# taz.de -- Lech Wałęsa wird 80: Der große Freiheitsheld Polens | |
> Der Arbeiterheld, Friedensnobelpreisträger und Ex-Staatspräsident wird 80 | |
> Jahre alt. Er demonstriert wieder für Demokratie und Freiheit in Polen. | |
Bild: Lech Wałęsa von der Gewerkschaftsbewegung Solidarność im Februar 1981 | |
WARSCHAU taz | Der große Schnauzbart ist sein Markenzeichen, einst | |
dunkelbraun, heute schneeweiß. Es gibt sogar ein Plakat, das nur die | |
Umrisse seines Gesichtes und eben diesen Schnauzbart zeigt: Lech Wałęsa, | |
der große Freiheitsheld Polens, wird am Freitag 80 Jahre alt. Ohne seinen | |
Mut, erst als Elektriker auf der Lenin-Werft in Danzig, als Anführer der | |
Gewerkschaft Solidarność und Friedens-Nobelpreisträger, und schließlich | |
auch als Staatspräsident Polens, sähe Europa heute völlig anders aus. Ohne | |
ihn wäre es wohl nicht zur Wiedervereinigung Deutschlands gekommen. | |
Daher ist es kein Wunder, dass der deutsche Bundespräsident Frank-Walter | |
Steinmeier als erster Staatsmann gratuliert: „Deutschland und Europa haben | |
Ihnen viel zu verdanken“, schrieb Steinmeier in seinem am Donnerstag | |
veröffentlichten Glückwunsch. „Die Zivilcourage der Polen hat viele | |
Menschen in der damaligen DDR zu [1][Demonstrationen gegen das SED-Regime | |
ermutigt], die schließlich zum Fall der Mauer und zur deutschen Einheit | |
geführt haben“, so der Bundespräsident. | |
Bis heute [2][verehrt] wird Wałęsa aber vor allem in Übersee. Denn für | |
viele US-Amerikaner verkörpert er den amerikanischen Traum „vom | |
Tellerwäscher zum Millionär“. Polen scheint wie die USA ein „Land der | |
unbegrenzten Möglichkeiten“ zu sein. Wałęsa reist auch immer wieder gern in | |
die USA, um dort Vorträge zu halten oder als Zeitzeuge vom Kampf für | |
Freiheit, Demokratie und Frieden im ehemaligen Ostblock zu berichten. Als | |
„elder statesman“ irgendwo in einen internationalen Thinktank einzusteigen | |
und dort gegen ein gutes Salär Politikberatung zu machen, war allerdings | |
nicht seine Sache. | |
Sein Herz hängt dann doch zu stark an Polen, und hier hätte er auch gerne | |
noch einmal eine größere politische Rolle gespielt. Doch die meisten Polen | |
wollen das auf keinen Fall, sind ihnen doch die Jahre 1990 bis 1995, in | |
denen Wałęsa Staatspräsident war, in keiner guten Erinnerung. | |
## Der Weg zur Präsidialdemokratie | |
In der Wendezeit von einem kommunistischen zu einem demokratischen Staat | |
orientierte sich Wałęsa an Frankreich und vergraulte während der intensiven | |
Verfassungsdebatten die Anhänger einer parlamentarischen Demokratie. Sie | |
wollten den Sejm, das polnische Abgeordnetenhaus, und den Senat, die zweite | |
Parlamentskammer, zur Machtzentrale der III. Polnischen Republik machen. | |
Doch Wałęsa wollte das Gros der Machtfülle für sich selbst und warb in zum | |
Teil autoritärem Stil für die Präsidialdemokratie mit einem sehr starken | |
Präsidenten an der Spitze des Staates. | |
Die neue Verfassung Polens, die nach einem Referendum im April 1997 | |
verabschiedet wurde, stellt einen Kompromiss dar, der bis heute immer | |
wieder für Konflikte sorgt. Denn die Kompetenzen des polnischen Präsidenten | |
sind nicht genau definiert und müssen nach jedem Machtwechsel neu | |
austariert werden. | |
## Kampf um Freiheit und Demokratie | |
Mit der [3][Gewerkschaft Solidarność], die seit 1980 stetig wuchs und am | |
