# taz.de -- Lkw-Fahrer kämpfen um Geld: Ganz hinten in der Lieferkette | |
> Auf einer Raststätte im hessischen Gräfenhausen streiken erneut | |
> Lkw-Fahrer um ihren Lohn. Ihr polnischer Arbeitgeber scheint auf | |
> Eskalation zu setzen. | |
Bild: Wilder Streik: Seit Wochen stehen die Räder auf dem Rastplatz Gräfenhau… | |
GRÄFENHAUSEN/ BERLIN taz | Stoßstange an Stoßstange, dreireihig geparkt, | |
damit möglichst viele Platz finden. Auf der Autobahnraststätte | |
Gräfenhausen-West an der A 5 zwischen Frankfurt am Main und Darmstadt steht | |
derzeit ein blauer Lkw neben dem anderen. [1][In den vergangenen zwei | |
Wochen sind immer mehr hinzugekommen]. Etwa 90 Wagen stehen mittlerweile | |
auf dem Parkplatz, schätzt die Polizei. Gegenüber, in Gräfenhausen-Ost, | |
sind es noch einmal etwa 50. Warum die Lkws hier stehen? Das kann jeder | |
lesen, der von der Tankstelle zum Parkplatz will. Metergroß prangt da mit | |
Klebeband geschrieben auf einem der Wagen: „Mazur Debtor. No money.“ Zu | |
Deutsch: „Schuldner Mazur. Kein Geld.“ | |
Mazur, das steht für Łukasz Mazur, einen polnischen Spediteur mit mehreren | |
Unternehmen, denen die blauen Lkws gehören. Die Fahrer aus Usbekistan, | |
Kasachstan, Georgien und Tadschikistan werfen ihm vor, teils für mehrere | |
Monate keinen Lohn gezahlt zu haben. Darum haben sie sich zu einem | |
[2][wilden Streik] entschlossen. | |
Da ist zum Beispiel Dilchod Khalilov, ein Fahrer aus Usbekistan, der | |
französischen Wein geladen hat. Ganze sieben Monatsgehälter schulde ihm | |
Mazur, erzählt er der taz. Das sind rund 14.700 Euro. Sein ebenfalls | |
usbekischer Kollege Adil Mirzaev sagt, er warte auf 7.800 Euro Lohn. Er | |
wirkt erschöpft nach zehn Tagen Warten an der Raststätte und sagt dennoch: | |
„Wir wollen unser Recht. Deswegen sind wir hierhergekommen.“ Khalilov | |
ergänzt: „Wir bleiben, bis wir unser Geld haben. Wir haben nur ein Leben.“ | |
Anna Weirich von der Beratungsstelle Faire Mobilität, die im ständigen | |
Austausch mit den Fahrern steht und sie über ihre Rechte aufklärt, sagt: | |
Diese hohen Lohnforderungen sind sogar die Regel. „Die meisten Fahrer | |
warten auf 3.000 bis 12.000 Euro“, sagt sie. Viel Geld. | |
## Beim ersten Rastplatz-Streik rückte ein Schlägertrupp an | |
Zwar stehen in Gräfenhausen nur Fahrer von Mazur, doch wie ihnen geht es | |
auch vielen Lkw-Fahrern anderer Speditionen. Auftraggeber sind oft | |
multinationale Konzerne in Westeuropa. Die vergeben Transportaufträge an | |
große Speditionen, die oft nicht einmal selbst Fahrer haben, sondern die | |
Aufträge wieder an Subunternehmen vergeben. Am Ende der Kette steht ein | |
Fahrer, der oft scheinselbstständig beschäftigt ist. Laut Beratungsstelle | |
Faire Mobilität bekommen die Fahrer sowieso schon wenig Geld und müssen | |
dann auch noch die Kosten fürs Parken oder die Benutzung von Toiletten und | |
Duschen auf Rastplätzen selbst zahlen. Krankheitszeiten werden oft als | |
unbezahlter Urlaub verbucht, bei Kündigung wird der letzte Lohn | |
einbehalten. | |
Ein Problem nicht nur für die Fahrer, sondern auch für ihre Familien. Die | |
lassen die Fahrer oft über Wochen und Monate zurück und schicken Geld nach | |
Hause. So auch Gela Chkhobadle, dessen Frau und drei minderjährige Kinder | |
in Georgien leben. Er sei Alleinverdiener und habe einen Kredit | |
aufgenommen, um den Lohnausfall zu kompensieren, erzählt der Anfang | |
40-Jährige. Auf knapp 7.000 Euro wartet er noch. „Der Kredit braucht sich | |
schnell auf.“ | |
[3][Schon im März und April streikten hier in Gräfenhausen über sechs | |
Wochen lang rund 60 Fahrer desselben Unternehmens.] Auch sie warfen Mazur | |
