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# taz.de -- Debütroman von Eva Reisinger: Endlich keine Angst mehr
> Wenn weibliche Rachefantasien ausgelebt würden: Im Roman „Männer töten“
> geht es um einen fiktiven Ort in Österreich, in dem genau das passiert.
Bild: Männer töten als Akt der Befreiung? Reisinger wagt das Gedankenexperime…
Ein Ort, an dem es keine häusliche Gewalt gibt, keine Sexualdelikte, keine
Femizide. Das klingt so traumhaft, buchstäblich zu schön, um wahr zu sein.
Eine, die dieser Utopie Gestalt verleiht, ist die österreichische Autorin
Eva Reisinger. Engelhartskirchen heißt dieses von Reisinger imaginierte
Fleckchen Erde, das sie im oberösterreichischen Nichts verortet und in dem
der Großteil ihres Debütromans „Männer töten“ spielt.
Hier lebt Anna Maria erst seit Kurzem, zu Beginn des Romans noch nicht um
die Besonderheit des Dorfes wissend. Aus ihrer vorigen Wahlheimat Berlin
ist sie zu Hannes gezogen, der hier auf dem Land auf einem Bauernhof
aufgewachsen ist.
Es ist ein Hof mit Vieh, das viel Arbeit macht und die beiden Liebenden
tagsüber voneinander trennt. Die Beziehung der beiden wirkt nicht
sonderlich aufregend, nicht mal außergewöhnlich innig. Ein bisschen
pragmatisch vielleicht, aber, und das wird im Verlaufe des Romans deutlich,
lässt sie auch jegliche Form der Angst vermissen.
„Wir alle stellen es uns manchmal vor. Wir stellen uns Fragen. Fragen wie:
Was wäre, wenn?“, steht im Prolog von Reisingers Roman. „Wie es sich
anfühlen würde“, das Leben ohne Angst, ist es, was die Autorin hier
imaginiert. Doch diesem angstfreien Leben geht etwas vorher – etwas, das
der Romantitel bereits anklingen lässt. Ob er betteln und weinen würde,
fragt Reisinger weiter, „sich schämen. Schämen, wie du es getan hast. Ob er
sich wehren würde. Wehren, wie du es nicht getan hast.“
## Klima der Gewalt
Nach und nach kristallisiert sich heraus, was Frauen in Anna Marias Umfeld
angetan wurde, was ihr selbst angetan wurde. Und wie diese Erlebnisse die
Gewalt ausführenden Männer nicht tangieren, das Leben der Frauen aber von
Grund auf verändert.
Dabei ist es nicht immer physische Gewalt, die die Frauen hier erfahren,
auch Manipulation, Eifersucht und verbale Übergriffigkeit markiert
Reisinger als gefährlich. Denn sie gehen mit einem patriarchal geprägten
Besitzanspruch des Mannes über die Frau einher und begünstigen nicht selten
ein Klima der Gewalt.
Reisingers Buchtitel lässt sich auf unterschiedliche Weise interpretieren.
Dass Männer töten, ist allgemein bekannt und [1][wird doch gern ignoriert].
In Österreich und Deutschland wird jeden dritten Tag eine Frau getötet,
meist durch ihren (Ex-)Partner. Auch gilt für beide Länder, dass etwa jede
dritte Frau dort in ihrem Leben mindestens einen körperlichen und/oder
sexualisierten Übergriff erlebt.
## Ein Titel, zwei Interpretationen
Dem Thema geschlechtsspezifische Gewalt und Femizid näherte sich die 1992
geborene Reisinger zunächst auf journalistischem Wege. Sie „schrieb
Features, sprach mit Expert*innen, erklärte Statistiken und betonte die
Forderungen“, erklärt sie auf Instagram ihren Weg zum ersten Roman.
Irgendwann habe sie ihre eigenen Sätze nicht mehr lesen können, heißt es
dort weiter. So sei die Idee gekommen, sich dem Thema durch einen anderen
Zugang zu nähern.
Die Romanform ermöglichte es Reisinger zu imaginieren, wie eine angstfreie
Welt für weiblich gelesene Personen aussehen könnte. Dadurch eröffnet sich
eine zweite Interpretation des Buchtitels: Statt sich ihrem Schicksal zu
ergeben, begehren die Frauen bei Reisinger auf. Sie schließen sich
zusammen, um sich zu rächen, für eine Art der Gerechtigkeit zu sorgen, die
ihnen staatliche Institutionen nicht gewähren – da sie durchzogen sind von
einer im Patriarchat normalisierten Rape Culture.
„Ich habe kein Buch über ein Matriarchat geschrieben, in dem ich gerne
leben würde“, stellt Reisinger im Interview mit Edition F klar.
Engelhartskirchen wie seine Bewohner*innen seien viel eher ein
Gedankenexperiment, wie es aussehen könnte, würden Rachefantasien
ausgelebt.
## Figuren lassen etwas an Tiefe vermissen
Dass Engelhartskirchen in Oberösterreich liegen soll, dürfte kein Zufall
sein, ist es doch das Bundesland, in dem die Autorin aufgewachsen ist und
dem bereits ein prominenter Platz in ihrem [2][ersten Buch „Was geht
Österreich?“] zuteilwird. Auch Berlin dürfte nicht von ungefähr eine Rolle
spielen: Wie ihre Protagonistin blickt auch Reisinger auf eine Zeit in der
bundesdeutschen Hauptstadt zurück, wo sie beim Zeit Online-Magazin ze.tt
als Redakteurin und Fachfrau in Sachen Österreich arbeitete.
Reisingers Sprache merkt man zuweilen an, dass „Männer töten“ ihre erste
belletristische Veröffentlichung ist. Etwas unsicher sucht sie noch ihre
eigene literarische Sprache. Auch ihre Figuren, obwohl interessant, lassen
noch an Tiefe vermissen. So sind die Freund*innen Anna Marias, Evîn und
Yama, die aus Berlin angereist kommen, oder Hannes’ Mutter Traudi und
Engelhartskirchens inoffizielle Pfarrerin Helga zwar spannende Charaktere,
die 288 Seiten reichen jedoch nicht ganz, um ihnen eine wiedererkennbares
Profil zu verpassen.
Dennoch lässt sich „Männer töten“ nicht einfach weglegen. Mit der
Beschreibung weiblicher Wut über herrschende Umstände, der Reisinger im
Buch einen prominenten Platz einräumt, reiht sie sich ein in [3][einen
Kanon wichtiger österreichischer Autor*innen] wie Elfriede Jelinek und
Mareike Fallwickl. Dabei beschränkt sich Reisinger nicht nur auf das bloße
Beschreiben: Durch die Welt, die sie kreiert, ermöglicht sie einen
Perspektivwechsel, der das System, in dem wir leben, hinterfragt und so
nicht nur auf weibliche Leser*innen erfrischend wirkt.
29 Aug 2023
## LINKS
[1] /Femizide-in-Hamburg/!5954365
[2] /Debatte-um-sexualisierte-Gewalt/!5606491
[3] /Feministische-Literatur-in-Oesterreich/!5927513
## AUTOREN
Sophia Zessnik
## TAGS
Schwerpunkt #metoo
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