# taz.de -- Feministische Literatur in Österreich: Die beredte Wut der Autorin… | |
> Als progressiv und selbstkritisch möchte sich Österreich als Gastland der | |
> Buchmesse präsentieren. Viele Schriftstellerinnen nehmen diesen Anspruch | |
> ernst. | |
Bild: Fürsorgearbeit in heteronormativen Familienkonstellationen wird oft als … | |
An was denken Sie bei Sisi, Sachertorte und Schnitzel? Bei Falco, Freud und | |
FPÖ? Hader, Haider und Hitler? | |
Als Gastland der diesjährigen Leipziger Buchmesse möchte Österreich mit den | |
gängigen Stereotypen aufräumen, stattdessen zeigen, wie viel mehr das Land | |
zu bieten hat: „meaoiswiamia“ lässt das diesjährige Motto verlauten. | |
Übersetzt heißt das „mehr als wir“ und soll ein Gegengewicht zum | |
pathetischen und wenig selbstreflektierten Ausruf „mia san mia“ bieten. | |
Katja Gasser, Literaturjournalistin und künstlerische Leiterin des | |
Gastlandauftritts, wünscht sich, dass Österreich so als „progressives, | |
großzügiges, vielgestaltiges, geschichtsbewusstes, mehrsprachiges, | |
selbstkritisches, humorbegabtes, erkenntnishungriges, zukunftsfreudiges, | |
offenherziges, als Partner egalitäres und verbindliches Land“ wahrgenommen | |
würde. | |
Das klingt erstrebenswert, doch aus meiner bescheidenen Sicht als | |
Österreicher*in ist das Land von einigen dieser Attribute noch | |
mindestens fünf Gebirgsketten entfernt. Bevor Österreich also so | |
wahrgenommen werden kann, wie es sich Gasser hier erträumt, muss zunächst | |
auf den Tisch, was dort alles so gar nicht leiwand läuft – und wie ginge | |
das besser als mit Literatur? | |
## Birgit Birnbacher | |
Die Autorin [1][Birgit Birnbacher] beispielsweise hinterfragt in ihrem | |
unlängst erschienenen Roman „Wovon wir leben“ gängige Arbeitsstrukturen | |
sowie die Verteilung von Care-Arbeit im Beruflichen wie Privaten. | |
Größtenteils im Salzburger Land spielend, ist die Geschichte nicht zwingend | |
an Österreich gebunden, sie könnte auch in einem bayrischen Dorf | |
stattfinden, vielleicht auch anderswo. | |
Die Frage nach dem Wert des eigenen Lebens, wenn sich dieser bloß anhand | |
der Erwerbstätigkeit bemisst, ist allgemeingültig. Birnbacher, die 2019 den | |
Bachmannpreis erhielt, kritisiert zudem die in unserer patriarchal | |
ausgerichteten Gesellschaftsstruktur inhärente Annahme, Frauen fiele der | |
Großteil der (privaten) Pflege zu – auch das eine immersive Problematik. | |
Thematisch ähnlich ist [2][Mareike Fallwickl]s jüngster Roman. Was sie | |
kritisiert, wurde durch die Pandemie wie durch ein Brennglas sichtbar, ist | |
aber keineswegs ein neues Phänomen: Fürsorgearbeit in heteronormativen | |
Familienkonstellationen wurde und wird immer noch als „Frauensache“ | |
gesehen. Mögliche Auswirkungen werden bei Fallwickl gleich auf den ersten | |
Seiten deutlich, als die Nachfrage des Vaters nach Salz das Fass zum | |
Überlaufen und die Mutter zu einem Sprung vom Balkon bringt. | |
## Mareike Fallwickl | |
„Der erschöpfte Vater ist gesellschaftlich anerkannt, er bekommt | |
Verständnis, die erschöpfte Mutter bekommt Sprüche. Sie muss da jetzt | |
durch, sie hätte sich das vorher überlegen müssen, sie hat es sich ja so | |
ausgesucht“, schreibt Fallwickl. „Die Wut, die bleibt“ ist nicht nur ein | |
konsequenter Titel, er beschreibt auch die Triebkraft für viele, besonders | |
weiblich gelesene Autor*innen. | |
Eine, die von jeher daraus schöpft, ist die Grande Dame der | |
österreichischen Literatur [3][Elfriede Jelinek], auch sie steht für das | |
von Gasser erträumte Österreich. | |
„Ich funktioniere nur im Beschreiben von Wut“, sagte Jelinek bereits vor | |
über vierzig Jahren. Mit ihren Texten schreibt die | |
Literaturnobelpreisträgerin von je her gegen die Missstände ihrer Heimat | |
an, die politischen und sozialen, die öffentlichen und die privaten; immer | |
provokant, blasphemisch, verhöhnend, vulgär und eben vor allem wütend. | |
All das, was man in Österreich nicht so gern hat, zumindest, wenn es gegen | |
das eigene Land geht. Denn das sieht sich gern als neutral, oft als | |
benachteiligt und überhaupt als Opfer – historisch, aber auch gegenwärtig. | |
Dagegen anzuschreiben, hat sich nicht nur Jelinek zur Aufgabe gemacht. | |
## Sprachlosigkeit der Frauen | |
So heißt es bei Fallwickl: „Diese Sprachlosigkeit wurde dir anerzogen […], | |
die Gesellschaft hat dir nicht das Rüstzeug gegeben, dich in ihr zu | |
behaupten, im Gegenteil, sie hat dir beigebracht, dass du nicht berechtigt | |
bist, dich zu behaupten. Dass du schweigen sollst, wenn du gedemütigt | |
