# taz.de -- Hamburger Ausstellung über Sami-Kultur: Verzweifelte Selbstermäch… | |
> Die Ausstellung „Sami Horizonte“ in Hamburgs ethnografischem Museum | |
> erzählt von nordischem Kolonialismus. Was fehlt, sind dessen aktuelle | |
> Ausprägungen. | |
Bild: Selbstermächtigung: Annika Dahlsten und Markku Laaks 2011 vor einem alte… | |
Es macht einen Unterschied, ob man etwas in Stein ritzt oder klopft. Wer | |
ritzt, kratzt an der Oberfläche. Wer klopft, der fragt: Wer oder was ist da | |
drin, und wie können wir kommunizieren? Die Sami haben ihre Symbole | |
traditionell in Steine geklopft. Es war die rituelle Wiederholung des | |
Klopfens aufs schmelzende Eis im Frühjahr. Dann konnten die Rentiere aus | |
den schützenden Wäldern auf die Sommerweiden geführt werden, Hunderte | |
Kilometer weit. Das Rentierjahr für die ZüchterInnen begann. | |
Sie klingt sehr fern, diese Erzählung, dabei ist sie teils noch real: Etwa | |
15 Prozent der 70.000 der in Norwegen, Schweden, Finnland und Russland | |
lebenden Sami züchten zumindest teilberuflich noch Ren. Manche beherbergen | |
nebenbei Touristen, denn lukrativ ist die Zucht nicht mehr, seit die | |
Weidegründe durch Industrialisierung und Verstädterung kleiner wurden. | |
Und das geschah peu à peu im Zuge des – immer noch wenig bekannten – | |
nordischen Kolonialismus: Zunächst unterteilte man die samischen | |
Sippenverbünde in klar abgezielte Dörfer, um sie besser zu kontrollieren. | |
Die Grenzen der seit dem 17. Jahrhundert gegründeten Nationalstaaten | |
schließlich zerschnitten den Lebensraum der Nomaden, erschwerten den Zugang | |
zu Sommer- und Winterweiden. Ende des 19. Jahrhunderts blühte dann auch in | |
Nordeuropa die [1][Rassentheorie] – mit brutalen Folgen. Lebende und tote | |
Sami wurden vermessen, Gebeine in Museen und Labors verschleppt. Man wollte | |
beweisen, dass sie einer weniger entwickelten Kulturstufe angehörten. Sehr | |
gelungen thematisiert das die seit Juni laufende, mit zeitgenössischer | |
Kunst bestückte Parallel-Ausstellung im Hamburger Kunsthaus, [2][„Speaking | |
Back“]. | |
## Rassismus mit Folgen | |
Der staatliche Rassismus hatte Folgen: Samische Kinder wurden in | |
norwegische Internate gezwungen, Landverkauf an Sami verboten. Ihre | |
Schamanenrituale und die bunten Trachten hatten schon die Missionare des | |
Mittelalters als „sündig“ denunziert, heilige Trommeln verbrannt, die hohen | |
Frauenhüte (Ladjo) als „Teufelshorn“ gebrandmarkt. Als dann auch noch die | |
pietistische Erweckungsbewegung des Laestadianismus im 19. Jahrhundert Fuß | |
fasste und die Ladjo „Satanszeichen“ nannte, trug sie niemand mehr. | |
Andererseits wurden – auch das gängige koloniale Praxis – | |
kunsthandwerkliche Objekte für Museen gesammelt, als wolle man Relikte der | |
Kultur, zu deren Aussterben man beitrug, wenigstens als exotisches, sogar | |
ästhetisches Beispiel präsentieren. | |
Einer der deutschlandweit größten Bestände an Sami-Objekten liegt im | |
Hamburger Museum Kulturen und Künste der Welt (Markk). Die meisten eignete | |
sich der Hamburger Ethnografica-Händler Julius Konietzko zwischen 1911 und | |
1916 auf seinen Reisen an, weitere der Arzt und überzeugte | |
Nationalsozialist Ludwig Kohl-Larsen. Manches erwarben sie unter Wert, | |
anderes stahlen sie; Konietzko soll sogar Ritualorte aufgesucht und Gräber | |
geplündert haben, um die von Museen und Labors „bestellten“ Gebeine zu | |
bekommen. Und wie schon in den Ausstellungen [3][„Wasserbotschaften“] und | |
[4][„Lose Enden“] resultiert die aktuelle Markk-Schau „Das Land spricht. | |
Sami Horizonte“ aus einer Depot-Recherche gemeinsam mit KünstlerInnen und | |
ForscherInnen der betroffenen Kultur. | |
Daraus ist ein Dialog entstanden, der sehr klar den – zumal ökologischen – | |
Abstand zwischen der traditionellen Sami-Kultur und der Moderne zeigt: Da | |
hängt eine Wiege aus Holz, da steht ein Paar Schuhe aus Rentierfell in der | |
Vitrine. Daneben aktuelle Fotos von Marja Helander aus dem nordschwedischen | |
Kiruna. Dort errichtete man 1888 auf Sami-Gebiet eine der weltgrößten | |
Eisenerz-Minen und baute eine Stadt dazu. Demnächst wird Kiruna zugunsten | |
weiterer Abbauflächen verlegt. Die von den Jobs abhängigen BewohnerInnen | |
protestieren nicht, und die Sami wurden nicht gefragt. | |
Versmogt wirkt die Stadt auf den Fotos, verletzt und aufgerissen die Erde. | |