Ende rund zehn Millionen Mitglieder zählte, errang Wałęsa epochale Erfolge | |
im Kampf um Freiheit und Demokratie. Dabei fing alles mit einer Frikadelle | |
an. | |
Die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei (PVAP) hatte die Fleischpreise | |
hochgesetzt, um die durch Misswirtschaft entstandenen Versorgungsengpässe | |
in den Griff zu bekommen. Die Wut der Arbeiter über die teuren Frikadellen | |
und die selbstherrlichen Parteientscheidungen steigerte sich von einem | |
ersten Streik zu Massenstreiks entlang der ganzen Ostseeküste und dann zu | |
Solidaritätsstreiks in Unternehmen und Fabriken in ganz Polen. | |
Wałęsa, der als Sohn einfacher Bauern nur die Volksschule und dann eine | |
Berufsschule absolviert hatte, öffnete sich gegenüber Beratern aus | |
Warschau, Krakau und Danzig. Am 31. August 1980 unterzeichnete er mit einem | |
PVAP-Repräsentanten das sogenannte Danziger Abkommen, das den Sturz des | |
kommunistischen Systems in Polen und dann der meisten anderen Regime des | |
damaligen Ostblocks zur Folge haben sollte. | |
Doch bis zu den ersten halbfreien Wahlen am 4. Juni 1989 gingen noch neun | |
lange Jahre ins Land. 1981 rief General Jaruzelski noch das Kriegsrecht in | |
Polen aus, ließ Wałęsa und hunderte seiner Mitstreiter verhaften, übernahm | |
die erste Präsidentschaft des neuen Polens – und gab schlussendlich die | |
Macht doch ab, ohne jedes Blutvergießen. Das war das Verdienst von Wałęsa. | |
## Wałęsa demonstriert erneut für Freiheit und Demokratie | |
Als in diesem Jahr im Juni Oppositionsführer Donald Tusk von der | |
liberalkonservativen Bürgerplattform [4][zu einer großen | |
Freiheitsdemonstration] gegen die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit | |
(PiS) und in Erinnerung an den 4. Juni 1989 aufrief, kam auch Lech Wałęsa | |
aus Danzig nach Warschau. Rund eine halbe Million Menschen, so viel wie | |
seit 1989 nicht mehr, kamen aus ganz Polen zu dieser | |
Freiheitsdemonstration. Am kommenden Sonntag, dem 1. Oktober, wird Wałęsa | |
wieder nach Warschau reisen, dieses Mal zur „Demonstration von einer | |
Million Herzen“. | |
Wieder lädt die oppositionelle PO ein, deren Mitglieder wie auch diejenigen | |
der PiS einst zur Solidarność gehörten. Doch die Gewerkschaft hat sich | |
schon lange auf die Seite der PiS geschlagen, die wiederum gerne behauptet, | |
dass Tusk und die PO-Anhänger bei den großen Streiks in den 1980er Jahren | |
auf Seiten der prügelnden Milizja gestanden habe. | |
Es ist der PiS sogar gelungen, Wałęsa als „Verräter“ zu diffamieren und | |
seinen Namen aus Schulbüchern tilgen zu lassen. Der Elektriker von der | |
Danziger Lenin-Werft, der den Eisernen Vorhang zwischen West- und Osteuropa | |
zerriss und es bis zum Staatspräsidenten in einem freien und demokratischen | |
Polen brachte, gehört der Solidarność schon lange nicht mehr an. | |
Doch nach seinem 80. Geburtstag, wo sicher Glückwünsche und Danksagungen | |
aus aller Welt bei ihm eintreffen werden, wird er am 1. Oktober noch einmal | |
für Freiheit und Demokratie in Polen demonstrieren – an der Seite von | |
Donald Tusk und vielleicht zusammen mit einer Million Polen und Polinnen, | |
die mit ihm rufen werden: „ Zwyciężymy!“ – „Wir werden siegen!“ | |
29 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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