wirst.“ | |
Statt also wütend zu werden, sollen Frauen brav die ihnen zugewiesenen | |
Bereiche hüten und ansonsten die Klappe halten. | |
Denn weibliche Wut wird nicht gern gesehen. Als lächerlich oder hysterisch | |
wird sie allzu gern bezeichnet, die wütende Frau. Dabei haben Frauen allen | |
Grund, wütend zu sein. Nährboden für diese Wut ist nicht nur schlecht oder | |
gar nicht bezahlte Fürsorgearbeit, sondern auch ganz reale Gewalt, mit der | |
uns begegnet wird. | |
Die uns anerzogene Sprachlosigkeit ist der Grund, warum wir eher mit Angst | |
reagieren oder, wie in Fallwickls Roman, die Gewalt gegen uns selbst | |
richten. Angst aber lähmt, wohingegen Wut auch konstruktiv sein kann, wenn | |
sie ein Ventil hat. | |
## Femizid im öffentlichen Diskurs | |
Schreiben kann ein solches Ventil sein, um in Worte zu fassen, was | |
gedanklich geblieben zu wenig greifbar wäre. So hat es das Thema des | |
misogynen Tötens erst durch das Schaffen des Begriffs Femizid in einen | |
öffentlichkeitswirksamen Diskurs geschafft. Als „Beziehungstat“ oder | |
„Eifersuchtsdrama“ wurde hier allzu oft verharmlost, was ebendeshalb | |
normalisiert wurde: geschlechtsspezifische Gewalt gegenüber weiblich | |
gelesenen Menschen. | |
Im europäischen Vergleich liegt Österreich im oberen Drittel dieser Taten, | |
um die 30 Femizide verzeichnet das Land jährlich, wobei die Tendenz | |
steigend ist. Fast immer sind es Partner oder Ex-Partner, die Frauen töten. | |
Um dagegen anzugehen, demonstrieren Aktivist*innen der Gruppe „Claim | |
the Space“ zum Ende jedes Monats in Wien. | |
Nach dem Grund gefragt, warum es so viele geschlechtsspezifische | |
Gewalttaten im Land gebe, [4][sagte ein*e von ihnen unlängst in der taz:] | |
„Österreich schreibt der bürgerlichen Kleinfamilie einen sehr hohen Wert | |
zu, womit traditionelle Geschlechterrollen und Arbeitsteilungen, also auch | |
ein Besitzanspruch des Mannes über die Frau einhergehen.“ | |
Körperliche Gewalt ist ein offensichtliches Warnsignal, aber auch starke | |
Eifersucht und ein mit ihr einhergehender Kontrollwahn gehen Femiziden | |
oftmals voraus, weiß die österreichische Autorin Yvonne Widler. Als | |
Journalistin beschäftigt sie sich schon lange mit dem Thema Gewalt in | |
Beziehungen. | |
## Yvonne Widler | |
Unlängst ist daraus ein Buch entstanden: „Heimat bist du toter Töchter“. | |
Widler verzichtet darin nicht auf explizite Gewaltdarstellungen, das ist | |
hart und grauenvoll zu lesen, aber so gelingt es ihr, dieses komplex | |
scheinende Thema greifbarer zu machen. | |
Dem gleichen Thema, wenn auch aus einer sehr wissenschaftlichen Perspektive | |
nimmt sich das österreichische Autor*innenkollektiv Biwi Kefempom an. | |
Im gerade erschienenen Band „Femi(ni)zide. Kollektiv patriarchale Gewalt | |
bekämpfen“ rollen die Autor*innen die historische Entwicklung des | |
Begriffs „Femizid“ auf und machen die Verbindung zu queerfeministischen | |
Kämpfen in Lateinamerika deutlich, von denen auch die europäischen Debatten | |
beeinflusst werden. | |
Belletristisch nimmt sich dieser morbiden Realität [5][Eva Reisinger] an. | |
Die Oberösterreicherin gab mit „Was geht, Österreich?“ bereits einen | |
Einblick in ihre ländliche Heimat sowie die politischen Strukturen des | |
Landes, in dem es nicht nur eine rechtsradikale Partei in die Bundes- und | |
diverse Landesregierungen, sondern es auch ein megalomaner Jungspund an die | |
Regierungsspitze schaffte. Nun legt Reisinger ihr Romandebüt nach. „Männer | |
töten“ erscheint im Sommer dieses Jahres. | |
## Gertraud Klemm | |
So wichtig feministische Debatten sind, rein theoretisch geführt bringen | |
sie uns nicht weiter. Diese Meinung vertritt [6][Gertraud Klemm]. In ihrem | |
Roman „Einzeller“ erschafft sie eine Wohngemeinschaft aus Frauen | |
verschiedener Generationen und zeigt auf, was Feminist*innen oft fehlt: | |
Zusammenhalt und Solidarität untereinander. | |
Ihre Worte sind oft hart, aber durchaus unterhaltsam. Das bloße Leiden am | |
Patriarchat reiche nicht, um kollektiv identitätsstiftend zu sein, sagt | |
Klemm im Podcast „fair&female“. „Jede Frau tappt in dieselben Fallen“, … | |
fehle ein Wissenstransfer zwischen den Generationen. | |
Natürlich ist nicht alles schlecht in Österreich. Damit das Land aber als | |
jenes wahrgenommen werden kann, das Gasser und andere, mich inbegriffen, | |
sich wünschen, muss sich einiges ändern; Literatur ist ein erster wichtiger | |
Schritt. | |
26 Apr 2023 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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