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# taz.de -- Buch über Femizide in Mexiko: Kein Verbrechen aus Leidenschaft
> Die Autorin Cristina Rivera Garza hat den Femizid an ihrer Schwester
> aufgearbeitet – und legt den Finger in eine Wunde der mexikanischen
> Gesellschaft.
Bild: „Nicht eine mehr“, fordern die Demonstrantinnen
Mehr als 30 Jahre habe sie gebraucht, um ihr letztes Buch zu schreiben,
sagt Cristina Rivera Garza. Sie schrieb langsam, weil die Trauer ihren
eigenen Rhythmus hat und weil ihr vor drei Jahrzehnten Sprache und Worte
nicht ausreichten, um die Geschichte von Liliana zu erzählen, ihrer
jüngeren Schwester, die in Mexiko ermordet wurde. Rivera Garza hat
beschlossen, mit ihrem Buch den Finger auf ihre vielleicht größte Wunde zu
legen und damit auch auf eine der schmerzhaftesten Wunden der mexikanischen
Gesellschaft: [1][den Femizid.]
„Liliana’s Invincible Summer: A Sister’s Search for Justice“ erschien 2…
auf Spanisch und in diesem Jahr in englischer Sprache. Rivera Garza
brauchte keine*n Übersetzer*in – parallel schrieb sie in beiden
Sprachen, – aber sie brauchte den Mut, eine Kiste zu öffnen, in der sie und
ihre Eltern vor dreißig Jahren die Erinnerungen an Liliana verschlossen:
Briefe, Postkarten, Fotos und einige Tagebücher, aber auch festgehaltene
Ziele, Träume und Geheimnisse einer 20-jährigen Frau mit langem dunklem
Haar, die an einer der wichtigsten Universitäten in Mexiko-Stadt
Architektur studierte. Und die im Juli 1990 aus dem Leben gerissen wurde,
ermordet, mutmaßlich von ihrem Ex-Partner.
Diese Kiste, die sie jahrelang nicht öffnen wollte, ist der Kern von Rivera
Garzas Geschichte, die wie die vieler mexikanischer Familien beginnt:
[2][mit der quälenden Suche nach Gerechtigkeit], die in der Regel nie
kommt. Weniger als 25 Prozent der in den letzten zehn Jahren in Mexiko
begangenen Femizide enden mit einer Verurteilung, besagt eine Untersuchung
der NGO Mexicanos Contra la Corrupción y la Impunidad (MCCI). Der Fall
Liliana gehört zu den über 75 Prozent der ungelösten Fälle, und so wurde
ihr Mörder auch nach 30 Jahren nicht gefasst.
Anfang 2020 reiste die heute in den Vereinigten Staaten lebende
Schriftstellerin nach Mexiko, um bei den Behörden die Gerichtsakte zum Fall
ihrer Schwester anzufordern. Endlich habe sie die Kraft gehabt, sich dem
bürokratischen Verfahren zu stellen, erzählt Rivera Garza bei einem
Gespräch in Berlin, wo sie sich im Frühjahr dieses Jahres im Rahmen eines
Stipendiums der American Academy aufhielt. Sie habe sich erhofft, so selbst
zu einem Fortschritt bei den Ermittlungen um den Mord an ihrer Schwester
beitragen zu können. Trotz der Hartnäckigkeit, mit der sie immer wieder bei
den Behörden vorstellig wurde, blieb die Akte unauffindbar. Keine
Seltenheit in Mexiko.
## Aufschreiben, wer ihre Schwester war
Dennoch half ihr dieser Prozess, einen anderen Weg zu finden, um für sich
Gerechtigkeit zu erlangen: mit dem Material aus der vor über 30 Jahren
verschlossenen Kiste und durch ihr Schreiben zu erzählen, wer ihre
Schwester war. Zeigen, was Liliana glücklich machte, welche Leidenschaften
sie hatte, um sie so im kollektiven Gedächtnis zu verankern.
„Femizide setzen darauf, Frauen auszulöschen, sie unsichtbar zu machen, sie
zum Schweigen zu bringen. Lebendig erinnert zu werden, ihre Stimmen mit
aller Kraft in den Vordergrund zu stellen, ist meiner Meinung nach eine
Kraft gegen den Femizid und gegen das Patriarchat, das die
geschlechtsspezifische Gewalt gegenüber Frauen aufrechterhält“, sagt Rivera
Garza. Heute lebt die 1964 in Tamaulipas, einem Bundesstaat im Nordosten
Mexikos, geborene Autorin und Soziologin in Texas, wo sie an der
Universität von Houston das Doktorand*innenprogramm für kreatives
Schreiben leitet.
Wenn eine Frau Opfer eines Femizids wird, laufe die Erzählung über ihre
Tötung fast immer gleich ab, sagt sie. Auf der einen Seite stehe der
Mörder, der in der Regel als psychisch gesunder Mann dargestellt werde, der
aus irgendeinem unerfindlichen Grund plötzlich den Verstand verloren und
deshalb dieses „Verbrechen aus Leidenschaft“ begangen habe.
Auf der anderen Seite fände eine ständige Bewertung der Handlungen des
Opfers statt, sagt Rivera Garza. Gefragt werde beispielsweise danach, was
sie anhatte oder was sie getan hat, um zu verdienen, dass ihr Leben beendet
wurde. Bei dieser Erzählung gehe vielleicht das Wichtigste verloren: wer
das Opfer war, über seinen Tod hinaus. Rivera Garza wollte das Gegenteil
von dem tun, was sonst üblich ist, sagt sie. Deshalb schrieb sie über das
Leben ihrer Schwester, um zu erinnern. Die Gegenstände in der Kiste dienten
ihr als Instrument, zusammen mit einer Reihe von Interviews mit den
Menschen, die ihrer Schwester am nächsten standen.
