# taz.de -- 100 Tage Schwarz-Rot in Berlin: Die Stadtrand-Koalition | |
> Am Samstag wird Kai Wegner mit seiner Koalition hundert Tage im Amt sein. | |
> Freundlich im Ton hat das Bündnis die Politik der Stadt nach rechts | |
> gerückt. | |
Bild: Raed Saleh, Kai Wegner, Franziska Giffey und Stefan Evers mit dem ausgeha… | |
BERLIN taz | Um es vorwegzunehmen. Über Franziska Giffey redet kaum einer | |
mehr. Auch macht sie nicht von sich reden. Die ehemalige Regierende und | |
Noch-SPD-Chefin, die nach der Wiederholungswahl den Staffelstab an Kai | |
Wegner und seine CDU übergeben hatte, ist abgetaucht. Hat sie einen | |
freundschaftlichen Hinweis ihres Nachfolgers bekommen, nicht in jede Kamera | |
zu lächeln? Oder rennen ihr die Kameraleute gar nicht mehr hinterher? | |
Eine 100-Tage-Bilanz des schwarz-roten Senats muss also ohne das Gesicht | |
auskommen, das die Stadt länger geprägt zu haben scheint als die 16 Monate, | |
die Giffey tatsächlich Regierende Bürgermeisterin war. Zuletzt waren nur 18 | |
Prozent der Berlinerinnen und Berliner zufrieden mit ihr als | |
Regierungschefin. Die große Mehrheit, 71 Prozent, drückte dagegen ihre | |
Unzufriedenheit aus. | |
So gesehen müsste der Start von Kai Wegner als geglückt gelten, auch wenn | |
bei ihm die Zahl der Unzufriedenen ebenso größer ist als die der | |
Zufriedenen. [1][42 zu 32 Prozent lautet seine Quote], für Berliner | |
Verhältnisse ist sie aber gar nicht so schlecht. | |
Wegner selbst sagt über seine ersten hundert Tage, dass er vor allem „hart | |
gearbeitet“ habe. Bemerkenswert in seinem [2][Bilanzinterview, das er der | |
Berliner Morgenpost gegeben hat], ist sein freundlicher, zurückhaltender | |
Ton. Nichts an ihm ist schrill, das unterscheidet ihn von seiner | |
Vorgängerin. Offenbar hat er damit Erfolg. | |
## Politische Debatte scheint ohne Wegner auszukommen | |
Zum Problem könnte dabei werden, dass die politische Debatte mitunter auch | |
ohne Kai Wegner auszukommen scheint. Einer der Aufreger der ersten 100 | |
Tage – [3][der Stopp der Radwegeplanungen] – wurde zwischen | |
Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) auf der einen und der Opposition | |
sowie der Verkehrsverbände auf der anderen Seite ausgetragen. Am Ende | |
musste Schreiner zurückrudern. | |
Wegner sagt dazu: „Das Vorgehen von Manja Schreiner war richtig und | |
absolut normal.“ Wenn eine neue Verkehrssenatorin ins Amt komme, müsse sie | |
erst analysieren, was die Vorgängersenatorin gemacht hat. So spricht einer, | |
der Schlachten vermeidet, um keinen Schaden zu nehmen. Aber eben im Zweifel | |
auch nicht den Glanz davontragen kann, wenn die Schlacht erfolgreich war. | |
Wegners Schlachten schlagen meistens andere. Neben Schreiner ist das | |
Finanzsenator Stefan Evers (CDU). Auch der musste zurückrudern. Nach einer | |
aufgeregten Diskussion um einen drohenden sozialen Kahlschlag, die vor | |
allem auch von der SPD in den Bezirken befeuert wurde, war im Berliner | |
Portemonnaie plötzlich nicht weniger, [4][sondern mehr Geld]. Es allen | |
recht machen und dabei auf die Reserven zurückgreifen geht allerdings nur | |
einmal. Der nächste Doppelhaushalt wird ein Haushalt der Wahrheit sein. | |
Dass Kai Wegner dennoch nicht das Etikett „blass“ anhängt wie Eberhard | |
Diepgen – dem letzten CDU-Regierenden vor ihm –, hat mit der Innenpolitik | |
zu tun. „Wir werden nicht dulden, dass die Freibäder zu rechtsfreien Räumen | |
werden“, sagte Wegner nach den Vorfällen im Neuköllner Columbiabad. | |
## Deutliche Postionierung gegenüber Merz und AfD überraschend | |
„Ich habe das Gefühl, dass das, was unsere Gesellschaft ausmacht und | |
zusammenhält, gerade unter die Räder kommt“, [5][kommentierte das dieser | |
Tage die ehemalige SPD-Staatssekretärin Sawsan Chebli]. „Während | |
rechtsextreme Gewalt verharmlost wird, flippen viele in der Politik und in | |
der Öffentlichkeit bei Migrant:innen, die Fehler machen, ja auch Recht | |
brechen, regelmäßig aus.“ Ihr mache Angst, „wie der politische Diskurs | |
scheinbar unaufhaltsam nach rechts außen driftet“. | |
Natürlich ist der Biedermann Wegner nicht zum Brandstifter geworden, obwohl | |
er in seiner Zeit bei der Jungen Union alle Voraussetzungen dafür | |
mitgebracht hat. Liberal ist er vor allem da, wo es nichts kostet und | |