vor, den Lohn nicht zu zahlen. Zwischenzeitlich rückte ein Schlägertrupp | |
an, bedrohte die Streikenden. Inhaber Łukasz Mazur bestritt damals alle | |
Vorwürfe [4][und zahlte schließlich doch:] 300.000 Euro für die 60 Fahrer. | |
300.000 erstrittene Euro – die südhessische Raststätte Gräfenhausen ist f�… | |
viele der Lkw-Fahrer deswegen zum Symbol der Hoffnung geworden. | |
„Mazur hat gesagt, er macht seine Firma zu einem besseren Unternehmen. Aber | |
er hat sein Wort nicht gehalten, im Gegenteil“, sagt Gela Chkhobadle. „Für | |
Mazur arbeite ich nie wieder“, sagt Adil Mirzaev klar und kreuzt energisch | |
die Hände vor der Brust. | |
## Drei bis vier Quadratmeter Privatssphäre | |
Der Fachkräftemangel trifft auch die Transportbranche. Allein in | |
Deutschland fehlen 45.000 bis 80.000 Berufskraftfahrer. Viele der | |
Streikenden in Gräfenhausen könnten sich ihren Arbeitgeber im Prinzip | |
aussuchen, haben auch Angebote anderer Speditionen. Nur sind die | |
Arbeitsbedingungen dort wahrscheinlich auch nicht besser. Dazu ist es für | |
Nicht-EU-Bürger:innen schwierig, einen Job zu bekommen, ihre Erfahrungen | |
werden oft formell nicht anerkannt. | |
In Gräfenhausen gewährt ein Fahrer, der Georgier Kakha Tughushi, einen | |
Blick in sein Fahrerhaus: Drei bis vier Quadratmeter, das ist alles, was es | |
an Privatsphäre im Lkw gibt. Auf dem Armaturenbrett stehen ein Deo, ein | |
Paar Schuhe und Aftershave-Balsam. Hinter den Sitzen liegt eine schmale | |
Matratze. Das Bett ist ordentlich gemacht, sogar mit Überdecke für die am | |
Rand hervorlugende Herzchenbettwäsche. | |
Für den Streik bleibt ihm wenig anderes übrig, als hier zu nächtigen. | |
Eigentlich dürfen Fahrer das nach EU-Recht gar nicht, es gilt ein | |
„Kabinenschlafverbot“. Die Übernachtung außerhalb des Wagens müsste das | |
Unternehmen zahlen. Tut Mazur aber wohl nicht, wie die Streikenden | |
berichten. „Wir müssen das Hotel vom eigenen Lohn zahlen“, sagt einer. | |
Andernfalls drohten Strafen. | |
Dazu kommen sehr lange Arbeitstage, 10 bis 14 Stunden täglich, erzählen die | |
Männer. Zu Hause waren sie alle seit Monaten nicht. „Meine Familie sehe ich | |
nur über Videotelefonie“, sagt Tughushi und guckt gen Himmel. Für dieses | |
wochenlange Leben im Fahrzeug ohne Familie und Freunde, dafür bekommen sie | |
nach eigenen Angaben 1.800 bis 3.000 Euro im Monat. Oder eben nicht. | |
## Mazur sah sich bisher immer in Recht | |
Anfangs sah es dieses Mal besser aus für die Fahrer, sagt Anna Weirich von | |
der Beratungsstelle Faire Mobilität. „Vor etwa zwei Wochen, als die ersten | |
paar Fahrer wiederkamen, hat das Unternehmen eingelenkt und direkt einige | |
Forderungen beglichen.“ Etwa zehn Männer hätten Geld bekommen. „Es sah er… | |
so aus, als wolle man dieses Mal den Imageschaden kleinhalten.“ | |
Doch dann kamen mehr und mehr Fahrer. Und in der vergangenen Woche ließ | |
sich Mazur dann schon auf keine Verhandlungen mehr ein, sagt Weirich. Wie | |
es weitergeht? Unklar. Immerhin haben die Fahrer einen potenziell | |
machtvollen Hebel für Verhandlungen: die Lkws, teils mit, teils ohne | |
Ladung. An Bord: Maschinen, Wasser, Bier oder eben französischer Wein. | |
Was Mazur zu den neuen Vorwürfen sagt? Eine Anfrage der taz zu den | |
Vorwürfen lässt die Firma unbeantwortet. Der Unternehmer erklärte aber in | |
der Vergangenheit immer wieder über Stellungnahmen, dass seine Firma nicht | |
gegen geltendes Recht verstoße. | |
Doch wie glaubhaft ist das? „Das Mobilitätspaket der EU soll genau solche | |
Zustände verhindern“, sagt die SPD-Europaabgeordnete Gaby Bischoff der taz. | |
Die EU-Kommission müsse dringend überprüfen, ob das Gesetz auch in Polen | |