## Immer noch durchschnittlich zehn Femizide am Tag
Mehr als drei Jahrzehnte nach dem Femizid an Liliana werden immer noch
mexikanische Frauen getötet. [3][Die Welt war wohl noch nie ein sicheres
Terrain für Frauen], aber das nordamerikanische Land ist eines der
gefährlichsten: Offiziellen Zahlen nach werden dort [4][durchschnittlich 10
Frauen pro Tag ermordet], meist durch den (Ex-)Partner. Das liegt vor allem
am in der mexikanischen Gesellschaft sehr stark verankerten Machismo. Vor
30 Jahren wurden geschlechtsspezifische Straftaten in Mexiko noch nicht
gezählt, sodass es keine vergleichbaren Statistiken aus der Zeit von
Lilianas Ermordung gibt. Erst vor etwas mehr als einem Jahrzehnt, im Jahr
2012, wurde das Konzept des Femizids in die Rechtssprache und das
Strafgesetzbuch aufgenommen.
Obwohl die Statistiken alles andere als ermutigend seien, sagt Garza, habe
sich eines geändert: das Publikum und die Worte. Die feministische
Bewegung, die in Mexiko und [5][anderen Ländern Lateinamerikas] auf die
Straße gegangen sei, habe die Sprache in eine präzisere und mitfühlendere
umgewandelt, die es ermöglicht, Geschichten wie die von Liliana außerhalb
des offiziellen Narrativs zu erzählen. Noch vor einigen Jahren wären Morde
wie der an Liliana als an Seifenopern erinnernde Ereignisse angesehen,
medial als „Verbrechen aus Leidenschaft“ dargestellt worden.
Rivera Garza ist der Meinung, dass die Geschichten der [6][mehr als 3.500
mexikanischen Frauen], die jedes Jahr ermordet werden, anders erzählt
werden sollten, durch ihr Leben und ohne zu verlangen, dass sie – die nicht
mehr leben – die perfekten Opfer sind: nicht aufbegehrend, sondern
schweigend und ruhend. Vor 30 Jahren, als der Mord geschah, habe es kein
Publikum gegeben, das zuhörte und die Geschichte von Liliana aufnahm, ohne
sie für ihr von einem Mann verursachtes Schicksal zu beschuldigen.
Heute, erklärt Garza Rivera, fühle sie sich durch die Leser*innen
begleitet. Sie weiß, dass sie nicht allein ist. Sie weiß, dass es Frauen
gibt, die auf die Straße gehen, die die Namen vieler Frauen – auch den
ihrer Schwester – rufen und Gerechtigkeit fordern. „Viele Jahre lang haben
meine Familie und ich eine sehr einsame Trauer gelebt, die gewaltsam zum
Schweigen gebracht wurde. Wenn ich etwas aus dem Buch gelernt habe, dann
ist es, dass eine Trauer, die geteilt wird, die einen Weg findet, sich zu
verbreiten, sehr befreiend ist“, sagt sie.
## In Worte fassen, wofür die Sprache nicht ausreicht
„Die Frauen, die auf die Straße gegangen sind, die die Sprache selbst in
die Hand genommen haben, haben diese Worte hervorgebracht, dieses
Vokabular, das uns jetzt erlaubt zu sagen, dass es sich nicht um ein
Verbrechen aus Leidenschaft handelt, sondern um einen Femizid.“ Mit dem
Vokabular könne sie als Schriftstellerin diese eher konventionellen und auf
Macht basierenden Erzählungen, die so viele Jahre lang den Opfern die
Schuld an der erlittenen Gewalt gegeben haben, umkehren und unterminieren.
Rivera Garza wollte den mutmaßlichen Mörder ihrer Schwester in ihrem Buch
nicht ins Rampenlicht rücken. Aber sie hat etwas anderes erreicht: Nach der
Veröffentlichung in spanischer Sprache erhielt sie eine anonyme E-Mail mit
Informationen. Der Ex-Partner ihrer Schwester sei in die Vereinigten
Staaten geflohen, wo er seinen Namen änderte und die letzten 30 Jahre
lebte, bevor er 2020 durch Ertrinken starb, hieß es dort. Rivera Garza
stellte eigene Nachforschungen an: Alles deutete darauf hin, dass die
Informationen wahr waren. Eine Bestätigung von den mexikanischen Behörden
erhielt sie aber nie, obwohl sie ihnen alle Informationen zur Verfügung
stellte.
Rivera Garza machte ihre Trauer zu einem umfassenderen Prozess, einem
Prozess der Erinnerung und der Wahrheit. Der Name von Liliana Rivera Garza
steht nicht mehr nur in einer Gerichtsakte oder in den Zeitungen von
damals. Er ziert Plakatwände im Zentrum von Mexiko-Stadt, taucht auf
Transparenten und in Rufen auf, die am 8. März an sie erinnern, [7][wenn
lateinamerikanische Frauen] auf die Straße gehen, um Gerechtigkeit und
Respekt für ihren Körper zu fordern. Respekt für ihr Leben.
Aus dem Spanischen übersetzt von Sophia Zessnik.
8 Aug 2023
## LINKS
[1] /Gewalt-gegen-Frauen-in-Mexiko/!5847725
[2] /Mexiko-Bild-von-Netflix-Produktionen/!5900680
[3] /Feministische-Literatur-in-Oesterreich/!5927513
[4] /Gewalt-gegen-Frauen-in-Mexiko/!5725352
[5] /Feministisches-Manifest-aus-Chile/!5751295
[6] /Getoetete-Frauen-in-Lateinamerika/!5666531
[7] /Neue-Serie-La-Jauria-bei-Arte/!5774278
## AUTOREN
Diana Nava
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