Auf dem Bild daneben stapft eine Samin in Tracht unter riesigen | |
Stromleitungen durch den Schnee. Steht sie für das letzte Wort oder für das | |
erste, für eine Selbstermächtigung? Wird das Land wieder sprechen, wie es | |
der Ausstellungstitel nahelegt? | |
Sie sei wütend darüber, was aus ihrem Land gemacht worden sei, sagt eine | |
Sami in einem Video von Sissel Bergh. „Wir sind noch da“ lautetet die | |
Botschaft, und das erzeugt Kraft: Jahrelang, von 1968 bis 1982, gab es | |
Proteste und Prozesse von Sami und Umweltschützern gegen den Bau eines | |
Wasserkraftwerks am Alta-Flusslauf in Nordnorwegen. | |
Gebaut wurde das Kraftwerk trotzdem, aber die Sami gingen gestärkt aus dem | |
Konflikt hervor: 1987 wurde das norwegisch-samische Parlament eröffnet, | |
gebaut in Form eines Sami-Zeltes. In Finnland gab es das seit 1973, | |
Schweden folgte 1993, Russland 2010. Ein langwieriger Prozess. | |
Für manche vielleicht überraschend: Auch die Deutschen haben in diesem | |
Zusammenhang einiges aufzuarbeiten. Denn Sami waren 1875 die erste Gruppe, | |
die bei [5][Hagenbecks „Völkerschauen“] auftraten – angeworben von windi… | |
Agenturen, die Geld für die Tourneen boten. Einige Familien gingen mit, aus | |
Not. Für Tierparkbetreiber Hagenbeck ein reines Geschäftsmodell. „Schön | |
konnte man unsere Gäste gerade nicht nennen“, schrieb er 1908 in seiner | |
Abhandlung „Von Tieren und Menschen. Erlebnisse und Erfahrungen“: „Ihre | |
Hautfarbe ist ein schmutziges Gelb, der runde Schädel ist mit straffem, | |
schwarzen Haar bewachsen, die Augen stehen ein wenig schief, die Nase ist | |
klein und platt.“ | |
## Selbstermächtigung im Nachhinein | |
Im Markk liegt ein in Hagenbecks Archiv gefundener Vertrag, daneben die | |
einzigen erhaltenen Aufzeichnungen eines Teilnehmers; als Zehnjähriger habe | |
er die Reise durchaus als Abenteuer empfunden, schrieb Trygve Danielsen | |
viele Jahre später. Gegen Ende der Tournee habe der Chef allerdings weniger | |
gezahlt und sei dann verschwunden, sodass die Eltern auf eigene Faust nach | |
Norwegen zurückkehren mussten. | |
An der Museumswand gegenüber hängen Fotos, auf denen die KünstlerInnen | |
Annika Dahlsten und Markku Laakso in Sami-Tracht vor den Hagenbeck'schen | |
Gehegen posieren, in denen ihre Vorfahren einst „arbeiteten“. Aber die | |
Nachfahren stehen nicht mehr im Gehege, sondern davor, sind zu | |
selbstbewussten AkteurInnen geworden. | |
## Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln | |
Überhaupt besinnen sich junge Sami zunehmend auf ihre Wurzeln, suchten alte | |
Kunsthandwerk-Techniken zu lernen, vor allem die Fertigung der Ladjo-Hüte. | |
Aber wie herankommen an das alte Wissen? Outi Pieskis hat ein Video | |
gedreht, auf dem ihre Tochter, die Tänzerin Biret Haarla Pieski, ein Ladjo | |
festhält, dreht, wendet – und lauscht. Vom Sissel-Bergh-Video nebenan | |
erklingt derweil der alte samische [6][Joik-Gesang], von Missionaren vor | |
300 Jahren als „heidnisch“ verboten und heute unter anderem von der | |
Norwegerin [7][Mari Boine] wieder populär gemacht. | |
Aber die Botschaft von Ladjo und Joik ist fern und leise; die Ideologie des | |
Wirtschaftswachstums hat alles übertönt. Dass genau dessen Folgen – etwa | |
die Bedrohung der Rentierzucht durch den Klimawandel – in der Ausstellung | |
ausgespart werden, irritiert. Auch erfährt man im Markk nicht, dass das | |
oberste norwegische Gericht 2021 entschied, dass der landesweit größte | |
[8][Windpark] auf Sami-Gebiet illegal gebaut wurde. Da aber der Abriss | |
unterblieb, gab es im März 2023 neue Proteste der Sami in Oslo. Die | |
Regierung entschuldigte sich und erstrebt nun ein „Nebeneinander“ von | |
Rentierzucht und Windpark. | |
Auch im Schweden dräut Unheil: Im Februar 2023 gab der Bergbaukonzern LKAB | |
die Entdeckung des bisher größten europäischen Vorkommens [9][seltener | |
Erden in Kiruna] bekannt. Für die Sami bedeute die Öffnung der neuen Mine | |
„womöglich das Ende ihrer traditionellen Rentierzucht sowie ihres | |
halb-nomadischen Lebens in der Region, denn dadurch würde die letzte | |
jahrhundertealte Route entfallen“, [10][schreibt die Gesellschaft für | |
bedrohte Völker]. | |
Ihr Land, so scheint es, werden die Sami also nicht retten können. Wohl | |
aber ihre Identität, ihre Kunst, ihren Respekt vor der Natur. | |
27 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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