie haben dort einen Großteil ihres Lebens verbracht, | |
sollten jetzt aber plötzlich wieder nach Afghanistan zurückkehren. | |
„Meine Frau und ich sind 1991 nach Pakistan geflohen, um der Brutalität der | |
Taliban zu entkommen, ohne zu wissen, dass jetzt unsere Enkel das gleiche | |
Schicksal erleiden, dem wir entkommen konnten“, sagt Suleman. | |
## Die ersten Jahre waren besonders hart | |
„Unsere ersten Jahre in Pakistan waren sehr hart. Wir stammen beide aus | |
wohlhabenden Familien in Afghanistan, aber in Pakistan arbeitete meine Frau | |
als Hausmädchen, wusch Geschirr und schrubbte Böden bei Nachbarn in | |
Karatschi. Ich arbeitete als Aushilfe auf dem Bau, schleppte Eisen, Ziegel | |
und Zementsäcke,“ berichtet er. „Wir ertrugen die Entbehrungen, weil wir | |
auf eine bessere Zukunft hofften. Wir arbeiteten härter und öffneten | |
schließlich einen kleinen Kleiderladen. Der entwickelte sich zu einem | |
Zwischenhandel. Unser Leben verbesserte sich allmählich, wir schauten stets | |
nach vorn. Aber jetzt bin ich als Großvater nach 32 Jahren wieder ein | |
Flüchtling.“ | |
Am 3. Oktober [2][forderte Pakistans Regierung 1,7 Millionen „illegale“ | |
afghanische Flüchtlinge auf, freiwillig Pakistan zu verlassen]. Sonst droht | |
Abschiebung. Schon vor dem Stichtag 1. November gingen 200.000 von ihnen | |
nach Afghanistan zurück, darunter viele, deren Familien schon Jahrzehnte in | |
Pakistan lebten. | |
Laut Behörden gehe es nur um Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus. Aber | |
Berichten zufolge werden auch Familien mit gültigen Papieren zur Ausreise | |
gedrängt oder in Abschiebehaft genommen. | |
So hat Muhammad Salehs Familie alle legalen Papiere, aber trotzdem | |
beschlossen zu gehen, nachdem die Polizei in Karatschi den 17-jährigen Sohn | |
festgenommen hatte. Denn obwohl er Aufenthaltspapiere vorweisen konnte, saß | |
er zwei Tage auf der Polizeiwache ein, was ihn zum Verlassen des Landes | |
trieb. | |
„Es ist besser, zu verhungern und zu sterben, als unter falschen | |
Anschuldigungen diskriminiert und festgenommen zu werden“, schimpft Saleh. | |
„Ich bin in Pakistan mehrfach diskriminiert worden. Jedes Mal, wenn es in | |
unserer Gegend ein Verbrechen gab, durchsuchte die Polizei unser Haus. | |
Manchmal saßen wir tagelang ohne Anklage im Gefängnis. Genug ist genug.“ | |
## „Die Kinder wissen nicht, wie das Leben in Afghanistan ist“ | |
„Wir mussten unser Haus und Geschäft für weniger als die Hälfte ihres | |
Wertes verkaufen. Ich weiß nicht, ob es in Afghanistan Arbeit oder | |
Geschäftsmöglichkeiten gibt. Wir haben Pakistan zu unserer Heimat gemacht | |
und sind jetzt obdachlos. Schrecklich! Ich mache mir Sorgen um meine | |
15-jährige Tochter, die sich im letzten Schuljahr befindet. In Afghanistan | |
wird sie nicht mehr zur Schule gehen können. Meine Kinder waren noch nie in | |
Afghanistan und wissen nicht, wie das Leben dort ist“, sagt Saleh. | |
Obwohl Pakistans Behörden behaupten, ältere Menschen, Kinder und Frauen | |
würden sorgfältig behandelt, kursieren in den sozialen Medien Aufnahmen von | |
siebenjährigen Kindern in Abschiebezentren. | |
[3][Pakistans Entscheidung, Afghanen abzuschieben,] stößt auf heftige | |
Kritik. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) warnt vor einer humanitären | |
Katastrophe im nahenden Winter und angesichts der Wirtschaftskrise in | |
Afghanistan. Millionen Menschen seien gefährdet. | |
Viele, die nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul 2021 nach Pakistan | |
geflohen sind, haben keine gar Aufenthaltspapiere bekommen. Denn die | |
Behörden waren mit so vielen Flüchtlingen überfordert und gaben Papiere | |
auch deshalb oft nur gegen Bestechungsgelder raus. | |
## Taliban: Pakistan soll „inakzeptables“ Vorgehen überdenken | |
Für die jetzt geplanten Ausweisungen hat Pakistans Innenministerium | |
Abschiebelager in allen Landesteilen eingerichtet. Die afghanische | |
Taliban-Regierung fordert Pakistan auf, sein „inakzeptables“ Vorgehen zu | |
überdenken. | |
Der Taliban-Flüchtlingsminister, Khalil Haqqani, hat Pakistans Behörden um | |
mehr Zeit gebeten zur Registrierung der Rückkehrer, ihrer Aufnahme in | |
provisorische Lager und um für sie Arbeitsplätze zu finden. Denn beim | |
Grenzübergang Torkham am Khyber-Pass stauen sich die Lastwagen voller | |
Afghanen mit ihren Hausständen. Die Menschen wissen nicht, was sie | |
erwartet. | |
Übersetzung aus dem Englischen von Sven Hansen | |
6 Nov 2023 | |
## LINKS | |
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[2] /Pakistan-weist-Gefluechtete-aus/!5967051 | |
[3] /Pakistans-Kurswechsel-gegen-Fluechtlinge/!5962375 | |
## AUTOREN | |
Zahra Kazmi | |
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