Wählerstimmen bringt, etwa beim Christopher Street Day oder seiner | |
überraschend deutlichen Positionierung [6][gegenüber der AfD] und Friedrich | |
Merz. | |
In innenpolitischen oder migrationspolitischen Themen bedient er dagegen | |
gerne Law-and-Order-Positionen. Damit hat er sogar Innensenatorin Iris | |
Spranger (SPD) die Show gestohlen. Freundlich im Ton haben Kai Wegner und | |
die Große Koalition die politischen Koordinaten der Stadt nach rechts | |
gerückt. | |
Schwarz-Rot ist damit die erwartete Stadtrand-Koalition geworden, die aus | |
ihrem Fremdeln mit der grün geprägten Innenstadt keinen Hehl macht. Der | |
Spandauer Kai Wegner und Franziska Giffey, die ihren Wahlkreis in Rudow | |
hat, schenken sich diesbezüglich nichts. | |
## Schwarz-Rot nur eine Koalition auf Zeit | |
Und der Rest der SPD? Die Debatten um einen drohenden Kahlschlag im | |
Sozialbereich kann die Berliner CDU durchaus als Warnung sehen. Auch | |
Schwarz-Rot ist, wenngleich von Giffey maßgeblich betrieben, nur eine | |
Koalition auf Zeit. Bereits im Herbst 2026 wird wieder gewählt. Natürlich | |
möchte die SPD dann wieder ins Rathaus ziehen. Früher als in anderen | |
Legislaturperioden wird deshalb der Vorwahlkampf beginnen. | |
Dass die SPD wieder mit Franziska Giffey ins Rennen geht, ist | |
unwahrscheinlich. Auch wenn sie sich mit ihrem Abtauchen aus dem Schussfeld | |
genommen hat, haben ihr viele Genossen nicht verziehen, auf die CDU und | |
nicht auf Rot-Grün-Rot gesetzt zu haben. Weil nur ein führendes | |
SPD-Mitglied künftig im Landesvorstand sein darf, wird Giffey im kommenden | |
Jahr den Co-Parteivorsitz abgeben müssen. Dann ist sie nur noch | |
Wirtschaftssenatorin. Das automatische Zugriffsrecht auf die | |
Spitzenkandidatur hat sie nicht mehr. | |
Bei der Bilanz von 100 Tagen Schwarz-Rot tritt damit auch Cansel Kiziltepe | |
in den Blick. Noch fremdelt die ehemalige Staatssekretärin im | |
Bundesbauministerium mit ihrem Berliner Job als Sozialsenatorin. Allerdings | |
setzt sie mit ihrer Forderung nach einer Debatte um die Schuldenbremse | |
nicht nur politische Akzente, sondern streichelt auch die linke | |
SPD-Parteiseele. Keine schlechten Voraussetzungen dafür, selbst nach der | |
Kandidatur für die kommenden Abgeordnetenhauswahlen zu greifen. | |
## Das zentrale Versprechen steht noch aus | |
Eine neue Rolle sucht inzwischen auch SPD-Fraktionschef Raed Saleh. Schon | |
einmal, während der Koalition mit der CDU in den Jahren 2011 bis 2016, | |
schaffte er es, die eigene Fraktion als Player im politischen Feld zu | |
etablieren. Immer wieder handelten er und sein damaliger CDU-Kollege | |
Florian Graf Kompromisspakete aus, die der Senat schließlich akzeptieren | |
musste. | |
Auch in den vergangenen Tagen hatte sich Saleh zu Wort gemeldet und | |
gefordert, die [7][Sozialbindungen für die Wohnungsbauförderung] von | |
derzeit 30 Jahren zu entfristen. Die politische Lücke, die Giffey | |
inzwischen hinterlässt, nützt also nicht nur Cansel Kiziltepe, sondern auch | |
Giffeys ehemaligem Mehrheitsbeschaffer Raed Saleh. | |
Hat das „harte Arbeiten“ von Kai Wegner die Stadt in diesen 100 Tagen | |
vorangebracht? Die Einigung auf den Doppelhaushalt und das fünf Milliarden | |
schwere [8][Sondervermögen zum Klimaschutz] stehen auf der Habenseite von | |
Schwarz-Rot, auch wenn Letzteres noch inhaltlich unterfüttert werden muss. | |
Das zentrale Versprechen der Koalition aber, dass Berlin endlich anfangen | |
müsse zu funktionieren, steht aus. Den nächsten Termin beim Bürgeramt zur | |
Verlängerung eines Personalausweises gab es am Donnerstag für den 22. | |
September. | |
4 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.tagesspiegel.de/berlin/100-tage-schwarz-roter-senat-cdu-bleibt-… | |
[2] https://www.morgenpost.de/berlin/article239059679/wegner-berlin-regierender… | |
[3] /Manja-Schreiners-CDU-Radwegestopp/!5942135 | |
[4] /Haushaltsentwurf-fuer-Berlin/!5943504 | |
[5] https://www.tagesspiegel.de/meinung/die-mitte-lauft-der-afd-willig-entgegen… | |
[6] /Kai-Wegners-Signal-gegen-die-AfD/!5951521 | |
[7] /Foerderung-von-Sozialwohnungsbau/!5947999 | |
[8] /Gesetzesentwurf-fuer-Sondervermoegen/!5946354 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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