# taz.de -- Lech Wałęsa gewinnt in Straßburg: Desaster für die polnische Ju… | |
> Nach dem EGMR-Urteil zugunsten von Wałęsa muss Polen sein mangelhaftes | |
> Gerichtswesen in Ordnung bringen. Er hatte gegen die Republik Polen | |
> geklagt. | |
Bild: Der Friedensnobelpreisträger Lech Wałęsa, hier bei einer Demonstration… | |
WARSCHAU taz | [1][Lech Wałęsa], der einstige | |
Solidarność-Gewerkschaftsführer, Friedensnobelpreisträger und Präsident | |
Polens, hat vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) in | |
Straßburg seinen Prozess gegen die Republik Polen gewonnen. Die Richter | |
bestätigten am Donnerstag die Vorwürfe des Klägers. Der polnische Staat | |
habe Wałęsa nicht nur das Recht auf einen fairen Prozess, sondern auch das | |
Recht auf seine Privatsphäre verweigert. Die Gründe für diese Verfehlungen | |
seien in einem mangelhaft strukturierten Gerichtswesen zu suchen. | |
Dies habe es der Staatsführung (unter der nationalpopulistischen | |
Morawiecki-Regierung, Anm. d. Autorin) ermöglicht, politische Ziele auf dem | |
Gerichtswege durchzusetzen. Das Gericht sprach Wałęsa 30.000 Euro | |
Entschädigung zu. Zugleich forderte es die Regierung Polens auf, [2][die | |
Missstände im Gerichtswesen] unverzüglich zu beheben. | |
Zbigniew Ziobro, bis Ende 2023 Generalstaatsanwalt und Justizminister in | |
einer Person, hat als Hauptschuldiger das „mangelhafte Gerichtswesen in | |
Polen“ zu verantworten. Er kommentierte das Straßburger Urteil [3][auf der | |
Plattform X]: „Der EGMR wollte Lech Wałęsa so sehr vom Vorwurf der | |
Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Geheimdienst (SB) freisprechen, dass | |
er selbst das Recht und die Europäische Menschenrechtskonvention gebrochen | |
hat.“ Unter den urteilenden Richtern des EGMR müsse auch einer aus dem | |
beklagten Staat sein. „Aber“, so Ziobro weiter, „statt eines Polen wählte | |
man einen Griechen, so dass niemand das Femegericht daran hindern können | |
sollte, Polen schuldig zu sprechen.“ | |
Dass der polnische Richter sich vor der Urteilsverkündung selbst | |
zurückgezogen hatte, erwähnte Ziobro nicht. Der griechische Richter, der | |
kurzfristig für den Polen einsprang, musste sich unter großem | |
Arbeitsaufwand erst in die schwierige Materie einarbeiten, bevor er am | |
Urteil mitwirken konnte. | |
## PiS hält das Urteil für rechtswidrig und nicht verpflichtend | |
„Das heutige Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes ‚Wałęsa | |
gegen Polen‘ ist rechtswidrig und hat keine verpflichtende Kraft“, hieß es | |
noch einen Ton schärfer auf der Website des von Ziobro geleiteten | |
Justizministeriums. „Der EGMR negiert ohne jede Grundlage die Legalität des | |
Landesjustizrates (KRS) und des Obersten Berufungsgerichts in Polen, bricht | |
aber selbst die Regeln des internationalen Rechts“. | |
Der Landesjustizrat, den Ziobro so sehr verteidigt, ist [4][das Kernproblem | |
des polnischen Gerichtswesens]. 2018 hatte die nationalpopulistische Recht | |
und Gerechtigkeit (PiS) den alten Landesjustizrat (KRS) aufgelöst und durch | |
ein politisches Organ ersetzt, das ebenfalls „Landesjustizrat“ genannt | |
wurde. Das Richtergremium entschied bis 2018 als ein unabhängiges Gremium | |
der Judikative über Neubesetzungen von Richterstellen an allen Gerichten | |
Polens. Die PiS entließ widerrechtlich alle dort arbeitenden Richter und | |
schuf einen „Neo-Landesjustizrat“, wie ihn die demokratische Opposition | |
nannte, in dem durch ein ausgeklügeltes Entsende- und Wahlverfahren | |
politischer Institutionen fast nur noch PiS-loyale Richter saßen. | |
Diese setzten dann „Neo-Richter“ auf die freiwerdenden Richterstellen. Da | |
diese aber laut polnischer Verfassung keine korrekt ernannten Richter sind, | |
kann jedes Urteil angefochten werden, an dem ein solcher „Neo-Richter“ | |
beteiligt war. Die inzwischen über 3.000 Neo-Richter dürften bereits | |
hunderttausende Urteile gefällt haben. Viele Prozessverlierer klagen nun – | |
durchaus mit Aussicht auf Erfolg – vor dem Straßburger EGMR. | |
Ziobro und Polens Präsident Andrzej Duda hatten sich aber bereits 2017 ein | |
„Sonderüberprüfungsrecht“ ausgedacht, das es Ziobro ermöglichte, das | |
rechtskräftige Urteil in einem Verleumdungsprozess anzufechten, den Lech | |
Wałęsa 2011 gewonnen hatte. Hier kam nun die von Ziobro angerufene „Kammer | |
für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten“ am | |
Obersten Berufungsgericht ins Spiel. Die „Neo-Richter“ dieser Kammer hoben | |
das rechtskräftige Urteil auf, so dass Wałęsa erneut öffentlich als | |
„[5][Spitzel des kommunistischen Geheimdienstes]“ verleumdet werden konnte. | |
Der EGMR qualifizierte dies als politische Justiz und forderte die Republik | |
Polen auf, die Missstände im polnischen Gerichtswesen umgehend abzustellen | |
und zu korrigieren. Dies wird nun Aufgabe [6][der künftigen Regierung | |
sein], die anders als Ziobro das Straßburger Urteil anerkennt und dessen | |
Forderungen umsetzen will. | |
24 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Lech-Wasa-wird-80/!5963175 | |
[2] /Disziplinierung-der-Justiz-in-Polen/!5652033 | |
[3] https://twitter.com/ZiobroPL/status/1727745628581552353 | |
[4] /Polnische-Regierung-wehrt-sich/!5787048 | |
[5] /Vergangenheitsbewaeltigung-in-Polen/!5276489 | |
[6] /Parlamentswahl-in-Polen/!5963777 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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