ausreichend in nationales Recht umgesetzt wurde, dort, wo Mazurs | |
Unternehmen sitzt. „Und zur Not Vertragsstrafen gegen Polen einleiten.“ | |
Bischoff kritisiert zudem fehlende Kontrollen. Dafür sei unter anderem die | |
[5][Europäische Arbeitsbehörde] (ELA) zuständig, doch ihr fehlten | |
ausreichende Ressourcen. | |
Auch der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke spricht sich für eine wirksame | |
Durchsetzung des bestehenden EU-Rechts und ein stärkeres Mandat für die ELA | |
aus. Der taz sagt er: „Wir treffen in Gräfenhausen auf kriminelle Energie. | |
Entsprechend muss auch die Antwort der Behörden ausfallen. Unternehmer wie | |
Mazur müssen viel schneller ihre Lizenz verlieren.“ | |
Michael Rudolph, Vorsitzender des DGB Hessen-Thüringen, war in der | |
vergangenen Woche selbst vor Ort. Der taz sagt er: „Nur Mazur selbst kann | |
zur Deeskalation der Situation beitragen, indem die Lkw-Fahrer ihre | |
ausstehenden Gelder erhalten.“ | |
## Wie wirksam ist das Lieferkettengesetz? | |
Doch statt Deeskalation setzt Mazur auf das Gegenteil: Wie die | |
Staatsanwaltschaft Darmstadt der taz bestätigt, hat das Unternehmen | |
Strafanzeige gegen die Fahrer gestellt – wegen Erpressung. „Ob und | |
inwieweit die erhobenen Vorwürfe zutreffen, ist Gegenstand der | |
Ermittlungen.“ Rudolph sagt dazu: „Das ist eine bodenlose Frechheit. Das | |
ist der Versuch, die Opfer zu Tätern zu machen.“ Statt sich mit den | |
Problemen in seinem Geschäftsmodell zu beschäftigen und die Fahrer | |
angemessen zu bezahlen, versuche Mazur, die Streikenden in Gräfenhausen nun | |
zu kriminalisieren. | |
Der DGB sieht auch deutsche Auftraggeber in der Verantwortung, für | |
menschenwürdige Einkommens- und Arbeitsbedingungen entlang der gesamten | |
Lieferkette zu sorgen. Nach jahrelangen Verhandlungen trat das | |
[6][Lieferkettengesetz Anfang des Jahres in Kraft.] Deutsche Unternehmen | |
müssen seitdem für den Schutz der Menschenrechte und der Umwelt in den | |
Lieferketten – vom Rohstoff bis zum fertigen Verkaufsprodukt – sorgen. Das | |
gilt auch für Firmen, die ihre Waren von Speditionen transportieren lassen, | |
die wiederum Subunternehmen beauftragen. | |
Funktioniert das Gesetz? „Noch kann man nicht sehen, welche Wirkung es | |
entfaltet“, sagt Anna Weirich. Im April hatte Mazur letztlich gezahlt, weil | |
ein Auftraggeber mit Vertragsstrafen gedroht hatte. Das aber habe nichts | |
mit der Sorgfaltspflicht zu tun gehabt, sagt Weirich. „Dem ging es um Geld | |
und darum, seine Ware zu bekommen. Sorgfalt wäre, wenn der Auftraggeber von | |
vornherein sicherstellen würde, dass die Arbeitsbedingungen in der | |
Lieferkette gut sind.“ | |
Das wäre das Ideal. In der Praxis fordert das Gesetz zwar auch präventive | |
Maßnahmen, vor allem aber regelt es den Umgang mit Hinweisen zu Verstößen. | |
Diese nimmt das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle entgegen, das | |
auch Strafen für die Unternehmen auferlegen kann. Auch auf EU-Ebene soll | |
ein solches Gesetz eingeführt werden. | |
Trotz allem ist die Stimmung in Gräfenhausen am Montagmittag gut. Die | |
Fahrer sitzen auf ihren Ladeflächen und auf öffentlichen Bänken. Manche | |
haben Fahrräder dabei, mit denen sie ein paar Meter radeln. Für die | |
Unterstützung durch DGB und Co sind sie dankbar. Von ihrem Ziel wollen sie | |
sich nicht abbringen lassen: „Wir werden erst gehen, wenn wir unser Geld | |
bekommen“, sagen alle. Einige reden aber auch schon von Hungerstreik, | |
sollte Mazur nicht einlenken. | |
2 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Alina Leimbach | |
Johanna Treblin | |
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